Der Tag verging schnell.
Will sprach mich nicht erneut auf Victor an und ich beachtete Mira nicht, aber ich behielt sie im Hinterkopf. Er hatte zwar behauptet, dass schon lange Schluss war, aber wieso hatte er sie dann so angelächelt? Skys Mannschaft gewann die Kanustaffel, was aber nicht wirklich ihr Verdienst war. Trotzdem freute ich mich für sie- auch wenn das eher geschah, weil ich Zed damit ärgern konnte, der verloren hatte.
Will zeigte mir den Rest des Sees, erzählte mir viel von seinem Leben hier und auch über die Menschen, die hier lebten. Nelsons Großmutter, Mrs Hoffmann, der Sky immer auswich, weil sie ihr nicht geheuer war, Skys Eltern, die Zed zwar gern hatten und Victor respektierten, mit dem Rest der Benedicts aber nichts zu tun haben wollten, Sian Green, der Professor, der seine Studenten nicht hatte ausstehen können und so weiter.
Die Sonne brannte mir die ganze Zeit auf die Haut und ich genoss es, in der Hitze am Wasser entlang zu schlendern, neben mir Will, der meine Hand die ganze Zeit hielt und kein einziges anderes Mädchen ansah.
Als wir den See umrundet hatten und uns auf den Rückweg zu Rica machten, kamen uns ein paar Jugendliche entgegen, zwei Mädchen und fünf Jungs. Als Will seinen Griff um meine Hand verfestigte, wusste ich, dass er- ähnlich wie Victor- schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht hatte. Scheinbar waren die Benedicts auf der einen Seite ziemlich beliebt und begehrt, aber auf der anderen Seite auch verhasst.
"Na, wen haben wir denn da?", spottete eines der Mädchen, deren Haare grün gefärbt waren. Sie hatte einen Nasenpiercing, das Tattoo eines Drachens zog sich quer über ihre linke Gesichtshälfte, sie trug Lederkluft und an den Händen Lederhandschuhe, die ihre Finger freiließen.
"Wenn das nicht Will Benedict ist", setzte einer der Jungs hinzu, dessen schwarze Haare ihm stachelig vom Kopf abstanden.
>Einfach nicht beachten<, wies Will mich in meinem Kopf an. Wieder leuchtete es, anders als bei Victor, wenn der mit mir sprach, als würde Will einen Jahrmarkt mit in meinen Kopf bringen.
Wir gingen ungerührt weiter auf die Gruppe zu, die sich direkt vor uns aufgebaut hatte und uns den Weg weiter versperrte.
"Wer ist das denn?", fragte ein anderer Junge frech und sah mich an.
Das Mädchen mit dem Tattoo lachte höhnisch. "Eine Benedict-Puppe. Na, wo hast du sie aufgegabelt, Will, im Puff?"
Mir machte es nichts aus, wenn sie über mich herzogen, aber dass sie das von Will dachten, machte mich wütend. So sollte niemand von ihm sprechen. Ich zwang ein süßliches Lächeln auf mein Gesicht und klimperte sie falsch an. "Immerhin würde ich es schaffen, in einen Puff zu kommen, dich würden sie direkt wieder abschieben!"
>Lass dich besser nicht provozieren, Lake. Wir wollen keinen Ärger, okay?<, warnte Will. Ob er einfach keine Lust auf eine Prügelei hatte, oder ob er dachte, die würden uns besiegen, wusste ich nicht, aber ich konnte so etwas nicht einfach auf mir sitzen lassen.
Das Drachenmädchen knurrte bösartig. "Die Kleine hält sich für schlagfertig. Lasst uns ihr zeigen, wie falsch sie gelegen hat."
Ein dritter Junge ließ die Finger knacken. "Ich kriege sie, du ihn."
Will packte meine Hand noch fester, als ich mich kampfbereit machen wollte und zog mich an sich. >Das ist meine Klientin, Lake. Ich kann nicht gegen sie kämpfen.<
Oh Scheiße. Hätte er das nicht sofort sagen können? Wenn ich mich vor seinen Augen mit ihnen prügeln würde, würde er sich entweder seinen Job verlieren oder gegen mich antreten müssen, und das wäre nicht aus Spaß, wie der Kampf, den wir vorhatten. Das wäre ernst. Dann hätte Victor recht und er wäre der Feind.
Ich riss mich von Will los und blockte den ersten Schlag des Typen ab, der es auf mich abgesehen hatte. Auch wenn es Wills Klientin war, ich war nicht bereit, mich verprügeln zu lassen. Dem Jungen gefiel es nicht, dass ich seinen Schlag mühelos blockte, und griff noch einmal an. Das Drachenmädchen kam auf Will zu und zog die Mundwinkel zu einem grausamen Lächeln hoch. Sie wusste genau, dass er nicht gegen sie würde kämpfen können.
