Wir setzten uns an einen Tisch am Fenster.
Tina lehnte sich sofort zu mir rüber und fragte: "Wie war das Training bei Victor?"
Ich sah auf die stürmische Straße. Neben mir saß Zoë, Sky hatte sich neben Tina gesetzt und war damit mir gegenüber. Eine Bedienung kam und wir bestellten, Zoë einen Chai Latte, Sky einen Earl Grey, Tina einen Filterkaffee und ich einen Cappuccio, aber ich wies die Bedienung extra darauf hin, dass ich keinen Zucker in meinem Kaffee haben wollte.
"Ziemlich gut", antwortete ich erst dann. "Anstrengend, aber gut."
Tina verdrehte die Augen. "Genauer, wenn's geht. Zoë, Sky, Nelson und ich haben gewettet. Zoë meinte, Victor würde dich bis in den Tod Gewichte stämmen lassen, Sky hat vermutet, dass er dich als Frau gar nicht erst anfängt zu trainieren sondern irgendeinen FBI-Wissenschaftler dazu zwingt, eine Kopie von dir zu erstellen, die kämpfen kann, Nelson hat behauptet, er würde dich so gut trainieren, dass du am Ende selbst ihn besiegen könntest und ich habe darauf getippt, dass er dich trainieren will, aber es dir zu hart ist und du abbrichst."
Danke für dein Vertrauen in mich, Tina. Stumm musterte ich sie. Sie war groß, schlank und hübsch, hatte lange, braune Haare und ein blasses Gesicht, große, schwarze Augen und hatte manikürte Finger. Ihre Arme sahen noch weniger aus, als hätten sie je ein Gewicht auf nur angefasst, als Miras, und das wollte schon was heißen.
"Am ersten Tag waren es acht Klimmzüge und dann stundenlanges Taktiktraining, bis er meinte, ich solle ihn angreifen. Am zweiten Tag hat er mich als Erstes fünfzig Liegestütze machen lassen, hat mich währenddessen mit Bällen abgeworfen und mich geschubst, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dann haben wir gekämpft, und am Ende gab's wieder Taktik. Ihr habt alle Unrecht; er hat mich bis jetzt noch überhaupt keine Gewichte stämmen lassen, er trainiert mich, er würde mich niemals so trainieren, dass ich ihn besiegen könnte und ich werde sicher nicht aufgeben. Es macht Spaß."
Zoë sah mich ungläubig an. "Spaß? Tut mir leid, ich bin nicht wie Sky, ich stehe mehr auf Yves und nicht auf die bösen Jungs, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es Spaß machen könnte, von Victor trainiert zu werden!"
Ich zuckte die Schultern. "Es macht mir Spaß. Können wir bitte das Thema wechseln? Meine Energie wird nachher noch am Boxsack abverlangt, ich kann sie nicht jetzt schon aufgeben, indem ich über mein Training spreche."
Sky und Tina warfen sich verschwörerische Blicke zu. "Okay, dann eben ein anderes Thema. Es buchstabiert sich W-I-L-L."
Die Bedienung kam mit unseren Bestellungen und hielt mich davon ab, Sky und ihre Freundinnen zu erdrosseln. Wieso war ich immer das Opfer? "Was soll mit Will sein?", fragte ich scheinheilig.
Tina lachte. "Tu nicht so! Du und er, händchenhaltend, ihr beide sterbt fast vor Eifersucht, weil Will sich mit Mira und du dich mit Victor unterhältst? Sag nicht, da wäre nichts, wir haben euch im Café gesehen! Und außerdem müssen wir nochmal ernsthaft daran arbeiten, was du sagst, wenn dir ein Benedict seine Nummer anbietet. Das ist nicht irgendwer, das ist ein verdammter Benedict! So einen wollen alle!"
Ich trank einen vorsichtigen Schluck von meinem Kaffee und stellte erleichtert fest, dass er weder gezuckert noch mit anderen Süßstoffen vollgepumpt war. "Wir hatten beide einen freien Tag, uns war langweilig und da haben wir beschlossen, uns über euch lustig zu machen, während ihr vom Kanu fallt. Und seine Nummer habe ich ja jetzt sowieso. Wenn ich sie nicht bekommen und gewollt hätte, hätte ich eben Victor oder Trace oder Di fragen können."
Tina schnalzte missbilligend mit der Zunge. "Nein, nein, nein. Das interpretierst du völlig falsch. Will läuft nicht mal eben so mit irgendeinem Mädchen händchenhaltend in der Öffentlichkeit rum, glaub' mir. Da steckt mehr hinter, und da du offensichtlich voll in ihn verschossen bist, musst du ihn packen, bevor jemand Anderes es versucht. Und außerdem geht es nicht darum, dass du sie auch anders kriegen könntest, es geht ums Prinzip. Wenn ein heißer Typ, der noch dazu auf dich steht und einen süßen Charakter hat, deine Nummer will, sagst du nicht nein. Niemals."
Sie verstanden es nunmal nicht. Will wartete auf jemand Besonderes. Selbst wenn ich in der Beziehungsphase offensiver wäre, ich könnte ihn niemals 'packen', weil ich nicht dieses Mädchen war, auf das Will wartete. Ihn würde ich niemals haben können. Und wie er gesagt hatte, ich gehörte zur Familie. Die beste Freundin von Diamond, die Mitbewohnerin von Trace, von Victor trainiert, und außerdem ein Savant. Damit gehörte wahrscheinlich fast jeder zur Familie.
"Wie alt bist du, Lake?", fragte Sky plötzlich leise.
Verwirrt sah ich sie an. "25, wieso?"
"Woher kommst du?", fragte sie weiter. Ich verstand den Zusammenhang zwischen ihren Fragen und unserem derzeitigen Thema nicht wirklich, aber trotzdem antwortete ich: "Berlin."
Die nachdenkliche Miene auf Skys Gesicht verschwand und sie lächelte mich nur kurz an. "Wirst du die Thompson eigentlich anzeigen?"
Gott, wie schnell konnte man eigentlich von einem Thema zum anderen wechseln? "Kommt drauf an, ob mir was nicht passt, was sie macht. Aber sonst nicht, ich hab's nicht so mit dem Gericht."
Plötzlich klingelte Skys Handy. Sie nahm es aus ihrer Tasche, schaltete den Ton aus und sah, wer ihr eine Nachricht geschrieben hatte. "Das ist Will, der fragt, ob irgendjemand weiß, wo du bist, Lake", berichtete sie. "Er sagt, er könne dich nicht erreichen."
Ich nahm ihr das Handy ab und rief Will an. Es dauerte nicht lange, dann hob er ab. "Sky? Bist du das? Ich mache mir Sorgen um Lake, ich kann sie nicht erreichen...", hob er an, doch ich unterbrach ihn: "Hey, ich bin's. Was ist denn?"
Er atmete tief durch. "Hey. Meine Klientin, Kira, hat mich angezeigt, du wirst auch vors Gericht beordert, weil du angeblich mitschuldig warst. Aber nachdem die Nachricht eingetroffen ist, dass ich verhaftet werde, ist sie abgehauen, und ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Was ist mit deinem Handy?"
Meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Er war verhaftet worden, aber das Erste, woran er gedacht hatte, war meine Sicherheit gewesen. "Mein Handy ist kaputt. Aber eigentlich hat sie doch zuerst angegriffen?"
Tina fragte mit stummen Mundbewegungen, was los sei, aber ich ignorierte sie und konzentrierte mich auf Will und die Angst in meinem Magen. Angst um ihn. "Mein Wort steht gegen ihres, ihre Freunde hatten zu viel Schiss, um auszusagen. Deshalb musst du auch noch kommen. Lake, sag bloß nicht, dass sie zuerst angegriffen hat, dann sind sie erst recht hinter dir her. Sie hat dich nicht angezeigt, dir passiert nichts, und für mich ist das auch nicht so schlimm, ich sitze höchstens ein paar Monate."
"Will, bist du high? Mir ist es scheißegal, ob diese kleine Schlampe es dann auf mich absieht!", fauchte ich. Wie konnte er nur denken, dass ich ihn hinter Gitter ziehen ließ, nur um nicht selbst in Gefahr zu kommen? Und wie konnte er so etwas von mir verlangen?
Er seufzte. "Bitte, Lake. Ein paar Monate sind gar nichts, aber du könntest draufgehen, wenn sie dich angreift!"
Und das alles war gegründet auf lächerlichen Liebeskummer. "Ist mir egal. Ich werde dich erst noch besiegen, bevor ich abtrete. Wann ist die Verhandlung?"
Soviel dazu, dass ich dem Gericht lieber aus dem Weg gehen wollte. Aber für mich kam es nicht infrage, Will im Stich zu lassen, der nur wegen mir jetzt in dieser Klemme saß. Weil er sich für mich in und gegen seinen Job entschieden hatte. Jetzt war es egal, ob das aus familiärer Loyalität oder aus einem anderen Grund geschehen war, es zählte nur noch, dass ich ihn auch wieder rausholen würde.
"Kiras Vater hat eine Menge Geld dafür draufgedrückt, dass der Fall so schnell wie möglich vors Gericht kommt, schon Samstag. Lake, ich flehe dich an, tu's nicht."
"Vergiss es, Will. Und wenn die Schlampe mich angreift, fahr' ich sie mit Rica um. Wissen die Anderen schon Bescheid?"
"Nein, ich durfte nur einen Anruf tätigen, du musst es ihnen sagen. Bitte überleg es dir nochmal. Rica gehört ganz dir, die Schlüssel liegen Zuhause. Wir sehen uns Samstag."
"Pass auf dich auf", sagte ich gepresst und legte auf. Drei besorgte Blicke lagen auf mir, als ich mir verzweifelt durchs Haar fuhr. Will war im Knast. Wegen mir.
"Was ist?", fragte Tina ungeduldig.
"Will ist im Knast", murmelte ich tonlos. "Seine Klientin hat uns gestern angegriffen, und er hat mich verteidigt. Sie hat ihn angezeigt, Samstag ist die Verhandlung und er will nicht, dass ich für ihn aussage, weil er denkt, dass sie mich dafür angreifen wird."
Skys Augen weiteten sich entsetzt, Zoë murmelte etwas wie 'mein Beileid' aber Tina quickte aufgeregt. "Meine Fresse, der Typ steht nicht nur auf dich, der ist bis über beide Ohren in dich verliebt!"
Wütend funkelte ich sie an. "Der Typ sitzt im Gefängnis! Kannst du deine Verkupplungsversuche bitte für eine Sekunde zur Seite schieben?!"
Ich nahm Skys Handy, das ich auf den Tisch geworfen hatte, wieder in die Hand und sah mir den Chat durch, in dem die Anderen beunruhigt fragten, was los sei.
Zed: War vorhin an unserer Schule, ist mit Sky gegangen, ich hab ihr Handy, ist kaputt, wieso?
Crystal: Was ist los, Will?
Victor: Lake hat sowieso schon zu wenig Geld, wieso ist jetzt auch noch ihr Handy schrott?!
Diamond: Leute, sagt nachher Bescheid, ja? Ich muss mein Handy auf Stumm stellen, mein Vortrag kommt gleich.
Crystal: Viel Glück, Di!
Ich rief Victor an, da ich es ihm als Erstes sagen wollte. Er würde wissen, wie man es seiner Familie beibringen konnte. Während das Handy noch Verbindung suchte, stand ich auf, da ich es hasste, vor anderen Leuten zu telefonieren, und ging in eine leere Ecke.
"Sky? Ist Lake bei dir?", fragte Victor sofort, als er endlich abhob.
"Ich bin's", erwiderte ich.
"Was ist los?", fragte mein Trainer beunruhigt.
Ich lehnte mich gegen die Wand und starrte nach draußen. "Wills Klientin hat ihn angezeigt, er ist verhaftet. Die Verhandlung ist Samstag, ich muss aussagen, weil Kiras Wort gegen Wills steht, aber er möchte, dass ich gegen ihn aussage, weil er Angst hat, dass Kira mich angreifen könnte, wenn ich es nicht tue."
Kurz blieb Victor still. "Selbst wenn, du hast keine amerikanische Staatsbürgerschaft. Dein Wort wird nicht genug sein."
Victor und sein Optimismus. "Also denkst du, ich sollte gegen Will aussagen?", fragte ich leicht aggressiv.
"Nein. Auf keinen Fall, dann wäre er richtig am Arsch. Du musst für ihn aussagen, nur denke ich nicht, dass es genug bringt. Wo bist du?"
"Café mit Sky und zwei von deren Freundinnen, weil ihr mich heute Morgen ohne Vorwarnung auf die Pisten geschickt habt. Wieso? Und soll ich den Anderen sagen, was mit Will ist?"
"Noch nicht. Wir sagen es ihnen persönlich. Will hat recht, Kira wird dich angreifen, wenn du gegen sie aussagst, und wenn du dich wehrst, wirst du auf jeden Fall ziemliche Schwierigkeiten kriegen. In diesem Fall könnten wir dich auch nicht mehr verteidigen, aber sie würde gar nicht erst angreifen, wenn du in der Nähe von einem von uns bist. Ich bin hier gerade sowieso nicht mehr weitergekommen, ich hole dich ab."
"Du schlägst mir also vor, dass ich unter eine Rund-Um-Die-Uhr-Überwachung von euch bin gestellt werde?", fragte ich skeptisch.
"Das wird auch keinen großen Unterschied mehr machen. In der Nacht ist Trace in deiner Nähe, wir müssen nur aufpassen, dass er nicht vor die aus dem Haus geht. Einer von uns fährt dich zur Arbeit, wo du die ganze Zeit in Sauls Nähe bist, und danach hole ich dich sowieso ab, um mit dir zu trainieren, da kann ich dich auch gleich wieder zurückfahren, da ist Trace schon da. Und da du zu faul bist, um dir ein eigenes Fahrzeug zu kaufen, läuft es sowieso darauf hinaus, dass du einen von uns solange nervst, bis derjenige dich fährt. Warte da, ich bin in einer Viertelstunde da."
"Victor?"
"Hm?"
"Ich bin nicht zu faul, ich hab' nur nicht genug Geld, weil das meiste für den Umzug draufgegangen ist."
Er legte einfach auf, nachdem ich meinen Satz zuende gesprochen hatte, und ich ging zurück zu den Anderen, die geduldig warteten und gab Sky ihr Handy. "Victor holt mich gleich ab, ist das okay?", fragte ich abgelenkt.
Sky nickte. "Ja. Ich komme spät, ich gehe noch mit zu Zoë. Was hat Victor vorgeschlagen wegen Will?"
Ich trank meinen Kaffee mit einem langen Zug aus. "Er hat gesagt, ich solle für Will aussagen, auch wenn ihm das nicht wirklich viel bringen wird und mich dann von ihm und den Anderen unter eine 24/7 Überwachung stellen lassen, weil er nicht annimmt, dass Kira angreift, wenn einer von ihnen in der Nähe ist."
Tina hielt zum Glück ihre Klappe und redete nicht irgendetwas über Victor und mich, das mich jetzt dazu gebracht hätte, ihr eine reinzuhauen. Wie konnte es sein, dass ich solche Angst um Will hatte, obwohl ich ihn erst seit ein paar Tagen kannte? Das erste Mal mit ihm gesprochen hatte ich am Donnerstag an Traces Handy, am Sonntag hatte ich ihn getroffen, und jetzt, am Mittwoch, saß er wegen mir hinter Gittern und ich hatte Angst.
Ich hoffte nur, Victor hatte einen guten Plan, um die Freiheit seines Bruders wiederzuerlangen.
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Relieving Lake (Die Macht Der Seelen- FF)
Fanfiction|| "Du bist mir wichtiger als das meiste andere und ich liebe das. Du bist depressiv, und das gehört zu dir, zu der Person, in die ich mich verliebe. Ich werde niemals einfach gehen. Und es würde mich niemals zerstören, mit dir zusammen zu sein. Es...