Wahrheit.

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Gale wusste nicht mehr, wie viele Meilen sie hinter sich gelassen hatten. Da sie beide an Verletzungen litten, bewegten sie sich ausschließlich im Laufschritt voran. Dagna blickte sich die ganze Zeit hektisch nach allen Seiten um, aus Angst, sie könnten ein weiteres Mal hinterrücks überfallen werden. Sie hatte sich ihre Kapuze über den Kopf gezogen und das lange Haar verdeckte die Sicht auf ihre Züge. Gales Schmerzen waren grauenvoll. Er presste beide Hände auf seinen Bauch um das Blut nicht hervorquellen zu lassen, doch nach und nach spürte er, wie sie feucht und warm wurden. Er traute sich nicht, hinab zu gucken. Dagna sah auch nicht gut aus. Sie war blass und sie zitterte, aber immer wenn er sie fragte, wie es ihr ging antwortete sie: „Mit mir ist alles in Ordnung, nicht der Rede wert.“  Doch als sie nach geraumer Zeit einen kleinen Steinbruch erreichten, der über und über mit trockenen, teilweise schon gesprungenen Felsbrocken bedeckt war, lehnte sie sich gegen eine Wand aus Stein, glitt langsam daran herab und bewegte sich nicht mehr. Der Fels hinter ihr hatte sich dunkel verfärbt. „Dagna!“ Voller Entsetzen ließ Gale alles fallen, was er bei sich trug und warf sich neben ihr auf den Boden. Er strich über ihre Stirn. Sie war eiskalt. Als er ihren Kopf anhob um ihn auf seine Oberschenkel zu betten, sah er wie sich der Sand um sie herum rot färbte. Ihre Kopfverletzung war schlimmer gewesen, als sie behauptet hatte. „Nein…“ Erst jetzt registrierte er ihre blutleeren Lippen und ihre bleiche Haut. Das abgestumpfte Haar floss zu Boden wie ein dunkelbrauner Fluss, das Feuer, das üblicherweise in ihnen geleuchtet hatte, war verschwunden. Gales Sicht wurde unsicher. Alles um ihn herum begann wild zu flackern. Auch er spürte, wie sich das Blut aus seinem Gesicht zurückzog. Eine große Unruhe überkam ihn, zitternd stand er auf. Dass Dagnas Kopf dabei unsanft zurück auf den Boden knallte, bemerkte er nicht. Seine Haut fühlte sich kalt und feucht an. Sie hatten beide auf der Flucht zu viel Blut verloren. Er wusste, dass sie den dunklen Kreaturen nun schutzlos ausgeliefert waren. Verzweifelt fiel er zurück auf die Knie. Dann blickte er herab auf seine Hände und ihm wurde übel. Seine Klamotten hatten sich mit Blut vollgesogen und waren von einem dunklen Rot durchzogen. Der Riss auf seiner Bauchdecke förderte fast ununterbrochen neue Flüssigkeit zutage. Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen. Als er den Blick ein letztes Mal hob, dachte er in der Ferne zwei helle Lichter zu sehen, die auf Dagna und ihn zusteuerten.