"Es war die falsche Idee, mich abblitzen zu lassen, Will", höhnte sie. Aha. Also geschah das aus Liebeskummer. Ein zweiter Junge kam seinem Freund zuhilfe und hielt mir meine Hände auf dem Rücken fest. Ich konnte mich zwar wehren, aber sie von mir aus angreifen... Sein Job war Will wichtig. Und auf unerklärliche Weise war er mir wichtig.
Der Junge strich mir mit einem höhnischen Gesichtsausdruck über den Hals. "War wohl die falsche Entscheidung, dich mit Will einzulassen, nicht wahr, Kätzchen?", schnurrte er.
Will sah den Jungen voller Hass an, als dieser mir eine Hand auf die Wange legte. Er selbst wich den Schlägen seiner Klientin nur aus, wehrte sich sonst aber nicht. "Lass sie los, Arschloch!", knurrte er.
Der Junge streichelte mit dem Daumen über die Haut unter meinem Ohr, seine andere Hand befühlte meinen Arsch. "Du bist dem Benedict wichtig? Das ist interessant. Kira, die hier ist etwas Besonderes."
Das Drachenmädchen- Kira- drehte sich zu ihrem Freund um und schlenderte auf mich zu, Will ließ sie einfach stehen. "Kann ich ja nicht verstehen, die ist hässlich", schnaubte Kira, als sie mir nähertrat. Ich reckte das Kinn und sah sie herausfordernd an. "Ich bin kein Spiegel, Kira", entgegnete ich.
Sie holte zum Schlag aus, den ich nicht würde abblocken können, da die Jungs mich festhielten, doch dann packte Will ihren Ellenbogen und riss sie zurück. Ungläubig sahen Kira und ich ihn an. Wills Augen funkelten vor Wut, seine Haltung war kampfbereit. "Rühr sie an und du bist tot", fauchte er.
Er schubste seine Klientin aus dem Weg, verpasste einem der Jungen, die mich festhielten, einen Kinnhaken, dass er mich loslassen musste und sah den Anderen so drohend an, dass der mit erhobenen Händen zurückwich.
"Geht's dir gut?", murmelte er und strich mir über die Stelle, an der der Junge mich berührt hatte. Die Berührung war zärtlich, aber nicht zögerlich, nicht schüchtern. Will hatte gerade seine Klientin angegriffen, um mich zu schützen. Das konnte ihn seinen Job kosten.
"Glaub' mir, das wirst du bereuen", spuckte Kira aus. Ihr Gesicht war verzerrt, aber sie wusste, dass sie gegen Will nicht siegen könnte, und der hatte klargestellt, dass er mich verteidigen würde.
Will drehte ihr nicht einmal den Kopf zu. "Ich werde es sicher nicht bereuen, eure dreckigen Hände von ihr entfernt zu haben. Wenn einer von euch Lake nochmal zu nahe kommt, könnt ihr was erleben. Verstanden?"
Als niemand antwortete, hob er den Kopf und ließ seinen zornigen Blick über die Gruppe schweifen. "Verstanden?!", wiederholte er drohend.
Hektisch nickte der Stacheljunge. "Wir haben es verstanden, Will", antwortete er eingeschüchtert. Zufrieden nickte Will, nahm meine Hand und zog mich von der Gruppe weg. Ich schwieg, bis wir außer Hörweite waren, dann wirbelte ich zu ihm herum. "Was sollte das, verdammt?! Das kann dich deinen Job kosten!"
Will sah mich nicht an sondern richtete den Blick nach oben. "Familie steht über allem", antwortete er dann. Ich erwiderte darauf nichts und wir gingen schweigend weiter zu Rica. Er fuhr schneller als vorhin, als wolle er den See und die Gruppe hinter sich lassen- oder das, was er gerade getan hatte.
Victor wartete schon vor dem Revier und sah uns missmutig entgegen. "Zu spät", grüßte er, als ich von Rica stieg, Will meinen Helm gab und zu ihm ging. Will nahm seinen Helm ebenfalls ab, wartete aber an Rica und fixierte Victor.
Ich drehte mich kurz um, hob die Hand zum Abschied, wartete aber nicht, ob Will die Geste erwiderte und verschwand mit Victor drinnen. Der sah mich aus dem Augenwinkel an. "Erfahre ich heute noch, wieso Will mich mit Blicken töten wollte?", fragte er schließlich.
Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar und seufzte. "Er hat die hirnrissige Theorie entwickelt, ich könnte dich ertragen, weil wir etwas miteinander hätten."
