3. Dezember

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Noël

Habe ich nicht in den letzten Tagen erwähnt, dass es drei Dinge gibt, die ich hasse?

Ich habe mich geirrt. Es sind vier. Denn gemeinsam mit Weihnachten teilt sich eine richtig schöne Familienfeier den ersten Platz.

Und heute, an diesem wunderschönen Samstag, der übrigens schon alleine wegen dem tatsächlich eingetretenen Schneefall zum Scheitern verurteilt ist, steht genau das am Plan.

Eine Feier mit meiner Schwester, ihrem Freund und meinen Eltern. Was gibt es Schöneres?

Außer natürlich mit einem Buch am Sofa zu liegen und Tee zu trinken.

Jetzt mal im Ernst, ich bin weder ein Familienmensch noch halte ich sonderlich viel von anderen Personen. Und das allerschlimmste ist, dass meine Familie und Weihnachten, die grausamsten Dinge auf dieser Welt, stark miteinander verwebt sind.

Denn anders als ich liebt meine Familie diese Zeit und auch wenn sie versuchen in meiner Anwesenheit nicht zu sehr von der kommenden Zeit zu schwärmen, so muss ich damit leben, dass ich in meinem Elternhaus sowohl Lichterketten als auch weitere Weihnachtsdekorationen vorfinde.

Und es werden Weihnachtslieder gespielt. Allein das wäre ein Grund gewesen nicht alleine hinzugehen. Es ist Anfang Dezember und ich habe all die ausgelutschten Weihnachtslieder satt.

Ich blicke auf, meine Familie sitzt am Tisch versammelt und stopft sich so viel Essen wie möglich in den Mund. Meine Schwester heißt Lilly. Sie ist zwei Jahre jünger als ich und macht dieses Jahr ihren Abschluss.

Allgemein, bis auf unser zugegeben sehr ähnliches Aussehen unterscheiden wir uns komplett.

Ich ziehe mich zurück, sie liebt es im Mittelpunkt zu stehen. Sagt jemand etwas gegen sie, so kontert sie anders als ich nicht, sondern zerbricht sich den ganzen Tag den Kopf darüber und lässt sich davon runterziehen.

Sie hat ihren fünften Freund. Ich hatte bisher einen Einzigen. Bei der Erinnerung daran schlucke ich. Lilly weiß wie sehr es mir wehtut und bei den meisten Feiern ist Fynn, ihr Freund, nicht dabei. Heute konnte sie ihn jedoch nicht daheim lassen, Ma hat darauf bestanden, dass er kommt.

Ich kaue genüsslich auf meinem Essen herum und sende ein Dankensgebet für diese Köstlichkeit zu Gott. Auch wenn das Essen bei Don&Son's Lieferservice ausgezeichnet schmeckt, so kann nichts Ma's Kochkünste toppen. Das ist dann aber auch das Einzige, das dafür sorgt, dass ich noch nicht Suizid begangen habe. Abgesehen davon, dass alles viel zu grell geschmückt ist, hat Ma tatsächlich hässliche Windowcolour-Weihnachtsmänner aufs Fenster geklebt.

Viel zu kitschig, viel zu hässlich.

Genauso wie die grauenhafte Weihnachtsmusik, die den ganzen Tag auf und ab gespielt wird.

»Wie geht es dir, Noël? Man hört kaum von dir«, Ma sieht mich liebevoll an, mir ist bewusst, dass sie auf diese ganz bestimmte Sache anspielt, doch ich habe keine Lust darüber zu reden, wie verletzt ich immer noch deswegen bin.

Ich will nicht näher darauf eingehen, dass seither ein großer Teil meines Lebens fehlt. Ein Teil, von dem ich nicht dachte, ohne ihn leben zu können.

»Gut«, sage ich deswegen und stochere in meinem Essen rum. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass ich normalerweise bei Don&Son anrufen würde. Ob wieder Luca abheben würde?

Wahrscheinlich bin ich mittlerweile so sehr auf die Nerven gegangen, dass er längst gekündigt hat. Das wäre nachvollziehbar.

»Und wie läuft die Uni?«, Paps sieht von seinem Teller auf und lächelt mich breit an. Er trägt wie immer seine eckige schwarze Brille mit den großen Gläsern und ein Hemd. Vermutlich kommt er frisch von einem Meeting, er ist Politiker.

»Gut«, antworte ich auch hier und frage mich, warum alles über was wir reden Weihnachten oder Small Talk ist.

Meine Eltern werfen sich einen besorgten Blick zu. »Bist du denn sicher? Vielleicht sollte ich mal vorbeisehen, etwas Essen bringen. Du sieht so dünn aus.«

Ich werfe meiner Ma einen besänftigenden Blick zu, der in Wirklichkeit »Egal was du tust, bitte komm nicht zu mir nachhause, mehr Menschen als mich selbst halte ich in meinem Umfeld nicht aus« bedeutet.

»Das ist nicht nötig«, betone ich. »Ich habe nur viel Stress.«

Fynn hat meine Schwester, die aus Rücksicht auf mich extra nicht mit ihm rumgemacht hat, scheinbar doch noch überzeugen können, denn die beiden stecken sich am Esstisch ihre Zungen in den Hals. Im Hintergrund läuft Last Christmas und ich spüre, wie mir alles zu viel wird.

Ich schüttle den Kopf. Ich hätte nicht herkommen sollen. Außerdem werden meine Einkäufe schlecht, wenn ich nicht bald etwas koche.

»Das Essen war sehr gut, Mama«, ich stehe auf und lege mein Besteck auf meinen Teller. »Aber ich muss wirklich gehen. Die Uni ist momentan so stressig und ich schaffe die nächste Prüfung nicht, wenn ich nicht heute und morgen fleißig lerne. Aber wir sehen uns ja bald wieder.«

Ma will protestieren, Fynn nimmt seine Zunge aus dem Hals meiner Schwester und Paps sieht mich abwartend an.

»Danke für das Essen, bis bald«, ich winke kurz in die Runde, ringe mir ein Lächeln ab und verlasse das Haus. Ganz leise höre ich immer noch Last Christmas spielen, aber ich ignoriere es, nehme in meinem Auto Platz und lasse endlich meinen Tränen freien Lauf.

Weihnachten, die schönste Zeit im Jahr.

Das ich nicht lache.

Alleine im bisherigen Dezember habe ich so viel Tränen geweint, dass man damit den Attersee nachahmen könnte.

Ich verdrehe die Augen, wische mit meinen Fingern an meiner verwischten Wimperntusche rum und trete aufs Gas.

Das Einzige was mich aufmuntern kann ist meine kleine gemütliche Wohnung, eine Packung Eis und Tee.

Und der Gedanke, dass meine Eltern sich sogar ihr »Frohes baldiges Weihnachten« unterdrückt haben, obwohl sie es so gerne sagen.

Ich seufze.

Frohe baldige Weihnachten.
Dass ich nicht lache.

All I Want for Christmas Is FoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt