Flucht.

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Die Hitze wich einer kalten Taubheit. Gale erwachte am Boden der Rumpelkammer liegend, die Hand zerschnitten in den Scherben der alten Flasche ruhend. Doch er verspührte Nichts, kein Schmerz drang in sein Bewusstsein ein und quälte es erneut, wie all die vergangenen Tage.
Er hob den Kopf.
Langsam, äußerst langsam erholten sich seine Sinne von der benebelnden Taubheit und nahmen die Umgebung mit jeder Minute deutlicher wahr.
Vom oberen Stockwerk drangen undefinierbare Geräusche an sein Ohr.
Und dann, in Form einer riesigen Welle kehrte die Erinnerung an die vergangenen Stunden zurück.
Bilder des "Menschen" blitzten vor seinem inneren Auge auf und erschütterten sein zartes Gemüt.
Er zuckte hoch und sah aus dem verblichenen und schmutzigen Fenster.
Draußen sickerte die Dämmerung durch das helle Licht und ließ es zu Schatten erstarren.
"Mist", fluchte Gale und sah sich panisch um. Alle Müdigkeit und aller Schmerz war verflogen. Im Stillen dankte er dem Alten.
An der Garderobe sah er zwei große regenfeste Ponchos und mehrere Jacken und Mäntel, ebenso wie einen alten Wanderrucksack, alles mit Spinnenweben und Dreck überzogen. Er schnappte sich den Rucksack, stopfte einen der Ponchos hinein und warf den anderen, ebenso wie einen alten Mantel, über.
Gehetzt wie ein gejagtes Tier blickte er sich um und sah an der Rückwand zur Küche eine kleine Axt hängen.
Zwei lange Schritte und er war dort, packte die Axt und stopfte sie zu dem Poncho in den Rucksack.
Sicher war sicher.
In der Küche riss er alle Schränke und Schubladen, in der Hoffnung etwas halbwegs essbares zu finden, auf.
Nichts.
"Verdammt! Alles hat er, alles, sogar ein Wundermittel gegen Wunden! Aber Essen natürlich nicht!", schrie Gale voller Wut ohne auf die Geräusche von oben zu achten, nahm ein altes, stumpfes Küchenmesser von der Anrichte und schleuderte es mit aller Kraft gegen die Tür. Diese wurde durch die Wucht nach hinten gerissen, schlug feste in ihre klapprigen Angeln und gab den Blick auf einen verstümmelten Körper frei, der leblos im Dreck lag.
Entsetzen durchzuckte Gale wie ein greller Blitz und voller Panik wich er zurück.
Der Alte starrte ihn hasserfüllt aus mattweißen Augen an. Er versuchte sich aufzurichten, doch sein Arm war unter der Tür eingeklemmt, halb zerquetscht und blutend.
Er bleckte die Zähne und knurrte Gale an, versuchte sich von der Tür zu befreien, vobei sein Arm noch mehr in die Länge gezogen wurde, der Knochen mit einem knirschendem Knack zerbarst und Blutspritzer die Wand bedeckten.
Dem Alten war das egal, er wollte Gale.
Dieser klammerte sich an sein Jadgmesser und schluckte schwer.
"Hey...ähm was ist denn mit Ihnen passiert, Sie sehen etwas...krank aus...", versuchte Gale den Alten zu besänftigen, doch durch den seidenen Klang seiner Stimme wurde dieser nur noch mehr angestachelt. Er röchelte, verdrehte die Augen, was grauenhaft aussah, und zerrte an seinem Arm.
Knirsch.
Splitternd brach das Gelenk ab.
Der Alte wurde mit einem Ruck nach vorn geschleudert, genau in die Richtung des jungen Mannes.
Gale reagierte schnell.
Er nahm, während der Alte versuchte mit einem Arm auf die Beine zu kommen, eine alte Bratpfanne von einem Regal und schlug es mit all der Kraft, die seine dünnen Muskeln aufboten, auf den Schädel des "Mannes" vor ihm ein. Die Knochenhülle zerbrach mit einem lauten, hohlen Knacken.
Unter der durchsichtigen Haut sah man deutlich, wie sich grobe Risse durch den Knochen fraßen, ein großes Stück weggesprengt und somit das rosige Gehirn freigelegt wurde.
Der Alte ging in die Knie.
Ohne zu zögern und sich seiner vorteilhaften Lage im Voll und Ganzem bewusst, stieß Gale das silberne Jagdmesser in das weiche und pulsierende Stück Intelligenz.
Sofort wich alle Kraft aus dem Körper unter ihm.
Der Alte fiel zu Boden, das Weiß seiner Augen wurde zu einem silbrigen Gold und zerbarst schlussendlich zu Staub, ebenso wie der Rest des Körpers.
Schwer atmend stützte sich Gale an einem Regal ab und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Er wusste, dass diese Erinnerung nun auf Ewig in seinem Bewusstsein verankert war.
Ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen verließ er die Küche und ließ das verbliebene Geschehen hinter sich zurück.
In der Rumpelkammer entdeckte er zwei weitere stumpfe Flaschen Antigift und stopfte diese zu der Axt und dem Poncho in den Rucksack.
Dann zog er ihn an.
Die Last drückte ihn der Erde entgegen, doch er stemmte sich dagegen und torkelte zur Haustür.
Er stieß sie auf und atmete die trockene,  verseuchte Luft Schwedens ein. Er griff in die Tasche des Ponchos um seine Hände vor der schneidenden Kälte zu schützen und ertastete ein altes Stück Papier, das sich als Karte entpuppte als er es herauszog.
Sein Lebensmut kehrte zurück und tränkte seinen Körper mit einer furchtlosen Gimmigkeit.
Dann lief er los, immer nach Westen, seinem Schicksal entgegen.

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