3. Kapitel

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3. Kapitel

Meine Schwester murmelte leise irgendetwas im Schlaf und ihr Gesicht sah dabei richtig friedlich aus. Die Augen unter ihren Lidern bewegten sich, sie träumte. Die Decke aus dünnen Leinen hatte Lina schon lange weg gestrampelt, die lag jetzt zusammengeknüllt am Boden.

Ich war wirklich schon zu lange wach.

Seit ich in der Nacht ein paar verdächtige Geräusche von draußen gehört hatte, die ich den beiden Fremden zuordnete, obwohl es wahrscheinlich Tiere waren, konnte ich nicht wieder einschlafen. Es war noch immer dunkel draußen, aber einige frühe Vögel sangen bereits zögernd ihr Lied. Bis jetzt hatte ich meine kleine Schwester beobachtet, die schlief wie ein Stein. Ich spürte die Aura eines Geistes um mich, wahrscheinlich ihrer, denn Aris' Ausstrahlung kannte ich.

Leise schwang ich meine Beine aus der Hängematte und versuchte im Dunkeln meine Waffen ausfindig zumachen. Bald schon hatte ich meine Messer, den Bogen und Köcher zusammengesammelt und schwang mich durch das Fenster mithilfe einiger Äste auf den Boden. Er war kühl und das Gras mit Tau überzogen. Die Ostseite des Himmels schien bereits langsam heller zu werden. Schnurstracks ging ich in die entgegengesetzte Himmelsrichtung und lief lautlos den Pfad Richtung Seelensee entlang. Alles im Wald schien zu schlafen, selbst die letzten Eulen hörten auf zu rufen und legten sich wieder in ihre Baumhöhlen. Ich hörte leises Piepsen aus einigen Mauselöchern und ein kleines feuerfarbenes Vögelchen flatterte aufgeregt in den niederen Ästen umher.

Dieses Tierchen, oder besser gesagt seine Art, war äußerst faszinierend, und das nicht nur von den Farben her: Seine rot-orange-gelben Flügelfedern, der orange Schweif und der weiße Bauch und Kehle ließen ihn, wenn er schnell an einem vorbeiflog, aussehen wie eine fliegende Flamme. Der gelbe Ring um seine schwarzen Knopfaugen verlieh ihm mit seinen Feuerfarben seinen Namen: Feuerauge.

Er lebte nur am Seelensee und hatte die seltene Angewohnheit, Mensch wie Tier durch sein Verhalten zu zeigen, ob Gefahr nahte. Durch seine schönen Farben war er bei allen recht beliebt und doch nicht gerne gesehen, da er eben oft nur kam, wenn man vorsichtig sein oder fliehen musste. Trotzdem wurde er als Beute nicht aussortiert und von allen möglichen Schlangen- und Katzentieren gefressen.

Ich machte mir trotzdem keine allzu großen Sorgen um meine Situation. Das Vögelchen, das las in seinem Verhalten, war nur gekommen, um zu sehen, wer durch seinen Wald geschlichen kam.

Sobald ich diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, flog er auch schon wie ein Pfeil durchs Unterholz und verschwand anschließend in den Baumkronen. Aber es hatte mir, einfach, weil es da war, ein Lächeln auf die Lippen gezaubert.

Der Wald wurde allmählich lichter und endete dann schließlich ganz in einer eher flachen Graslandschaft. Hier konnte man am besten Rebhühner jagen, da dies ihr Lebensraum war, aber ich war nicht zum jagen hier. Noch nicht.

Die Gegend ebbte abrupt ab, eine steile Klippe führte hinab zum etwa fünfzehn bis zwanzig Schritt tiefer gelegenen Strand, der in den Seelensee mündete. Wer sich auskannte wusste, wie er sicher und in kürzester Zeit die Klippen bezwang.

Eine Weile ging ich nach Norden und sah dann endlich die in den Stein gehauene Treppe, die schief und schräg die Steilwand hinunterführte. Das war die sicherste Methode, die es im Moment gab, aber nicht die eleganteste. Einige kleine Felsvorsprünge boten meinen Händen Halt, sodass ich nicht seitwärts hinabfiel. Unten angekommen blickte ich auf den weiten See hinaus, der beinahe einem Meer glich.

Das türkisfarbene Wasser schlug leichte Wellen an den Strand und nur einige große Felsen widerstanden ihnen. Ich erkannte einen kleinen Schrein, der die Geister und Seelen des Sees ehrte. Mein Volk erachtete den See als Kraftquelle für unsere Geister.

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