Der Blick in den Spiegel am nächsten Morgen erwies sich als großer Fehler.
Ich sah aus wie ein behinderter Waschbär. Meine rotbraunen Haare, die ich mir bis zum Kinn abgeschnitten hatten, weil die Locken sonst unbändig waren, standen mir wild vom Kopf ab, meine Augen waren von dunklen Augenringen unterlaufen und mein Gesicht wirkte unglaublich fett. Ich wusste, dass es das nicht war, dass ich eigentlich ziemlich schlank war, aber ich konnte mich einfach nicht als Solches sehen.
Um wach zu werden, ohne drei Kaffees konsumieren zu müssen, stieg ich in die Dusche und ließ lauwarmes Wasser über meinen Rücken laufen. Kaltes wäre zwar effizienter, aber da hätte ich mich auch gleich selbst umbringen können.Nach der Dusche waren wenigstens die Augenringe weg und mein Haar hing mir schlaff und nass auf die Schultern, was besser war als vorher. Ich war nicht so der Föhntyp, und obwohl ich mich nicht so unglaublich für mein Aussehen interessierte, wollte ich das Risiko, dass meine Haare nach der Handtuchprozedur wieder aussahen, als hätte ich sie mir hochgestylt, nicht eingehen, also ließ ich sie von selbst trocknen. Aus meinem Koffer, den ich natürlich nicht ausgeräumt hatte, zog ich ein weiteres, schwarzes T-Shirt, neue Wäsche und mein Ladekabel, da mein Handy kurz vor dem Suizid stand. Die Hose von gestern konnte noch benutzt werden.
Als ich unten in die Küche kam, stand Trace am Herd und briet irgendwas und Diamond schnitt Obst. Als sie mich sah, lächelte sie. "Guten Morgen. Gut geschlafen?"
Nein. Natürlich nicht. Ich schlief nie gut.
"Selten besser", behauptete ich und sog tief die Luft ein. "Rieche ich hier Kaffee?"
Diamond warf Trace einen vielsagenden Blick zu, dessen Bedeutung ich nicht verstand. "Ja, klar", antwortete sie dann, "du willst nicht versuchen, Trace ohne Kaffee aus dem Bett zu kriegen."
Klingt ganz nach mir. Nur dass ich niemanden hatte, der mir jeden Morgen einen Kaffee ans Bett brachte, nur, damit ich aufstand. Mein Vater war nicht da und jemand anderen, den das interessiert hätte, hatte ich nicht.
"Ich hätte da so meine Mittel", grinste ich. "Aber eigentlich wollte ich fragen, ob noch was von dem Kaffee übrig ist."
Nein, ich war nicht der höflichste Gast, den man sich vorstellen konnte. Aber ich konnte es einfach nicht, ich bekam es nicht hin, höflich zu sein. Vor allem nicht, wenn Kaffee auf dem Spiel stand. Dann konnte ich zur Furie werden, Kaffee nahm mir niemand weg.
"Ja, auch. Warte, ich gieß dir einen ein. Zucker, Milch?"
Bei dem Gedanken, dass jemand meinen Kaffee mit Zucker foltern könnte, wurde mir schlecht. Das war unmenschlich. "Milch, bitte", erwiderte ich und versuchte, das Übelkeitsgefühl zu unterdrücken.
Diamond nickte, legte das Messer hin und ging zum Kühlschrank, um Milch zu holen. Ich blieb mitten im Raum stehen und sah mich noch einmal eindringlich um. Im Hellen sah alles noch sauberer aus als heute Nacht. Weil ich wohl doch einen letzten Rest Höflichkeit besaß, ging ich um die Kücheninsel herum, stellte mich an Diamonds alten Platz und begann, das Obst weiterzuschneiden. Vielleicht war es auch der Wunsch, hier zu bleiben und nicht abgewiesen zu werden.
Ich konzentrierte mich darauf, die Äpfelstücke gleichgroß zu schneiden, aber die eine Hälte sah aus wie ein Plattfisch und die andere erinnerte dezent an Ulli Hoeneß. Ich bemerkte gar nicht, dass Diamond mir eine Kaffeetasse hingeschoben hatte und mich jetzt beobachtete, bis sie anfing zu lachen.
"Lass gut sein, Lake, ist schon gut."
Trace drehte sich von seinem Herd um. "Was ist?", fragte er neugierig. Betreten trat ich beiseite und ließ ihm freien Blick auf mein misslungenes Schneideexperiment. Er stimmte augenblicklich in Diamonds Lachen ein.
