Langsam setzte ich mich wieder hin.
Ich wollte wissen, was das bedeutete, ganz gleich, was das für mich bedeutete. Es konnte sein, dass das alles nur ein Streich war. Aber wie sollte man bitte Stimmen in meinen Kopf kriegen? Und selbst wenn es ein Streich war, ich wusste, wie so etwas funktionierte. Man machte sich eine Weile drüber lustig, aber irgendwann vergaß man, dass der Andere peinlich drauf reingefallen war. Man musste nur den Stolz behalten, dann wurde man die Pein schnell wieder los.
Will war sichtlich erleichtert, dass ich vor hatte, ihm zuzuhören und ließ sich neben mir nieder. Seine Hände legte er so hin, dass ich sie sehen konnte, und auch seine restliche Haltung war offen, um mich friedlich zu stimmen. Zwar wirkte das nicht, aber es war trotzdem gut, seine Hände sehen zu können.
"Ein Savant ist jemand, der Gaben hat", begann Will. "Beispielsweise Telepathie, viele mächtigere Savants können zudem Telekinese anwenden, und außerdem hat jeder eine spezielle Gabe."
Meine Stimme zitterte leicht, als ich fragte: "Und was ist deine?"
Er lächelte sanft. "Ich spüre Gefahr. Auch um dich herum. Deshalb wollte ich wissen, wieso du hier bist. Ich kann auch herausfinden, wie stark oder wie lange die Gefahr schon da ist, aber das werde ich bei dir nur tun, wenn du mich drum bittest. Savants haben eine natürliche Abwehr, die mit Training stärker wird, aber bei dir ist sie jetzt schon, ohne jegliches Training, stärker als viele von Savants, die ihr Leben lang daran gearbeitet haben, ihre Schilde zu verfestigen, deshalb dachte ich, du wüsstest es."
Ich stützte meinen Kopf in die Hände. Das konnte nicht sein. Das konnte einfach nicht sein. Mein Leben lang hatten die Depressionen mir eingeredet, dass ich nie etwas Besonderes sein würde, dass ich nur ein schwaches, trauriges Mädchen war. Mein Leben lang hatte ich mir gewünscht, mehr als das zu sein, dass mein Leben etwas bedeutete. Und jetzt sollte mein größter Wunsch wahr werden? Wie sollte ich das glauben, wenn ich doch immer nur enttäuscht wurde?
Will legte mir die Hand auf die Schulter und drückte leicht zu. "Ich weiß, das ist sehr viel auf einmal, aber man gewöhnt sich daran. Sky wusste es auch nicht, bis Zed es ihr erzählt hat. Möchtest du noch mehr wissen oder ist das erst einmal genug? Sky hat Wochen gebraucht, bis sie überhaupt etwas davon wissen wollte, und dann noch mal mehrere Monate, bis sie sich mit dem Gedanken angefreundet hat, kein normales Leben mehr zu haben."
Ich wusste, dass ich, wenn ich nicht alles wissen würde, heute Abend nicht würde ins Bett gehen und munter einschlafen können. Ich musste es wissen. Auch wenn ich mir nicht sicher war, was ich glauben sollte, ich wollte die ganze Geschichte hören. Also nickte ich, um ihm zu signalisieren, dass er fortfahren sollte.
Also erzählte Will weiter: "Jeder Savant hat einen Seelenspiegel, die perfekte andere Seite. Derjenige ist in einem Zwölftage-Zyklus um deinen Geburtstag herum geboren und seine Kräfte ergänzen sich mit deinen. Bis man diese Person gefunden hat, ist man nicht ganz, verstehst du?"
Ja, das verstand ich gut. Sehr gut sogar. Denn ich hatte mich schon lange nicht mehr ganz gefühlt. Konnte es sein, dass diese Einsamkeit daher kam, dass ich meinen... wie war das doch gleich... Seelenspiegel noch nicht gefunden hatte?
