Noël
Seit gestern, nein besser gesagt seit Lillys Besuch hat sich vieles verändert. Ihre Worte »Sie sind tot« hallen immer wieder in mir. Dass sie nicht mehr zurückkommen war mir klar. Und verdammt, es vergeht kein Tag an dem ich sie nicht vermisse.
Ich vermisse alles, aber am meisten das Leben, das ich hatte, als sie noch da waren. Die Trauer vom letzten Jahr ist zurückgekommen. Und das unfassbar stark. Luca und Lukas werden beide von mir ignoriert. Sowie Lilly. Meine Familie. Alle.
Ich halte es nicht aus. Die Stimmen, die Worte, selbst der Anblick anderer Menschen macht mich krank. Ich war heute nicht in der Uni, die Fenster meiner Wohnung habe ich mit Vorhängen zugezogen um nicht die Leute sehen zu müssen, die unten vorbeigehen. Luca schreibt mir durchgehend und er hat auch zweimal angerufen, weswegen ich mein Handy ausgeschaltet habe. Alles was ich will ist alleine sein.
Ich schaue seit gestern Abend Filme, die ich vor einem Jahr noch mit ihm geschaut habe, bekomme aber nicht viel mit. Die ganze Nacht habe ich nur geweint und das hat mir den Schlaf geraubt. Nun sitze ich da, starre mit einem Tunnelblick auf meinen Laptop und beobachte wie irgendwelche Menschen über den Bildschirm huschen. Menschen, die nicht mit mir reden, sondern ihre eigenen Probleme haben. Und ich kann flüchten, solange der Film rennt.
Hunger habe ich keinen. Meine Kehle fühlt sich an wie zugeschnürt und mein Körper ist ganz steif vom vielen Liegen.
Immer wieder sehe ich die Lichter. Ich weiß, dass sie nicht echt da sind, aber trotzdem, ich erkenne sie als wäre es gestern gewesen.
Dabei liegt es mittlerweile ein Jahr zurück. Ich sehe wie sie Fäden ziehen. Rot, orange, weiß.
Alles um mich ist ein Geflecht von Lichtern, ein gewobenes Netz von Geschichten.
Und mitten drinnen ich.
»Lass mich nicht sterben«, das habe ich damals gedacht. Und daran erinnere ich mich bis heute. »Lass mich nicht sterben«, das wären meine letzten Gedanken gewesen.
Nicht wie schön mein Leben war. Nicht ein letztes Dankesgebet. Nein. Ich habe nicht einmal darum gebeten, dass sie statt mir überleben sollen.
Im Eifer des Gefechts war da nur ein einziger Gedanke. Ich wollte noch nicht sterben. Ich dachte, der Tod sei das Schlimmste was mir passieren könne.
Aber ich habe mich geirrt. Das Schlimmste, was mir passieren konnte war ohne sie leben zu müssen. Meine Tage sind nach und nach grauer geworden. Grauer und einfarbiger.
Es fühlt sich an als würde ich ertrinken, beinahe, als wären all die letztjährigen Gefühle wieder zurückgekommen. Ich würde so gerne weinen, aber ich habe alle meine Tränen letzte Nacht aufgebraucht. Ich schnäuze mich und starre weiter auf den Bildschirm, hab aber keine Ahnung um was es geht. Oder doch, ich weiß es. Wir haben den Film damals immer und immer wieder gesehen. Er hat ihn vergöttert. Ich habe ihn vergöttert.
Jetzt, wo ich ihn alleine sehe kommt er mir albern und langweilig vor.
Ich will weinen und in meinen eigenen Tränen ertrinken, nur um nicht länger in diesem Leben verweilen zu müssen. Ich schüttle den Kopf. Wie ist das bitte so eskaliert? Es war alles gut? Und Lilly hat auch nicht dafür gesorgt, dass sich alles wiederholt.
Sie hat mich nur an letztes Jahr erinnert. Und irgendwie ist dadurch alles wieder hochgekommen. Beinahe, als hätte ich den Großteil des Schmerzes weggesperrt und nun ist er freigekommen und überrollt mich wie eine verdammte Lawine.
Es klopft an meiner Wohnungstür, aber ich ignoriere es und schließe meine Augen. Das ich nichts vom Film mitbekomme ist mir egal. Ich habe das Gefühl, ich brauche die belanglosen Hintergrundgeräusche einfach.
Es klopft erneut, aber mich bringt nichts auf dieser Welt zur Tür.
»Noël«, ich erstarre, als ich leise meine Stimme durch die Wohnungstür durchhöre, spitze meine Ohren, bewege mich aber keinen Zentimeter.
»Ich weiß, dass du da bist und jetzt mach die Tür auf. Deine Schwester meinte, ich soll vorbeikommen.«
Die Stimme klingt durch die Tür unbekannt. Aber ganz klar, von der Art wie die Person spricht, ich kenne sie. Ich bin mir sicher.
Vorsichtig rolle ich mich von meiner Couch, bedacht darauf über keine meiner tausenden Teetassen zu stolpern. Meine Decke habe ich mir schützend über meine Schultern gelegt, ich tapse mit kleinen Schritten auf die Tür zu. Gott verdammt, man merkt wirklich wie kraftlos mein Körper ist, dadurch, dass ich in den letzten vierundzwanzig Stunden nichts gegessen habe. Und dabei ist das noch nicht einmal lange.
Hungrig bin ich trotzdem nicht und ich bin davon überzeugt, dass ich kaum etwas runterbekommen würde.
»Noël jetzt mach die scheißverdammte Tür auf.«
Ich verdrehe die Augen, langsam werde ich wütend, dass ich so gedrängt werde. Schlussendlich habe ich es dann doch bis zur Tür geschafft und öffne sie.
Ich ringe nach Atem.
Daa steht Luca. Er ist es eindeutig. Es ist dieselbe Person, wie auf seinem Profilbild und gottverdammt, ist er riesig!
In echt sieht er jedoch noch liebenswürdiger aus als auf dem Foto. Auch, wenn ich niemanden sehen will und nicht einmal ein Lächeln zusammenbringe, sehe ich ihn abwartend an. Darauf, was jetzt passiert. Ob er versucht mich zu trösten? Mich aufzumuntern? Oder ob er nur Essen bringt?
Aber er wartet nicht mit einer Umarmung auf mich. Auch nicht mit einem Hallo. Nein.
Alles was er sagt ist »Du siehst scheiße aus, Noël.«
Danke aber auch.
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All I Want for Christmas Is Food
RomanceSie hasst Weihnachten, er ist ein absoluter Weihnachtsfanatiker. Sie meidet soziale Kontakte, er arbeitet bei einem Lieferungsservice. Sie hat Hunger, er hat Essen. © letzteEinhorn Ein Adventskalender, der euch durch die Weihnachtszeit bring...