5. Kapitel

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5. Kapitel

„Kayla?" Die Stimme meiner Schwester traf mich etwas überrascht, und als ich die Augen öffnete und zu ihr hoch sah, verschwamm mein Blick erneut. Ich wusste nicht, wie lange ich bereits zusammengekauert auf dem Podest gesessen hatte, aber die Menschen waren bereits größtenteils verschwunden. Nur einige Wenige sonnten sich in der Mittagssonne auf den warmen Steinen und warfen mir hin und wieder ängstliche Blicke zu.

Ich senkte meinen Kopf wieder gen Boden und ein Schluchzen verließ meine Kehle. Ich hatte versagt.

Meine Schwester kniete sich zu mir hinab und nahm mich in die Arme. Erschöpft legte ich meine Arme um ihren zierlichen Körper und weinte mich, wortwörtlich, an ihrer Schulter aus.

„Das wird schon wieder", sagte meine Schwester und strich mir aufmunternd über den Rücken.

„Nein", schluchzte ich. „Du weißt, was Großvater getan hat. Alle verbinden mich jetzt mit ihm, sie glauben, ich werde dasselbe anstellen!"

„Das stimmt doch nicht", meinte Lina, aber wir beide wussten, dass es so war. „Wolltest du deshalb weg?"

„Ja. Glaubst du, dass ich noch ein normales Leben führen kann, wenn mich alle anstarren und als Mörderin abstempeln? Zu viele Psi-Träger haben vor mir schon gemordet." Meine Stimme war mehr als verzweifelt und die Tränen rannen mir über die Wangen.

Mein Vater stellte sich zu uns und hielt mir ein Stück Stoff hin, sodass ich mir die Nase putzen konnte. Mit dem Handrücken wischte ich mir das salzige Wasser aus den Augen. Das war jetzt schon das zweite Mal innerhalb von zwei Tagen, dass ich weinte, und normalerweise tat ich das so gut wie nie. Wie tief war ich gesunken?!

„Wir stehen zu dir", sprach mein Vater mit seiner tiefen Stimme. „Egal, was sie dir zuschreiben, was du bist, für uns bist du noch immer die Kayla wie davor."

Nun ja, das konnte nur schlecht enden. Meine Familie würde ebenfalls die Wut und den Hass der Menschen abbekommen, obwohl diese nur mich aus der Welt schaffen wollten.

Mein Vater kniete sich ebenfalls zu mir und umarmte mich aufmunternd, bevor wir drei den Weg nach Hause einschlugen.

Trotz des Wesenslesens herrschte auf den Straßen reges Gedrängel, überall priesen Händler ihre Ware an, aber es vergingen keine zwei Sekunden, in denen mich nicht irgendwer hasserfüllt oder ängstlich ansah und zurückwich. Die Erinnerung an die Mörder vom Geistervolk war erneut aufgekommen, als hätte man den Schorf von einer noch nicht geheilten Wunde gerissen.

Erneut stiegen mir Tränen in die Augen, aber diesmal schluckte ich sie hinunter. Weitere Tränen zu vergießen würde auch nichts an meiner Lage ändern.

* * *

Das Geräusch von Holz, das durchsägt wurde, schien mich nicht so zu beruhigen wie sonst. Auch der Geruch von Bambus ließ mich nicht zur Ruhe kommen.

Ich stand in der Werkstatt meines Vaters und half ihm, ein Regal zusammen zu zimmern. In dem mit Dämmerlicht beleuchteten Raum, der nicht mehr als zwei kleine Fenster besaß, stand in einer Ecke ein kleiner Tisch, auf den ein Stück Papyrus lag mit Baunotizen. Die Kohlezeichnung war bereits etwas verwischt, und ich fragte mich, für wen das Regal, dass dort abgebildet war, bestimmt ist. Ein schlanker Schrank, der sich direkt neben dem Tischlein befand, war mit allen möglichen Bauutensilien vollgestellt.

„Hältst du mal eben kurz den Nagel?" Mein Vater zeigte auf eine Stelle an dem Regal. Ich tat wie geheißen und stützte den Eisennagel, bevor mein Vater ihn in das helle Birkenholz schlug.

Viele weitere Bretter lagen an der Seitenwand zum Wohnhaus hin auf dem Boden und schienen darauf zuwarten, ebenfalls verbaut zu werden.

„Gut, das war's dann erst mal. " Vater wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Heute war es wirklich zu heiß, um zu arbeiten, aber die Arbeit musste erledigt werden.

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