Aber selbst wenn, wer würde mich denn haben wollen? Wenn das alles stimmte, stürzte ich diese andere Hälfte ins Unglück. Allein nur mit meiner Existenz. War es besser, für immer alleine zu sein, oder jemanden zu brauchen, der dich nicht will und dem du mit deinen Bedürfnissen nur störst? So wie ich mich kannte, würde ich mich in den Typen verlieben. Ich war zwar noch nie verliebt, aber das wäre typisch. Nur würde er mich nicht lieben. Ich hatte mich damit abgefunden, alleine zu sein. Will riss nur alte Wunden wieder auf.
"Und alle, außer dir und Victor, haben ihre ander Hälfte gefunden?", fragte ich neutral. Will nickte. "Ja, genau."
"Kannst du... kannst du es beweisen? Ich glaube dir nicht", fragte ich misstrauisch. Will seufzte, dann flog vor uns plötzlich ein Ast in die Luft. Das war- tja, das war schon seltsam, aber es könnte auch sein, dass um den Ast eine Schnur gebunden war...
"Gott, selbst Sky war nicht so misstrauisch. Da ist keine Schnur dran, Lake, aber wenn du mir nicht glaubst, gehen wir rein. Yves kann Feuer kontrollieren, Phoenix die Zeit stoppen und Xav heilt. Diese Begabungen kannst du sehen, dann wirst du es wohl sehen, oder?"
Zweifelnd nickte ich. Er stand auf und reichte mir die Hand. Ich musterte sie misstrauisch, rappelte mich von selbst auf und ignorierte sein verzogenes Gesicht. "Ist meine Abwehr stark genug, dass niemand von euch in meinen Kopf gucken kann?", fragte ich.
Will nickte. "Victor könnte sie wahrscheinlich brechen, aber das würdest du merken. Und außerdem tut er das nicht. Vic hat gelernt, mit seiner Begabung nicht leichtfertig umzugehen."
Das alles machte mich immer misstrauischer, doch ich sagte nichts, sondern fragte lediglich: "Was ist Victors Begabung?"
Wenn er log, würde er sich irgendwann in seinen Lügen verfangen. Ich war gut in diesen Spielchen, ich log selbst schon so lange. Ich würde es herausfinden, wenn er mich anlog und das Blatt wenden, ihn selbst fangen und reinlegen.
"Vic zwingt Anderen seinen Willen auf. In Savantfamilien werden häufig sieben Kinder geboren, das Siebte es normalerweise das Stärkste, aber bei uns war es anders. Zed hat zwar von allen unserer Begabungen etwas abgekriegt, aber Vic ist der Stärkste. Er hat aber auch am Meisten trainiert. Seinen Geist kann niemand bekämpfen, egal, wie viele es sind."
Kein Wunder, dass ich mich von ihm fernhalten sollte, wenn er wirklich so mächtig war. Stopp! Du glaubst doch nicht wirklich daran, oder, Lake?! Meine inneren Stimmen, die ich mir während meiner jahrelangen Einsamkeit- vor allem in Downphasen- angewöhnt hatte, blieben kühl und überlegen. Als ich mich zu alleine fühlte, hatte ich angefangen, Selbstgespräche mit ihnen zu führen. Es war zwar merkwürdig, aber mir hatte es geholfen, die Einsamkeit zu unterdrücken.
Die Anderen standen noch in der Küche, aber die Unterhaltungen waren jetzt leiser. Als wir reinkamen, verstummten sie komplett. Ich sah mich um, jetzt war es mir noch unangenehmer, unter so vielen Leuten zu sein.
"Yves, sie will mir nicht glauben. Sie kann mich hören, denkt aber, ich würde sie reinlegen", berichtete Will knapp. Ich widersprach ausnahmsweise nicht. Yves trat vor, hielt eine ausgestreckte Hand zu mir und plötzlich fackelten dort rötliche Flammen auf. Ich schreckte nicht zurück sondern betrachtete sie nur ausdruckslos. Er merkte scheinbar, dass seine Vorstellung die gewünschte Wirkung bei mir verfehlte, denn dann begannen die Flammen, ihre Form zu verändern. Auf einmal hatte ich keinen Feuerball, sondern eine Tulpe vor mir. Ich zog eine Augenbraue hoch.
"Ich steh nicht so auf Blumen, aber danke", sagte ich kühl. Das Feuer an sich hätte ein Trick sein können, aber die Form verändern? Das sah nicht aus, als wäre es ein Streich. Trotzdem weigerte ich mich, daran zu glauben, dass es wirklich sein konnte, dass ich etwas Besonderes war. Ich wollte keine Hoffnung aufbauen, die sowieso nur zerstört wurde. Die Frage war, wann ich akzeptieren musste, dass es wirklich sein könnte, und aufhören musste, Auswege zu suchen.
"Wie kann man nur so ignorant sein?", murmelte Trace, der mitbekam, dass ich nicht glaubte, dass es Savants gab.
Die Antwort war einfach; wenn man genug davon hatte, enttäuscht zu werden. Yves ballte die Hand zusammen und die Flammen verschwanden. Gelassen lehnte ich mich gegen die Wand hinter mir und verschränkte die Arme. Das war nicht genug, das bewies gar nichts.
Phoenix wanderte in das Wohnzimmer. Wieso wusste ich nicht, aber kam sie schon wieder zurück. Die Anderen regten sich nicht- ausgenommen von Yves und Victor, der mühsam den Kopf zu wenden schien. Phoenix bewegte sich unglaublich schnell, obwohl sie nur zu gehen schien und nicht rannte. Verwirrt wollte ich den Kopf wenden, doch es ging nicht. Wills Worte gingen mir durch den Kopf.
Phoenix kann die Zeit stoppen. Das war Paralyse. Ich war paralysiert. Deshalb bewegte sie sich so schnell. Deshalb bewegten sich die Anderen nicht. Nur Yves, der ihr Seelenspiegel war, und Victor, der eine so starke Abwehr haben musste, dass er sich dagegen wehren konnte. Sie könnte jetzt sonst was tun. Ich war schutzlos. Sehr lange hatte ich nicht mehr so etwas gefühlt, eine solche Hilflosigkeit. Deshalb hatte ich mit MMA und Kickboxen angefangen. Weil ich nicht mehr hilflos sein wollte, nie wieder.
Angst und Wut ballten sich in mir zusammen und ich kämpfte erbittert gegen die Paralysation an. Ich hatte nicht Jahre lang trainiert, um jetzt von Phoenix besiegt zu werden, ohne dass die einen Finger rühren musste. Mühsam ballte ich meine Hände zu Fäusten. Die Wut ließ zu, dass ich mich von der Wand abstieß. Entgeistert sah Yves mich an, doch ich ignorierte ihn. Und dann bewegten die Anderen sich plötzlich auch wieder.
Die Wut wollte nicht weichen. Ich brauchte irgendetwas, an das ich sie auslassen konnte. Meine Fäusten blieben geballt, meine Kiefer zusammengepresst.
"Wie hast du das gemacht?", fragte Phoenix entsetzt. "Du hast dich gewehrt, das können sonst nur Yves und Victor!"
Energie ließ meinen Körper erzittern. Wut stachelte mich an, weckte mich auf, machte mich wach. Ich hatte mir geschworen, mich nie wieder hilflos zu fühlen. Ich hatte mir versprochen, dass diese Angst aufhören würde. Dass ich ab jetzt stark sein würde. Und ich hatte versagt, nur, weil ein so zierliches Mädchen die Zeit angehalten hatte.
"Lake? Alles gut?", fragte Tarrynn besorgt.
Nein. Nichts war okay. Diese Schwäche hatte ich das letzte Mal gefühlt, als meine Mutter gestorben war. Ich hatte sie nicht retten können, weil ich schwach gewesen war. Sie hatte sich für mich opfern müssen, weil ich heulend am Boden gelegen hatte. Weil ich mich nicht gewehrt hatte. Sie hatte mich schützen müssen, weil ich es nicht selbst gekonnt hatte. Aber ich hatte mich gebessert. Ich hatte es gelernt. Und jetzt war ich wieder schutzlos gewesen.
Glühender Hass auf Phoenix, die mir das angetan hatte, loderte in mir auf. Ich wusste, dass sie nichts dafür konnte, sie hatte mir nur zeigen wollen, was sie konnte, aber trotzdem. Sie hatte mich um fast zwei Jahrzehnte zurückgeworfen. Ich arbeitete seit 17 Jahren an meiner Kraft, an meiner Selbstverteidigung, und sie hatte alles mit einem einzigen Gedanken zunichte gemacht.
Es kostete mich eine Menge Selbstkontrolle, einmal tief durchzuatmen und zu nicken. Ich durfte nicht hier ausrasten. Nicht vor diesen Menschen. Ich durfte vor niemandem Schwäche zeigen. Nie wieder. "Ja, klar. Ich war nur überrascht."
"Wieso konntest du dich wehren?", fragte Yves.
"Wille", erwiderte ich ungerührt.
Will stellte sich neben mich, was auf mich so wirkte, als würde er mich vor seiner Familie beschützen. Wieso tat er das? Ich brauchte keinen Schutz. Aber trotzdem wich ich nicht zurück, denn er hatte sich gerade auf meine Seite geschlagen, gegen seine Familie, wieso auch immer, das sollte ich wertschätzen.
Victor nickte mir anerkennend zu. Wenigstens war er nicht wütend, weil er seinen Posten als Einziger Außenstehender, der nicht paralysiert werden konnte, aufgeben musste. Yves zählte nicht, immerhin war er Phoenix' Seelenspiegel. Ihr Zeitstopp hatte mich überzeugt. Auch wenn es schwer war, anscheinend gab es Menschen, die unnormale Kräfte hatten. Und ich gehörte zu ihnen.
Phoenix schien es allerdings nicht zu gefallen, denn sie kniff die Augen zusammen und wandte sich ab. Ihr Problem. "Das ist... beeindruckend. Vor allem, wenn man bedenkt, dass du bis jetzt noch nicht einmal wusstest, was du bist", bemerkte Xav.
Sie verschwendeten keinen Gedanken daran, dass ich sie vielleicht anlügen könnte. Tat ich auch nicht, aber ehrlich, wie naiv und gutgläubig waren sie denn? Will neben mir sah in mein Gesicht und las anscheinend irgendetwas daraus, denn er fing an zu grinsen. "Ich nicht, ich hatte von Anfang an gesagt, dass du eine Spionin bist!"
Fragend sah Karla ihn an, und er erklärte: "Ich konnte sehen, dass sie darüber nachgedacht hat, wieso wir ihr trauen. So sehen manche meiner Klienten auch aus, wenn sie mit irgendwem reden. Die, die schon so viel erlebt haben, dass sie niemandem mehr trauen, und denken, dass Andere ihnen auch nicht trauen sollten. Die sich über die Naivität ihrer Umgebung ärgern."
Ich ließ nicht zu, dass ich irgendeine Regung zeigte, die meine Gefühle verrieten, aber innerlich war ich noch immer nicht ganz darüber hinweg, dass Phoenix mich so einfach gefangen hatte. Wenn sie noch ein bisschen stärker gewesen wäre, hätte ich das nicht geschafft. Dann wäre ich paralysiert und schutzlos geblieben.
"Ich kann Gefühle sehen", erklärte Sky, "und wenn du uns angelogen hättest, hätte ich es gesehen."
Ich hob eine Augenbraue. Sie sah meine Gefühle? Ich unterdrückte alle Emotionen, ließ sie von mir abgleiten, wie Dreck, der von Wasser abgespühlt wird. Stellte mir vor, ich würde einen Startsprung ins Schwimmbecken machen, unter der Oberfläche dahin gleiten, bis ich die unberührte Oberfläche durchbrach und anfing zu kraulen. Es zählten keine Gefühle, nur Kraft, das kühle Nass und Ausdauer.
Sky rieb sich über die Schläfen. Sie blinzelte und Unverständnis zeichnete ihr Gesicht. "Was zur Hölle?", murmelte sie vor sich hin. "Wo sind deine Gefühle hin?!"
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Relieving Lake (Die Macht Der Seelen- FF)
Fanfiction|| "Du bist mir wichtiger als das meiste andere und ich liebe das. Du bist depressiv, und das gehört zu dir, zu der Person, in die ich mich verliebe. Ich werde niemals einfach gehen. Und es würde mich niemals zerstören, mit dir zusammen zu sein. Es...