„Ist sein Herzrhythmus stabil?“ „Stabil kann man es nicht nennen, instabil trifft aber auch nicht zu. Die Wunde am Bauch hat sich entzündet und er leidet unter einer Infektion. Diese bringt sein Herz zum Stolpern, es schlägt sehr unregelmäßig.“ „Und die Frau?“ „Sie ist mit einer schweren Gehirnerschütterung und hohem Blutverlust davongekommen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass die Beiden noch leben. Bei meinen Untersuchungen habe ich einen Metallsplitter gefunden, er steckte in der Magendecke des Mannes. Eine schlaue Idee, aber es wird den Prozess nur verlängern.“ Und wieder hörte Gale etwas von einem Prozess. Er fragte sich, was mit ihm los war. Auch Dagna hatte etwas dergleichen erwähnt, bevor sie ihm ihr Vertrauen geschenkt hatte… Gale schlug die Augen auf. Dagna! Wie konnte ich sie nur vergessen, bestimmt schwebt sie in Lebensgefahr! Blendendes Weiß strahlte ihm entgegen und stach in seine Augen. Sein Herz begann augenblicklich zu stolpern, es tat so weh, dass Gale die Luft wegblieb. Panik erfasste ihn. Wo war er? Was war passiert?Und wo zur Hölle steckt Dagna??Als er versuchte sich aufzusetzen, hielt ihn etwas zurück. Seine Bewegungsweite war sehr eingeschränkt, er konnte seinen Oberkörper nur wenige Zentimeter anheben. Da erst bemerkte er, dass er auf einer Liege lag. Er war mit Lederriemen festgebunden, sein Oberkörper nackt und mit Narben übersäht. Seine Brust pulsierte unangenehm, er bekam keine Luft mehr. Irgendetwas begann furchtbar zu piepen. Der Untergrund schaukelte. „He, Vorsicht junger Mann! Beruhigen Sie sich, Sie sind in Sicherheit!“ Eine Frau in ungefähr seinem Alter schob sich nun in sein Gesichtsfeld. Sie hatte kurze, blond gelockte Haare und blaue Augen. Eine rote Narbe zog sich von ihrer Stirn bis zum Kinn. „Entspannen Sie sich. Sie sind sicher“, wiederholte sie. Das unregelmäßige Pochen in Gales Brust ließ nach und wurde langsam wieder normal. Er atmete schwer, kalte Schweißperlen rannen ihm von der Stirn. Wie Eis stachen sie auf seiner heißen Haut. „Dagna…“, krächzte er, doch seine Kehle schnürte sich zu, noch ehe er den Satz vollenden konnte. Die Blonde blickte nach links und Gale bemerkte, dass neben ihr ein Mann stand. Er war älter als seine Partnerin, vielleicht um die fünfzig und besaß schulterlanges, schwarzes Haar. Die Falten um seine rehbraunen Augen könnten Lachfalten sein, doch Gale wusste, dass dieser Mann schon lange nicht mehr in den Genuss von Spaß gekommen war. Der Herr räusperte sich. „Ich glaube, mit Dagna meinen Sie ihre Tochter? Wir haben eure Blutwerte verglichen, ich beneide euch darum dass ihr euch bei der Katastrophe nicht aus den Augen verloren habt. Sie liegt im zweiten Wagen und wird dort ebenfalls verarztet, machen Sie sich keine Sorgen.“ Der Schock spülte über Gale hinweg. Unfähig, sich zu bewegen, zu atmen oder gar zu sprechen starrte er den älteren Mann an. Das muss ein Irrtum sein! dachte er, doch die Worte wollten nicht über seine Lippen kommen. Erinnerungen durchzuckten ihn. Die Frau und das Kind auf der Straße einer im Chaos versinkenden Stadt. Ein Spaziergang im Sommer mit ein und derselben Frau. Sein Kollege Fill und das Experiment im Labor. Und ein Name. Leona. Er wusste, dass es bei all dem einen Zusammenhang geben wusste, doch er kam nicht drauf, welcher es sein könnte. Seine Gedanken wanderten weiter, vergessen geglaubte Bilder fluteten sein Gehirn. Ein schönes Mehrfamilienhaus mit großem Garten. Eine Schaukel und eine Rutsche, dazu das übermütige Jauchzen zweier kleiner Kinder. Ein Fluss in der Nähe und grüne Bäume, die seine Ufer säumten. Dann Feuer und glühende Sterne die das Geschehen unter ihnen belichteten. Ein gellender Schrei und ein kleiner, lebloser Körper im schwelenden Gras. Er sah das Gesicht des toten Kindes deutlich vor sich, es war zierlich und zerbrechlich, umrahmt von kastanienbraunen, welligen Haaren. Seine Augen waren geschlossen. Er spürte, wie ihm die Tränen über das Gesicht liefen, spürte den bebenden Körper einer Frau in seinem Arm und die kleine Hand eines Kindes in seiner Eigenen. Seine Tochter blickte ihn mit großen Augen an. „Warum bewegt sich Leona denn nicht Papa?“ Mühsam versuchte er zu lächeln. „Sie schläft, Dagna. Für immer. Und in ihren Träumen wandelt sie mit den Sternen.“

TodeswispernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt