Knisternd erwachte das Feuer zum Leben. Mit zitternden Händen verstaute Dagna das Zunderkästchen wieder in ihrem Rucksack und rückte näher zu den Flammen um ihren kalten Leib zu wärmen. Hin und wieder wanderte ihr Blick zu dem an den Baum gefesselten Mann, der schlaff in den Seilen lag und schlief. Sie betrachtete sein Gesicht. Seine bleichen, kantigen Züge waren von der Kälte gezeichnet, seine Lippen spröde und rissig. Verklebte Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn, als er seinen Kopf im Schlaf hin und her bewegte. Die Feldflasche lag immer noch zu seinen Füßen. Dagna bezweifelte nicht, dass das Wasser darin schon längst zu Eis erstarrt war. Sie wand den Blick ab und schaute stattdessen in den nächtlichen Himmel. Die Sterne glühten nur schwach durch den hellen Schein des Feuers, doch sie konnte sie erkennen. Dieser Anblick rief Erinnerungen in Dagna wach, die sie schon längst für vergessen geglaubt hatte. Flammen, die über die Ufer eines Flusses traten und der kalte Glanz der Sterne, die dabei unbarmherzig auf das Szenario herabstrahlten. Schnell stand die junge Frau auf um damit die Gedanken zu verscheuchen. Diese ruckartige Bewegung weckte ihren Gefangenen. Grummelnd hob er den Kopf. „Was ist denn los?“, verlangte er zu wissen. „Nichts. Schlaf ruhig weiter“, antwortete sie schnell und setzte sich wieder. Der Gefesselte versuchte gleichzeitig, sich in eine gemütlichere Position zu versetzten, gab nach wenigen Sekunden jedoch auf. Dagna bemerkte seinen unglücklichen Gesichtsausdruck. Sie überlegte kurz, dann zog sie einen Dolch, der an ihrem Gürtel befestigt war, ging zu ihm hinüber und schnitt die Seile durch. Erstaunt blickte er auf. „Danke“, murmelte er und rieb sich die Handgelenke. Sie entgegnete etwas, das wie „Kein Thema“ klang, dann nahm sie wieder ihren ursprünglichen Platz am Lagerfeuer ein. Schwerfällig gesellte er sich zu ihr. Als er sich ebenfalls niederlassen wollte, stöhnte er auf. Dagna erschrak, als sie die dunklen Flecken sah, die sich auf dem Bauch des Mannes abzeichneten. „Die Wunde muss aufgerissen sein!“, mutmaßte sie hektisch. Sie erhob sich und half ihm, sich in der Asche niederzulassen, dann krempelte sie sein engmaschiges Hemd nach oben. Der Anblick ließ sie aufatmen. Ein dünnes Rinnsal Blut strömte aus der Wunde und tropfte herab. Der Mann hob den Kopf um selbst nach seiner Verletzung zu sehen, doch sie drückte ihn zurück auf den Boden. „Nicht bewegen, sonst reißt die Wunde stärker und ich muss sie erneut nähen“, sagte sie, nahm einen kleinen, rostigen Erste Hilfe Kasten aus ihrer Tasche und begann, ihn zu verarzten. Verlegen sah er ihr dabei zu. „Ich habe dich noch gar nicht nach deinem Namen gefragt“, sagte er. Sie hielt kurz inne und blickte ihn an. „Ich bin Dagna“, sagte sie dann und vollendete ihre Arbeit. „Dagna…“, murmelte er und ließ sich ihren Namen auf der Zunge zergehen. „Und wie heißt du?“, lenkte sie ab. „Mein Name ist Gale...zumindest vermute ich es.“ Er setzte sich aufrechter hin und schaute sie über das Feuer hinweg an. Sie wich seinem Blick aus. „Hast du Hunger?“, fragte sie und als er bejate, zog sie ein paar Streifen Trockenfleisch aus ihrem Rucksack. Sie gab ihm zwei und begann dann, selbst auf einem herum zu kauen. Der herbe Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus und für einen unscheinbaren Moment fühlte sie sich geborgen. Gale kaute und schluckte. „Wie bist du eigentlich hierhergekommen Dagna? Wie hast du überlebt?“ Sie hörte ebenfalls auf zu kauen und der schöne Moment verflog. Stattdessen rieselte kalte Angst durch ihren Körper. „Ich wurde in Solna geboren, eine kleine Gemeinde in der Nähe von Stockholm. Ich erinnere mich nur noch an diese Information, der Rest ist verschwommen. Ich weiß nicht, wer meine Eltern waren. Als ich in der Asche erwachte gab es nur sie, abgebrannte Bäume und verkohlte Felsen. Die Seen, an denen ich bei meiner Reise vorbeikam, sind allesamt ausgetrocknet. Den Willenlosen begegnete ich das erste Mal, als ich mich über die Reste eines Hirschs hermachte. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nie etwas von ihnen gehört, geschweige denn jemals welche von ihnen zu Gesicht bekommen. Ich überlebte nur, weil ich einen Dolch aus Eisen bei mir trug, den ich zuvor in der Ruine eines alten Hauses gefunden hatte. Die hier“, sie zog den Ärmel ihres linken Arms hoch, der über und über mit weißen Narben bedeckt war, „werde ich wohl mein ganzes Leben tragen.“ Schweigend hatte Gale ihre Geschichte in sich aufgenommen. Als Dagna die Gemeinde Solna erwähnte, dachte er kurz sich an etwas Wichtiges erinnern zu können, doch seine Gedanken verflogen bevor er sie fassen konnte. Dagna beobachtete ihn, während sie auf ihrem Trockenfleisch herumkaute. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch bevor ein Wort seine Lippen verlassen konnte, begann sein rechtes Ohr zu fiepen. Ein stechender Schmerz bohrte sich in seinen Schädel und ließ ihn aufschreien.
Im selben Moment wurde Dagna nach hinten gerissen.
DU LIEST GERADE
Todeswispern
Mystery / Thriller„Zu spät. Die Zähne gruben sich scharf in seine Kehle. Gleich darauf riss ein gleißender Schmerz seinen Körper samt Seele entzwei. Das Messer in seiner Hand fühlte sich mit einem Mal tonnenschwer an. So ließ er es fallen. 'Ich habe verloren.' Alle...