14. Dezember

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Noël

Der Schnee ist wieder verschwunden und ich bin mir nicht sicher, ob mich das erfreuen oder stören soll. Auf der einen Seite gibt es nichts Schöneres als die enttäuschten Gesichter der Weihnachtsfanatiker zu sehen, auf der anderen sieht Wien jetzt merkwürdig kahl und leer aus. 

Ein bisschen freue ich mich dann schon zu hören, dass sogar Luca meckert, weil er sich so sehr weiße Weihnachten  wünscht.

Das Einzige, was ich mir wünsche ist gar kein Weihnachten erleiden zu müssen.

Es wäre nur fair, wenn beide Wünsche unerfüllt bleiben.

Heute habe ich nichts beim Lieferservice bestellt, da ich wenigstens ab und zu etwas sparen sollte, aber das stellt jetzt, wo ich Lucas Nummer habe, kein Problem mehr da.

Wir schreiben ziemlich viel und auch über die momentane Schneesituation gab es heute bereits hitzige Diskussionen.

Ich sitze auf meiner Fensterbank, in meiner Hand eine Tasse Tee und starre aus dem Fenster hinaus. Eigentlich müsste ich lernen, aber darauf habe ich momentan keine Lust. Umso näher Weihnachten rückt, umso antriebsloser werde ich, umso mehr mangelt es mir an Motivation.

Immer wieder erinnere ich mich an letztes Jahr.

Daran, wie ich in eine Art Trance verfallen bin. Wie es sich angefühlt hat, als ich alles verloren habe, was mir je etwas bedeutet hat. Daran, wie etwas in mir zerbrochen ist. Es war, als hätte mich meine Seele in dem Moment, in dem sie gegangen sind, auch allein zurückgelassen. Und niemand, der nicht dasselbe durchgemacht hat, versteht auch nur annähernd die Leere, die sich in mir befindet und dafür sorgt, dass ich nichts außer Abneigung und Hass empfindet.

Seither wirkt der Schmerz unfassbar aktiv und es gibt kaum etwas, das ihn reduziert oder dämpft.

Die Leute sagen, mein Verlust tue ihnen leid. Sie meinen, sie wünschen mir das beste.

Sie verstehen nicht. Es gibt nur wenige Menschen, die es tun.

Abgesehen von den durch meine abweisende Art verlorene Freundschaften habe ich in dem Jahr gelernt langsam mit dem Schmerz zu leben. Die Zeit hat meine Wunden nicht geheilt, aber das hat sie noch nie. Ich werde nur älter und beginne damit zu leben.

Denn vergessen kann ich nie.

Ich freue mich, dass ich und Lilly uns wieder verstehen, es macht mich glücklich wieder ab und zu mit meiner Schwester zu telefonieren. Sie ist mein Berater in der Sache Luca und es tut gut endlich mal mit jemanden darüber zu reden.

Später wollte sie noch vorbeikommen.

Ich erhebe mich, werfe einen letzten kurzen Blick aus dem Fenster und stelle dann meine leere Teetasse in die Abwasch zu den anderen. Mittlerweile habe ich eine stattliche Ansammlung an benutzten Teegefäßen, die in der ganzen kleinen Wohnung verteilt sind.

Neben meinem Bett, auf meinem Nachtschränkchen, zwischen meinen Büchern im Bücherregal, am Boden neben meinem Sofa, auf meinem Schlüsselschrank, in meiner Küche und sogar neben meiner Fensterbank. Überall sind leere Teetassen. Und es werden noch mehr.

Ich bin zu faul, um abzuwaschen, aber Tee trinke ich trotzdem für mein Leben gerne.

Es klopft und ich schrecke auf, bevor ich zur Tür eile. Das muss Lilly sein.

»Elisabeth!«, necke ich sie, als ich sie hereinlasse. Lillys blondes Haar hat sie hochgebunden, sie verdreht die Augen als ich ihren ganzen Namen ausspreche.

»Lass mich erst mal rein, Weihnachten.«

Ich seufze. »Nicht du auch noch.«

»Luca hat mich auf die geniale Idee gebracht, als er nach deiner Nummer gebettelt hat«, Lilly zwinkert mir zu und betritt meine Wohnung. Sie mustert sie, sieht sich etwas um. »Süß sieht sie aus. Ganz wie ich sie in Erinnerung hatte. Aber die Teegefäße irritieren ein bisschen.«

Ich lache leise und folge ihr.