"Du kannst das noch schlechter als Xav", kommentierte er belustigt.
Auf meinen fragenden Blick erklärte Diamond bereitwillig: "Xavier, Traces Bruder. Und es stimmt nicht. Niemand kann so schlecht Obst schneiden wie Xav. Bei ihm erkennt man später nicht mehr, was es einst war, hier könnte man noch auf Apfel tippen."
Ich musterte mein Werk kritisch. "Ich persönlich würde das Apfelsine nennen, so wie ich den ausgepresst habe."
"Du machst dich selbst schlecht", protestierte Diamond halbherzig, doch Trace nickte mir zustimmend zu. "Nein, sie hat recht, Di. Das ist jedenfalls kein Apfel mehr. Komm her, du kannst dich anders nützlich machen. Ich verstehe nicht, wieso die Pfannkuchen so komisch anbraten."
Pfannkuchen waren mein Spezialgebiet. Ich, als so der einzige Mensch, der keine Pizza mochte, hatte zu drastischen Mitteln greifen müssen, da ich schlecht was bestellen konnte und mir immer einfach den ganzen Keller mit Zutaten für Pfannkuchen zugemüllt, damit ich nicht mehr als ein Gericht lernen musste. Ich trat neben Trace und warf einen abschätzenden Blick in die Pfanne. Kurz darauf musste ich mir ein Grinsen verkneifen. Sein Pfannkuchen war zusammengekrumpelt und lief gerade schwarz an.
"Was ist?", fragte er störrisch.
Ich zwang meine Miene ernst und antwortete mit einem leisen Lachen: "Du weißt aber schon, dass man die Pfanne vor'm Backen einölen muss, oder?"
"Ihr seid alle beide absolut unfähig", kam es missbilligend von Diamond, was mich noch mehr zum Grinsen brachte. Trace schnaubte und reckte sich in die Höhe, um an das Öl zu kommen, das in einem Metallnetz über dem Herd hing.
Als er es rausgefischt hatte, nahm ich es ihm bestimmt aus der Hand. "Lass mich, das ist etwas, was ich kann. Du könntest den Tisch decken. Ich würd's auch tun, aber ich weiß nicht, wo was ist."
Trace überließ mir erleichtert das Feld und ging zu einer Kommode rüber, in der sich wahrscheinlich das Geschirr befand, während ich seinen verkohlten Pfandkuchen aus der Pfanne kratzte, sie ölte und dann noch einmal von Neuem anfing.
"Trace?", sagte ich, ohne mich zu ihm umzudrehen.
"Hm?", grummelte er als Antwort.
"Deine Backkünste sind noch schlimmer als die für Wohnungsangebote."
Heute hatte ich mal wieder einen sehr charmanten Tag. Diamond kicherte hinter mir, aber was Trace tat, konnte ich nicht sehen oder hören. Allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass er mir den Mittelfinger zeigte.
Zehn Minuten später schnüffelte Diamond hinter mir auffällig. "Lake, ich habe, seit ich mit Trace verheiratet bin, nicht mehr so gute Pfannkuchen gerochen. Wenn man das, was er zustande gebracht hat, überhaupt als Pfannkuchen bezeichnen kann."
Ich selbst war auch ziemlich zufrieden mit meinen Werken, die ich übereinander auf einem Teller gestapelt hatte, den Trace mir gegeben hatte. Sie hatten genau den richtigen Braunton, ohne verkohlt zu sein. "Habe mich jahrelang praktisch nur von den Teilen ernährt."
Ich nahm den Teller in die Hand und trug ihn vorsichtig zu dem von Trace gedeckten Tisch. Dort stand schon der Rest des Frühstücks, ich war als Letzte fertig geworden. Diamond und Trace setzten sich auf die eine Seite, ich mich auf die andere.
"Wie viel kostet so 'ne Übernachtung eigentlich?", fragte ich nachdenklich und stocherte lustlos in meinem Essen herum.
Trace legte den Kopf schräg. "Für die Bemerkungen 1000 pro Nacht."
Diamond schüttelte den Kopf über uns. "Nein, ganz sicher nicht. Wir werden mal sehen, Lake. Solange du dich beim Einkaufen und so beteiligst und wir nicht komplett pleite gehen, wirst du nicht zahlen müssen. Immerhin kostest du nur Essen und vielleicht minimale Wasser- und Energiekosten. Das schaffen wir schon."
Ich schnitt meinen Pfannkuchen in Stücke und schob mir eins in den Mund. Ich hatte mich selbst übertroffen. "Irgendeinen Vorschlag für 'nen Job? Möglichst nichts drinnen vor dem Schreibtisch oder so?"
"Kannst du Skifahren?", fragte Trace nachdenklich.
"Ja", antwortete ich wahrheitsgemäß. Mein Vater und ich hatten unsere Ski immer mit auf Klettertouren genommen und waren dann über die Bergspitzen gerauscht. Diese Ausflüge waren ziemlich hart gewesen, aber ich hatte es genossen, genau wie er. Durchgehend Sport.
"Mein Vater beaufsichtigt die Pisten und könnte Hilfe gebrauchen. Dann wärst du oben, gäbst Hilfestellungen und würdest aufpassen, dass niemand sich verletzt, während er unten ist, Ski verleiht, die Leute in die Gondeln setzt und so weiter. Wie wär's?"
Ich nickte. "Klingt gut. Werde ich entlassen, wenn ich ein Kind von den Ski schubse?"
Diamond fand das offenbar weniger lustig als ich, aber wirklich strafend sah sie auch nicht aus. "Ja, wirst du. Aber ich glaube an dich, das schaffst du schon."
"Irgendwas sagt mir, dass ich das bereuen werde", murmelte ich, mehr zu mir selbst als zu meinen Mitbewohnern.
"Glaub mir, das Gefühl kenne ich. Ich habe das Gefühl, ich würde es bereuen, dir das vorgeschlagen zu haben. Wenn du wegen Körperverletzung vors Gericht kommst, bin ich nicht schuld. Das könnte mich meinen Job kosten!", gab Trace zurück.
"Nein", säuselte ich, "ich werde sagen, dass du verbittert versucht hast, mich davon abzuhalten, aber die böse Diamond hat mich angestachelt."
Diamond bemühte sich um einen ernsten Gesichtsausdruck, aber es wollte nicht so wirklich funktionieren. "Schön, ich schließe mich der Runde des Bereuens an. Trace, nächstes Mal schreibe ich die Auskunft, dann kriegen wir Menschen, die man erträgt."
Aber ihre Augen funkelten belustigt, was mir sagte, dass sie das nicht so meinte. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und lächelte selbstgefällig. "Diamond, du verletzt meine Gefühle."
"Gut so", meinte sie rachsüchtig.
Ich lachte. "Habe ich schlechten Einfluss auf dich oder bist du immer so? Langsam habe ich das Gefühl, dass deine Beschreibung ähnlich ausfallen würde wie die von Trace."
"Bilde dir ja nichts ein", erwiderte sie sofort. "Und bitte verschwinde schnell auf die Piste, sonst gewöhne ich mir deine Art an. Was ich nicht will. Ich arbeite ehrenamtlich, ich fluche nicht, verdammt."
Triumphierend stand ich auf und brachte meinen Teller zur Spühle. "Hätte ich eventuell in die Mail schreiben sollen. In der 8. Klasse haben die Streber Regeln gebrochen, wenn ich in ihrer Nähe war und danach mich dafür verantwortlich gemacht. Die Oberstreberin saß für eine Zeit lang neben mir, weil die Lehrer dachten, dass ich dann endlich leiser wäre. Sie hat irgendwann angefangen, die Lehrer so laut zu beleidigen, dass diese es gehört haben. Danach bekam ich meinen heißgeliebten Einzelplatz in der letzten Reihe. Das war geil. Aus der letzten Reihe konnte man immer alle mit irgendwas abwerfen."
Es war wirklich so gewesen. Selbst die bravsten Schüler wurden in meiner Gegenwart rebellisch und brachen Regeln. Es hatte lange gedauert, bis die Lehrer dahinter gekommen waren, dass es an mir lag, und hatten versucht, mich dafür dranzukriegen, aber ich war zu clever gewesen.
"Ich bring dich zur Piste, mein Vater müsste schon da sein", erklärte Trace sich grinsend bereit. "Okay, warte, ich hol nur kurz mein Handy, das dürfte jetzt geladen sein. Und du sagst mir bitte, wie ich mich deinem Vater gegenüber verhalten soll."
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Relieving Lake (Die Macht Der Seelen- FF)
Fanfiction|| "Du bist mir wichtiger als das meiste andere und ich liebe das. Du bist depressiv, und das gehört zu dir, zu der Person, in die ich mich verliebe. Ich werde niemals einfach gehen. Und es würde mich niemals zerstören, mit dir zusammen zu sein. Es...