Langsam öffnete ich die Handfläche und hielt ihm hin, was er verlangt hatte. Meine kleinen Kinderfinger zitterten vor Angst, als er mich mit seinen klobigen Händen packte und näher an sich zog, um meinen Eltern zu verdeutlichen, dass er mich umbringen würde, wenn ich ihm nicht das Verlangte überreichte.
"Na, Kleines, was hast du da für mich?", fragte er leise.
Mit dünner, schriller Stimme antwortete ich: "Die Droge, die Sie wollten!" Aus Erfahrung wusste ich, dass er eine Antwort haben wollte. Wenn ich ihm keine gegeben hätte, wäre das für mich sehr, sehr schlecht ausgegangen. Er sah mich gehässig an.
"Bist du dir auch sicher? Wie du weißt mag ich es nicht, enttäuscht zu werden, Püppchen", säuselte er drohend. Ich versuchte, tapfer zu sein. Wirklich. Aber langsam traten mir Tränen in die Augen, und ein Schluchzen schüttelte meinen Körper.
"Ist das echt, Puppe?", harkte er misstrauisch nach. Meine Eltern standen auf der anderen Seite des Raumes, meine Mutter musste meinen Vater zurückhalten, damit er nicht zu mir rüberkam um mich zu schützen.
"Ja", schluchzte ich, "ja, das ist echt."
Er nahm mir die weißen, unscheinbaren Tabletten aus der Hand und betrachtete sie im fahlen Licht. "Weißt du, so, wie du heulst, habe ich irgendwie Probleme damit, dir zu glauben."
Die Angst lähmte meinen Körper, meine Augen brannten vom Weinen und mein Kopf hämmerte von Kopfschmerzen, aber ich kämpfte erbittert darum, die Tränen zurückzuhalten. Plötzlich wurden meine Beine bleischwer und mein Körper drohte unter dem Gewicht dieser Situation zusammenzubrechen. Meine Tränen verflossen sich, mein Schluchzen erstarb.
"Ist das echt?", brüllte er mich an. Er musste mich glauben, ich musste mir jetzt selbst helfen. Meine Eltern konnten mir nicht helfen, sonst würde er mich umbringen. Obwohl ich sie nicht sehen konnte, war mir bewusst, dass im Halbdunkel um uns herum noch weitere Personen standen, die jederzeit kampfbereit waren.
"Ja" antwortete ich. Meine Stimme war immer noch gefährlich hoch, aber sie bebte nicht mehr so. Der Stolz auf mich selbst, dass ich es schaffte, meinen Körper ruhig zu halten, trotz der Angst, die meine Gedanken beherrschte, gab mir den letzten Ruck. Ich hob den Kopf und sagte so selbstbewusst, wie ich konnte: "Ja, das ist echt. Und lassen Sie mich jetzt gehen, Sie haben, was Sie wollten."
Der Mann stieß mich von sich weg und ich dachte, das alles wäre jetzt vorbei. Dass wir es überstanden hatten. Doch er zückte seine Pistole. Richtete die Mündung direkt auf mich.
"Was?", stammelte ich. "Nein! Wir haben Ihnen das Versprochene übergeben!"
Er lachte höhnisch. "Die letzte Lektion vor deinem Tod: Wenn du mit jemand Kriminellem verhandelst, glaube nie seinem Wort. Derjenige wird dich immer betrügen. Und jetzt sag Mami und Daddy Tschüss, oder willst du vor deinem Tod lieber noch was Anderes loswerden?"
Jetzt fingen meine Tränen wieder an zu fließen, meine Beine gaben unter mir nach und ich fiel zu Boden. Haltlos schluchzte ich, rollte mich zusammen und vergrub mein Gesicht auf meinen Knien.
"Wieso?", schluchzte ich. Ja, wieso ich? Gut, ich war nicht immer das brave Mutterkind gewesen, aber ich war erst acht. Ich hatte noch fast mein ganzes Leben vor mir. Wieso?
"Nein!", schrie meine Mutter. Der Mann entsicherte die Knarre, packte sie mit beiden Händen und legte den Zeigefinger an den Abzug. Ich versuchte, mich zusammenzureißen. Ich wollte die letzten Momente meines Lebens nicht weinend verbringen. Ich wollte tapfer sterben. Mühsam zwang ich mich, meine Augen zu öffnen, ihm ins spöttische Gesicht zu sehen. Nicht mit geschlossenen Augen sterben. Ich wollte die Welt bis zum Ende sehen können. Doch nicht unbedingt diesen Abschnitt meines Lebens.
Ich ging in Gedanken zurück. In den letzten Sommerurlaub. Mein Vater, meine Mutter und ich saßen auf Felsen draußen im Meer, ließen uns von der heißen italienischen Sonne bescheinen und lachten über etwas, das mein Vater aus seiner Kindheit erzählt hatte. Die Adria strömte mir warm um die Füße und ein allesumfassendes Glücksgefühl machte sich in mir breit.
Meine Tränen trockneten langsam, als würde die imaginäre Sonne sie verdunsten lassen. Ich rannte mit meiner Mutter über den Strand um die Wette, sie mit meiner Cola vorneraus, die sie während des Rennens trank, ich lachend und durstig hinterher.
Der Mann schoss. Ich sah, wie die Kugel auf mich zuflog, wie in Zeitlupe. Ich wich nicht aus. Ich hätte auch nicht genug Zeit gehabt. Aber ich ließ nicht zu, dass die Angst wiederkam. Ich blieb in meinen Gedanken in diesem Jahrhundersommer. Bevor ich erfahren hatte, in welche illegalen Machenschaften meine Familie verwickelt war. Damals war ich unbeschwert gewesen, einfach ein kleines Mädchen mit einem perfekten Leben.
Die Kugel näherte sich rasant meinem Kopf. Ich lächelte bei der Erinnerung daran, wie ich mit meinem Vater weit ins Meer rausgeschwommen war, hinter die Bojen, weil ich für Schwimmmeisterschaften trainierte. Etwas schob sich vor das Bild der sich nähernden Kugel. Da stand sie, meine Mutter, mit Tränen in den Augen sah sie mich an, kauerte sich vor mich auf den Boden und nahm mein Gesicht in beide Hände.
"Es tut mir so leid", murmelte sie. Sie strich mir die Haare aus dem Gesicht. "Ich liebe dich, Biber."
Mit großen Augen starrte ich sie an. Die Kugel traf ihren Hinterkopf, ihr Körper wurde auf mich geschleudert und schützte mich, bevor der Mann noch einmal schießen konnte. Entsetzen machte sich in mir breit, als ich ihre leblosen Augen vor meinen schweben sah. Ich konnte nicht begreifen, was eben geschehen war. Noch nicht.
Aber trotzdem, die Blutspur von ihrem Mund über ihr Kinn laufen zu sehen war unerträglich. Ich drehte mich weg. "Na, hat sich da jemand für dich geopfert, Puppe? Warte, ich hab's mir anders überlegt. Ich erschieße dich doch nicht. Es ist mehr Strafe, mit dem Gewissen aufzuwachsen, dass deine Mutter wegen dir tot ist. Man sieht sich", höhnte der Mann.
Ich hörte schwach, wie die Männer abzogen. Doch alle Hintergrundeindrücke verschwammen langsam. Jemand hob den schweren Körper meiner Mutter von mir. Mein Vater. Er fiel neben mir auf die Knie, seine leblose Gefährtin im Arm. Fassungslos starrte er sie an. Tränen rannen aus seinen Augen, er begriff viel schneller als ich, was soeben geschehen war.
Mein Gesicht war schon so nass, dass ich erst nicht bemerkte, dass die Tränen schon wieder liefen. Ich hatte heute schon so viel geweint. Mein Vater hob den Blick von dem Gesicht meiner Mutter. Als er den Kopf mir zuwandte, erwartete ich, darin Vorwurf, Abscheu oder Hass zu sehen. Doch stattdessen erblickte ich Liebe, unendlichen Kummer und Schmerz.
"Das war der schönste Tod, den eine Mutter sich wünschen kann", flüsterte er. "Anstelle des Kindes zu sterben."
Ich streckte schwach eine Hand aus. Nicht nach ihm, nicht nach irgendwem, das war einfach eine unbestimmte Hilfesuche. Meine Fingerkuppen streiften die erkaltende Haut meiner Mutter. Sie hätte nicht sterben sollen. Ich war bereit gewesen. Noch nicht fertig mit dem Leben, aber bereit, voller glücklicher Erinnerungen zu akzeptieren, dass mein Leben nicht mehr beinhalten sollte. Dass es jetzt, schon so knapp nach dem Anfang, wieder enden sollte.
Mein Vater nahm sanft meine Hand von meiner Mutter weg, umschloss sie mit seiner. Todtraurig blickte er mich an. "Sie wollte es so", wisperte er. "Du hast ihr einen Gefallen getan, indem du ihr die Möglichkeit gegeben hast, dich zu retten."
Mit einem Mal kam Leben in meinen erstarrten Körper. Ich kroch zu meinem Vater und presste mich an seine starke Brust. "Das ist nicht deine Schuld, hörst du?", flüsterte er in mein Haar. Etwas Nasses tropfte auf meinen Kopf. Seine Brust vibrierte.
"Gute Nacht, Tiger", hauchte er die letzten Worte zu meiner Mutter, bevor er mich auf den Arm nahm und langsam, schwerfällig aufstand. Ich blickte über seine Schulter zu meiner Mutter, aber durch den Tränenschleier konnte ich sie nur schwer erkennen.
"Ich liebe dich, Mama!", schrie ich, als er mich davon trug.
Meine Stimme wurde zu einem Wimmern, als ich wiederholte: "Ich liebe dich."
DU LIEST GERADE
Relieving Lake (Die Macht Der Seelen- FF)
Fanfic|| "Du bist mir wichtiger als das meiste andere und ich liebe das. Du bist depressiv, und das gehört zu dir, zu der Person, in die ich mich verliebe. Ich werde niemals einfach gehen. Und es würde mich niemals zerstören, mit dir zusammen zu sein. Es...