»Willst du etwas trinken?«, meine Schwester nimmt auf meine Frage hin nickend am Sofa Platz und schlägt die Beine übereinander.

»Wasser, bitte. Du hast Glück, dass ich überhaupt Zeit gefunden habe vorbei zu kommen. Die Maturavorbereitungen töten mich, ehrlich. Aber in der Uni ist es vermutlich nicht anders«, meine Schwester zuckt mit den Schultern, dann wird ihre Mimik weicher und sie versucht einen Blick auf mich zu erhaschen, aber ich bin schon auf dem Weg in die Küche. Nachdem ich mir ein Glas geschnappt habe lasse ich kühles Wasser hineinfließen.

»Es war mir nur sehr wichtig, dass ich vorbei komme, weißt du, Noël?«, ich sehe meine Schwester nicht, weil sie mit dem Rücken zu mir sitzt und sie sieht mich nicht, wofür ich wirklich dankbar bin, als sie weiterspricht. »Weil es in drei Tagen doch ein Jahr her ist. Ich habe in dem Zeitraum keine Zeit mehr dich zu besuchen, weswegen ich lieber heute hier sein wollte. Dich daran zu erinnern ist wohl das Schlimmste, was ich tun kann, aber ich muss. Ich will, dass du weißt, dass ich immer für dich da bin.«

»Lilly«, meine Hände umklammern das Glas Wasser so fest, dass meine Knöchel hervortreten und trotzdem habe ich Angst es fallen zu lassen. Tränen steigen mir langsam in die Augen und ich blinzle mehrmals, damit meine Wimperntusche nicht verläuft.

»Nein, Noël.«

»Lilly, bitte hör auf.«

»Du musst abschließen«, meine Schwester klingt energischer, ich beiße meine Zähne zusammen und spüre wie sich meine Gesichtsmuskulatur verkrampft. Ich will nicht antworten, weil ich weiß, dass ich zu laut werde, aber auf der anderen Seite will ich, dass sie endlich aufhört zu reden. Sie versteht nicht, dass das was ich verloren habe unmöglich zu ersetzten ist. Dass ich nie abschließen kann. Niemals.

Lilly ist erst achtzehn. Sie hat nicht mit den Dingen zu kämpfen gehabt, die dafür sorgen, dass ich mich in den Schlaf weine.

»Sie sind tot, Noël. Und er würde nicht wollen, dass du nur noch existierst. Du hast dein Leben weggeworfen als wäre es nichts wert. Dein Hass auf Weihnachten ist deine Art den Verlust zu verarbeiten, das ist mir bewusst. Aber ich wünsche mir wirklich, dass du War is over hören kannst ohne in Tränen auszubrechen. Dass du dich genauso über den Schnee freust wie wir es alle tun und nicht nur weinst.«

»Lilly«, ich stelle ihr Glas beiseite und gehe verkrampft auf sie zu. Ich halte nicht ein einziges weiteres Wort über dieses Thema aus ihrem Mund aus. »Du solltest gehen.«

»Noël, bitte. Ich will nur das Beste für dich. Sprich zu mir.«

Aber ich starre sie nur an, verfalle in einen kurzweiligen Tunnelblick.

Immer wieder sehe ich sie von mir. Die Lichter. Wie sie in Lichtgeschwindigkeit vorbeiziehen und für eine Sekunde schmale Streifen hinter sich zurücklassen.

Rot. Orange. Weiß.

Ich schließe meine Augen, versuche gegen das Beben in meiner Stimme anzukämpfen und nicht in Tränen anzukämpfen.

»Geh«, zische ich nur hervor und Lilly gibt auf. Sie weiß, dass ich jetzt alleine sein will. Stattdessen sagt sie mir nur, dass ich sie jederzeit anrufen kann und verlässt meine Wohnung.

Zurück bleibe ich.

Und mir wird klar, warum ich all meine Freunde und Verwandte langsam aus meinem Leben geschubst habe.

Weil sie es nicht verstehen.

Mein Handy gibt einen Pfeifton von sich.

An: Noël

Von: Horst

Wie gehts, wie stehts?

Ich werfe mein Handy auf mein Sofa ohne zu antworten.

die stimmung des buches sinkt, aber das wird wieder. stay positive xx

All I Want for Christmas Is FoodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt