Zuhause.

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Dagna saß aufrecht auf einer am Boden des Wagens festgeschraubten Liege und starrte die weiß ausgekleidete Wand vor sich an. Ihre Hände lagen kraftlos und mit den Handflächen nach oben auf ihrem Schoß.  Auf die Fragen der anderen Menschen, die sich nach ihrer Behandlung um sie herum niedergelassen hatten, gab sie keine Antwort. Sie aß und trank nichts, sie saß einfach nur da. Um ihren Kopf war ein aus hellen Leinen gefertigter Verband geschlungen um die Blutungen zu stoppen. Dagna machte sich keine Sorgen um ihr Wohlergehen, sie dachte keinen Moment daran, woher diese vielen Menschen mit den Autos und der guten medizinischen Ausrüstung hergekommen waren oder wo sie nun sein mochte. Sie dachte nur an Gale. Als sie ohnmächtig geworden hatte sie ihn aus den Augen verloren und sie wusste, dass er nur noch wenig Zeit hatte.  Die anderen hatten ihr zwar versichert, dass es ihm gut ginge, doch sie wusste es besser. Als man ihr berichtete, dass man in seinem Magen einen Eisensplitter entdeckt und diesen vorsichtig entfernt hatte, war sie still vor Entsetzen gewesen. Diese Menschen wussten nicht, was sie dort getan hatten, sie wussten nicht in welche Gefahr sie sich gebracht hatten. In Gales Adern floss das Gift dieser Kreaturen, das Gift das ihre Opfer zu dem machten, was sie selbst waren. Ohne den Eisensplitter würde die Prozedur nun viel schneller von statten gehen und sie konnte nichts dagegen tun. Bei dem Gedanken an einen bleichen untoten Gale, mit spitzen Fangzähnen und fauligen weißen Augen, wurde ihr schlecht vor Angst. In den wenigen Tagen, die sie zusammen durchlebt hatten, war er ihr ungewöhnlich schnell ans Herz gewachsen. Dagna fühlte eine unheimliche Vertrautheit zu ihm, als ob sie ihn schon früher gekannt hatte. Aber sosehr sie sich auch anstrengte, ihr Gehirn weigerte sich ihr die nötigen Erinnerungen auszuliefern. Sie bemerkte plötzlich, dass sich der Wagen nicht mehr bewegte. Ihre Augen lösten sich von dem unsichtbaren Punkt an der Wand und ihr Blick flackerte unsicher umher. Einer der Menschen, die sie behandelt hatten, schnallte sich los und kam auf sie zu. „Wir sind da“, sagte er und half ihr beim Aufstehen. „Wo-„, deutete Dagna die Frage an, doch da wurden die großen Türen schon zurückgezogen und der Anblick von draußen ergoss sich in ihr Blickfeld. Sie stieg aus und sah sich um. Dann schlug sie vor Entsetzen die Hände vor den Mund und ein erstickter Aufschrei verließ ihre Lippen. Vor ihr erstreckte sich eine völlig ausgebrannte und verwüstete Stadt, die sie nur allzu gut kannte. Eingestürzte Hochhäuser reckten sich gen Himmel und die mit dicken Rissen überzogenen Straßen schlängelten sich zwischen ihnen hindurch. Und überall lag die Asche. Sie hatte sich wie eine dicke, grauweiße Decke über den Schutt gelegt und als hin und wieder der Wind durch die zerstörten Gassen pfiff, riss er sie mit sich, spielte mit ihr und ließ sie wieder fallen. Dagna merkte nicht, wie sich die Flocken in ihrem Haar verfingen, merkte nicht wie kalt es war. Kristallklare Tränen rollten über ihre Wangen und tropften zu Boden. Sie wusste, wo sie war. Der Anblick ihrer Heimat war gleichzeitig tröstlich und erschreckend für sie und die junge Frau wusste nicht, wie sie mit diesem Gefühl umzugehen hatte. Sie spürte kaum, wie sie am Arm zu einem nahe gelegenen Haus geführt wurde. Wie durch einen Nebel hörte sie ihren Begleiter sagen: „Ihr Gefährte steht dort hinten. Wollen Sie ihn begrüßen?“ Dagna blinzelte. Ihr Blick klärte sich augenblicklich. Und die Bilder, die nun folgten, sollten sie ein Leben lang begleiten. Vor dem großen Haus mit dem verbrannten Balkon, den zersplitterten Glastüren, die zu einer zu Staub zerfallenen Terrasse führten, stand Gale. Er stützte sich auf einen älteren Mann mit schulterlangen, schwarzen Haaren und blickte zu ihr herüber. Gleichzeitig sah Dagna jedoch ein vollkommen anderes Bild vor sich, das der Realität erschreckend ähnlich kam. Das Haus stand noch vor ihr, doch Gale war verschwunden. Die Glastüren waren intakt und die Terrasse umsäumt von bunten, duftenden Blumenbeeten. Ein großer Garten lag daneben, in der Nähe plätscherte ein Fluss. Und dann entdeckte sie die Schaukel.  Die Sitzfläche aus rotem Plastik hing an zwei weißen Seilen, welche mit Stahlringen am Gerüst befestigt waren. Eine leichte Brise ließ sie tanzen und Dagna vernahm das fröhliche Lachen eines Kindes. Sie ging hinüber zu der Schaukel und strich mit ihren Fingerspitzen über einen Balken. Vor ihren Augen löste sich das lackierte Holz auf und wurde zu einem verkohlten Stumpf, der wie die klaue eines Untoten aus der Erde ragte. Auch der Rest des Spielgerätes war plötzlich verschwunden, an seiner statt sah Dagna nur Asche und Staub. Die Trauer nahm sie in ihre dunklen Arme und drückte sie so fest, dass ihr die Luft aus den Lungen gequetscht wurde. Sie vergoss Tränen des Entsetzens, als sie begriff. Ihre Hände krallten sich in ihre eigene Brust und sie schrie. Dies war ihr Zuhause. In diesem Haus hatte sie zusammen mit ihrer Schwester, ihrer Mutter und ihrem Vater gelebt. In diesem Haus hatte sie sich immer sicher gefühlt. Und neben dieser Schaukel hatte sie gestanden, als sie all dies verlor.

TodeswispernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt