9. Dezember

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SICHTWECHSEL

Noël's Schwester Lilly

Ich starre gebannt auf meinen Handybildschirm. Vor zwei Tagen hat mir jemand eine Whatsappnachricht geschickt, die wohl an meine Schwester gerichtet war. Eine andere Erklärung habe ich nicht dafür, warum da »Hallo Weihnachten.« stehen könnte. Die einzige Lösung ist, dass jemand meine Schwester mal wieder wegen ihrem Namen gemobbt hat.

Was ja auch irgendwo lustig wäre, würde Weihnachten ihr nicht so zu schaffen machen. Ich seufze und tippe auf meinem Bildschirm herum.

Seit zwei Tagen schreibe ich jetzt schon mit dem Unbekannten, der scheinbar Luca heißt. Wenn ich ihm glauben kann. Man weiß ja nicht, wer aller im Netz unterwegs ist. Allein dass er zweiundzwanzig ist finde ich verstörend, das sind immerhin vier Jahre Alterunterschied zwischen ihm und mir.

Mal abgesehend davon, dass ich einem Freund habe. Aber wie es aussieht ist er gar nicht an mir interessiert. Nein, er möchte etwas von meiner Schwester. 

Nein, der Grund, weshalb ich mit Luca schreibe ist, weil ich herausfinden will, ob er der Telefonnummer meiner Schwester würdig ist. Nach dem letzten Jahr bin ich mir nicht sicher, ob sie belastbar ist und ich will ihre Nummer auf keinen Fall an ein Arschloch weitergeben.

Bisher weiß ich kaum etwas über diesen Luca. Er kann jedoch bezeugen, dass er meine Schwester kennt, aber sie ihm diese Telefonnummer gegeben hat.

Und alleine das verunsichert mich. Immerhin wird sie einen Grund haben, ihm eine falsche gegen zu haben, nicht? 

Auf der anderen Seite bin ich mir sicher, dass sie ihm meine Nummer nie gegen hätte, wenn er gefährlich wäre.

Wobei, bei Noël weiß man ja nie.

»Mit wem schreibst du da?«, mein Freund Fynn schlingt seine Arme um meine Taille und versucht einen Blick auf mein Handy zu erhaschen.

»Einem Luca«, ich runzle die Stirn und berichte ihm kurz die Geschichte, er verdreht nur die Augen. Es war klar, dass er mich nicht ernst nimmt. So ist er nicht.

»Mach dir nicht zu viele Gedanken wegen dem, wenn du doch mich hast.«

Ich grinse leicht, aber innerlich bin ich dann doch stark besorgt. Luca bearbeitet mich seit zwei verdammten Tagen, weil er ihre Nummer unbedingt haben will. 

Ich seufze.

»Wieso hasst deine Schwester jetzt eigentlich Weihnachten?«, erkundigt sich mein Freund und ich befreie mich aus seinen Armen, um mich auf mein Bett zu legen. Heute ist mir das alles etwas zu viel. Scheinbar spielt Fynn auf das Familienessen an, bei dem Noël nach nicht einmal einem Viertel mit Tränen in den Augen gefahren ist. Es ist klar, dass ihr das alles zu viel ist.

Und ich wollte mich ja wirklich mit Fynn zurückhalten, weil ich weiß, dass es sie an ihn erinnert.

Während andere in Weihnachtsstimmung schwelgen und ich nichts lieber tun würde, als mein Zimmer zu dekorieren und lautstark Weihnachtslieder zu hören, ertrinke ich in Tests und Prüfungen. Das ist mein Abschlussjahr und ich muss mich wirklich auf die Schule konzentrieren.

Fynn, der bereits letztes Jahr seine Matura* gemacht hat, hat hierbei keine Probleme.

Und dann ist da dieser Luca. Und die Frage meines Freundes, der seit einiger Zeit wissen will, was Noël gegen Weihnachten hat.

»Lange Geschichte«, murmle ich deswegen nur und starre Fynn an, der sich durch seine blonden Haare fährt und mir aufmunternd zulächelt.

»Ich hab Zeit.«

»Ich leide nicht«, ich strecke ihm die Zunge heraus und deute auf mein Vokabelheft. Er hat versprochen mich zu prüfen, doch wies aussieht will er lieber eine Geschichtestunde daraus machen, denn er nimmt neben mir am Bett Platz und sieht mich besorgt an.

»Ist alles okay, Lilly?«

Ich seufze und schließe die Augen. »Klar. Ich darf dir nur nicht sagen, weswegen sie Weihnachten hasst. Es war ein tragisches Ereignis, ein Vorfall, der für immer einen Schatten über ihr Leben werfen wird. Es hat ihr das Herz zerbrochen. Hat es uns allen, ehrlich gesagt.«

»Hör auf mich neugierig zu machen«, Fynn verdreht die Augen und ich richte mich auf, um ihm meine Hand auf die Schulter zu legen.

»Versuche ich ja gar nicht«, besänftige ich ihm und gebe ihm einen Kuss auf die Wange. »Noël ist nur immer nicht daürber hinweg. Es ist besser, wenn du es nicht weißt. Bitte frag sie nicht danach.«

Ich mache eine kurze Pause und lehne mich leicht gegen den muskulösen Körper meines Freundes. »Ich mache mir Sorgen um sie. Sie war von klein auf eine Vorbildperson für mich. Sie war ein positiver Mensche, Fynn. Und sie konnte gut mit Menschen. Seit No-... Seit letztem Jahr ist sie nicht mehr dieselbe. Sie hat alles verloren, was ihr wichtig ist. Und zieht sich immer mehr zurück. Ich habe keine Möglichkeiten mehr sie zu erreichen, lebe andauernd mit der Angst etwas Falsches zu sagen. Sie lässt es nicht zu, dass ich sie besuche,  und verdammt, wenn auch nur die Hälfte von dem was dieser Luca sagt stimmt, dann sollte ich ihm wirklich ihre Nummer geben. Weil er sie scheinbar glücklich macht.«

Fynn gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »Frag sie doch einfach, ob sie ihn kennt.«

Ich zucke mit den Schultern und seufze, kuschel  ich etwas näher an meinen Freund. »Ja, vielleicht sollte ich das.«

Aber tief in mir weiß ich, dass Noël nicht mit mir reden wird. Hat sie seit letztem Jahr kaum.

Die Schwester, mit der ich aufgewachsen bin, ist schon vor einem Jahr gestorben.

Und es scheint als wäre am selben Tag, an dem es passiert ist, eine Mauer erbaut worden.

Eine Mauer, die sie von ihrer Familie, ihren Freunden und sich selbst getrennt hat.

Eine Mauer, durch die Noël's Verlust ins Unermessliche gestiegen ist.

*Matura= Art Abitur (?) in Österreich; jedenfalls der finale Abschluss, den man zum Studieren braucht

Es wird interessanter. Gibt es schon Vermutungen, was so Schlimmes passiert ist?

All I Want for Christmas Is FoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt