Noël
Ich wünschte da wäre jemand, der mir helfen kann. Eine Person, die einen Rat für mich hat. Vielleicht eine beste Freundin, in die ich vertrauen kann.
Aber so eine Person habe ich nicht.
Ich hatte einst viele solche Menschen in meinem Freundeskreis. Und auch in meiner Familie. Meine Schwester beispielsweise. Wir standen uns lange Zeit sehr nahe.
Aber nicht mehr.
Nachdem ich mich immer mehr zurückgezogen habe ist der Kontakt nach und nach mit einer Person nach der anderen abgebrochen. Und ich wollte es so. Ich hatte es satt Freunde um mich zu haben, die reden aber nicht verstehen.
Ich hatte es satt mitleidig angesehen zu werden.
Sie haben es nicht verstanden, letztes Jahr. Ein Verlust dieses Ausmaßes ist ihnen nicht bewusst. Keinem von ihnen.
Doch nun, wo Luca mir beginnt ans Herz zu wachsen und meine Anrufe gekonnt ignoriert, wünschte ich, da wäre eine Person dieser Art. Jemand, der mir sagt, was der Junge vom Lieferservice denkt und was ich tun soll.
Ich kann nicht gut mit Menschen. Konnte ich nie. Besonders seit letztem Jahr schrecke ich alle mit meiner zynischen, sarkastischen Art ab. Meine Erfahrungen mit Menschen habe ich nach und nach vergessen und meine sozialen Kompetenzen sind nicht groß genug um Luca zu verstehen, auch wenn es vermutlich auf der Hand liegt.
Weswegen ist er so sehr verärgert?
Seit Minuten ruht mein Finger auf dem Kontakt meiner Schwester. Ob ich sie nun wirklich anrufe oder es bleiben lasse ist unklar. Abgesehen davon, dass ich nicht weiß, ob ich auf ihr Wort vertrauen kann, haben wir lange nicht mehr gesprochen.
Bei der Weihnachtsfeier war es einzig und alleine ein Hallo, dass zwischen uns gewechselt wurde und Monate davor habe ich alle ihre Anrufe ignoriert. Genauso wie gestern.
Eine Tat, die ich jetzt bereue.
Mein Stolz ist meine größte Schwäche. Sie anzurufen und um Rat zu bitten, nachdem ich sie bei jedem ihrer aufmunternden Worte zur Hölle gewünscht habe, fällt mir schwer.
Und genau den Stolz heißt es zu überwinden. Mit einem Seufzen drücke ich die Anruftaste und warte auf das gewohnte Tuten des Telefons.
Sie hebt sofort ab und mich überkommt die Panik- Wir haben ewig nicht mehr telefoniert. Unsere Gespräche beziehen sich nur auf das Nötigste. Und trotzdem rufe ich sie an.
Warum?
Obwohl mein Handy bereits die Sekunden der Anrufdauer zählt sagt niemand von uns beiden was.
»Hallo Lilly«, sage ich schließlich und schweige daraufhin. Sie klingt besorgt, als sie antwortet.
»Ist alles okay, Noël?«
Ich bejahe, woraufhin wir beide schweigen.
»Ich brauche deine Hilfe«, die Worte sprudeln aus mir heraus, so plötzlich, so unkontrolliert. Ich verhaspel mich beinahe, so schnell sage ich sie und trotzdem fühle ich mich, nachdem ich das losgeworden bin viel leichter.
»Natürlich«, meine Schwester ist aufgeregt, ich höre es daran, dass ihre Stimme leicht bebt. »Ich bin immer für dich da, das weißt du doch.«
Wir schweigen wieder beide, weil ich nicht weiß, wie ich anfangen soll. Es ist mir wichtig, dass ich mir meine Worte erst achtsam zurechtlege, bevor ich sie freigebe. Ich überlege, was und wie viel ich Lilly erzählen will. Am Schluss entscheide ich mich für die Wahrheit.
»Ich habe jemanden kennengelernt. Um ehrlich zu sein zwei Leute«, ein Zögern begleitet meine Stimme. Lilly hört zu. Das konnte sie schon immer. Vielleicht ist das der Grund, warum ich schlussendlich auch sie und nicht eine meiner ehemaligen Freundinnen angerufen habe.
»Ich wollte eigentlich nur Essenbestellen, wie immer. Bei Don&Son's Liefersevice. Es war der erste Dezember und ich war dementsprechend gereizt. Aber mein Telefonpartner hat es tatsächlich geschafft mich etwas hervorzulocken und wir haben etwas rumgealbert. Das ist so komisch zu erklären, oh Gott. Es tut mir leid, Lilly. Ich bin durcheinander, irgendwie.«
»Lass dir Zeit, ich bleib dran«, meine Schwester klingt warm. Ich lächle leicht und erzähle ihr daraufhin auch, wie ich Lukas getroffen habe und meine Telefonate mit Luca öfter geworden sind.
Ich erzähle ihr von der Olivenpizza und dem traurigen Ende der Geschichte.
Lange Zeit schweigen wir beide, bis Lilly leise lacht.
»Was?«, ich klinge kalt, wie meistens, wenn ich etwas nicht verstehe. Ich erzähle ihr etwas, dass mich wirklich berührt, nachdem wir ewig keinen richtigen Kontakt mehr hatten und sie lacht einfach.
»Ich kenne Luca, Noël. Er ist der Typ, dem du meine Handynummer gegeben hast und der mich seit Tagen bearbeitet hat, dass ich ihm die deine unbedingt geben soll.«
Ich schlage mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Natürlich! Ich erinnere mich.
»Ich kann sie dir gerne geben, wenn du die Sache mit ihm gerne klären würdest.«
»Das wäre so nett von dir, Lilly. Vielen Dank«, innerlich lobe ich mich selbst, dass ich ihm damals die Nummer von meiner Schwester gegeben habe. Was ich bereits wieder vergessen habe bietet mir nun eine Chance alles gerade zu stellen, denn meine häufigen Anrufe beim Lieferservice ignoriert der Idiot beinhart. Sobald er meine Stimme hört legt er auf.
Abgesehen davon, dass ich heute nicht bei Don&Son bestellen kann und wirklich Hunger habe, vermisse ich es auch irgendwie mit ihm zu quatschen. Und mich plagen immer noch Schuldgefühle wegen gestern.
»Noël«, fährt Lilly fort und reißt mich aus meinen Gedanken. »Luca ist eifersüchtig. Das mit der Magarita war einer eurer Insider, ich denke es hat ihn verletzt, dass du auf dasselbe Thema mit diesem Lukas gekommen bist. Überhaupt war es wirklich unfair so zu tun, als würdest du ihn nicht kennen. Lukas wäre deswegen doch nicht sauer gewesen oder hätte ein schlechtes Bild von dir gehabt. Luca ist eifersüchtig und dass du dich irgendwie für Lukas entschieden hast, als du so getan hast, als würdest du Luca nicht kennen, macht es nicht besser.«
Wir schweigen beide.
»Aber Lilly, ich meinte es doch wirklich nicht böse. Lukas und ich sind doch nur Freunde, denke ich. Keine Ahnung, ob wir daten oder nicht. Ich kenne beide erst seit wenigen Tagen und habe Luca noch nie im echten Leben gesehen.«
»Und wissen die beiden das? Speziell Luca? Schreib ihm«, ich weiß, dass meine Schwester gerade lächelt, auch ich strahle.
»Danke, Lilly. Es tut mir leid, dass ich mich letztes Jahr wie eine Zicke verhalten habe.«
»Letztes Jahr hast du sehr viel verloren, Noël. Wir alle haben das. Ich bin dir deswegen nicht böse. Es ist schön mal wieder geredet zu haben. Du hast mir gefehlt. Ich schicke dir die Nummer, ja?«
»Das wäre lieb.«
Wir verabschieden uns und als ich auflege, liegt das Lächeln immer noch auf meinen Lippen.
Und es fühlt sich an als wäre ich fünf Kilo leichter.
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All I Want for Christmas Is Food
RomanceSie hasst Weihnachten, er ist ein absoluter Weihnachtsfanatiker. Sie meidet soziale Kontakte, er arbeitet bei einem Lieferungsservice. Sie hat Hunger, er hat Essen. © letzteEinhorn Ein Adventskalender, der euch durch die Weihnachtszeit bring...