Victor schnaubte. "Pass bitte auf, dass ich von deinen Spielchen nicht in Mitleidenschaft gezogen werde, ja?"
Ich beschloss, die Vorfälle fürs Erste vergessen und erwiderte spitzbübisch: "Du hättest jetzt fragen müssen, ob wir denn etwas miteinander haben!"
Er warf mir einen kurzen Blick zu. "Hattest du nicht gesagt, du würdest mehr auf Will stehen?!"
Ich verdrehte die Augen. "Dein Humor ist entweder echt schlecht oder nicht existent."
"Stell einfach klar, dass ich niemals etwas mit dir haben würde, kapiert?"
Ich tat so, als würde ich schmollen, was ihn aber nicht zu interessieren schien. "Sehe ich dem Herren etwa nicht gut genug aus?", frotzelte ich, als würde ich das nicht genau wissen.
Doch Victor entgegnete zu meiner Überraschung: "Wir wissen beide, dass du heiß bist. Aber ich warte lieber auf meinen Seelenspiegel, danke. Und der bist du nicht. Wie alt bist du noch gleich? Fünf?"
Ich beschloss, diese Frage zu missachten und ihm keine Antwort zu geben. Er wollte sowieso keine. "Du wolltest mir noch sagen, was Will im Schlaf so über mich redet", erinnerte ich ihn, als wir den Trainingsraum erreichten. Er schob die Tür auf und ließ mich an ihm vorbei.
"Informationen gegen Anstrengung. Mach fünfzig Liegestüzte, dann erzähle ich dir etwas."
Missmutig ließ ich mich nach vorne fallen, fing mich mit den Armen ab und ließ mich runter. "Du hast keine Sportsachen mit? Hatte ich nicht gesagt, du sollest welche mitbringen, weil du gestunken hast?", fragte Victor gereizt.
"Ich hatte keine Zeit, okay? Wir wurden aufgehalten, da waren wir schon zu spät und da ich wusste, dass du ständig Scheißlaune hast, dachte ich mir, ich beeile mich lieber. Wäre es dir lieber, wenn ich noch später gekommen wäre?!"
Victor fing an, mich mit Bällen zu bewerfen. Ob das zum Training gehörte oder es ihm einfach Spaß machte, wusste ich nicht, aber wie erwachsen Victor auch immer tat, ich würde auf Letzteres tippen. Ein Ball traf mich am Kopf, aber ich wollte ihm nicht den Gefallen tun und mich irritieren lassen, sondern drückte mich weiter hoch und runter.
"Von wem wurdet ihr aufgehalten?", fragte er und zielte mit einem Ball auf meine Schulter. Genervt ließ ich mich schneller runter, sodass sein Ball über mich hinwegflog, aber dafür war es umso anstrengender, wieder hochzukommen.
"Wills Klientin, der er das Herz gebrochen hat, hat genervt. Macht dir das Spaß? Mich nervt es nämlich, okay, hör auf, ich hab' zugegeben, dass es mich nervt!"
Er ließ sich nicht davon abbringen und ein Ball traf mich mit voller Wucht an der linken Wange. Ich funkelte ihn angepisst an, was ihn dazu veranlasste, mir einen weiteren Ball mitten ins Gesicht zu werfen. "Und wie seid ihr da rausgekommen? Hast du sie weggeekelt oder haben sie euch gehen lassen?", fragte Victor boshaft.
Ich lächelte ihn zuckersüß an und wich mit einer Positionsänderung dem nächsten Geschoss aus. "Du wolltest mir was erzählen, nicht ich dir. Außerdem warst du derjenige, der behauptet hat, ich würde ihn nicht interessieren. Wenn du mir erzählst, wie es beim FBI läuft, an welchem Fall du dran bist und so weiter, erzähle ich dir, was passiert ist."
Victor hatte alle seine Bälle verworfen, war sich aber zu gut, um sie wiederzuholen. Stattdessen kniete er sich vor mich auf den Boden und schlug gegen meine Arme. Ich musste mich anstrengen, das Gleichgewicht zu halten, und da ging mir auf, dass er das keineswegs aus Spaß machte. Das gehörte zum Training. Ich musste mit Hindernissen rechnen, durfte mich aber nicht von meinem Ziel abbringen lassen.
"Will hat deinen Namen gerufen, und mich damit gestört, weil ich das Zimmer neben ihm habe. Dabei hat er sein Kissen umarmt, jedenfalls, als ich reingekommen bin. Lake, verdammt, richtig runter!"
Genervt winkelte ich meine Ellenbogen noch weiter an und streifte mit meiner Nase den Boden. Ich konnte Liegestützte, aber während er erzählt hatte, hatte ich lieber zugehört. Wahrscheinlich war das auch nur Ablenkung. 45 hatte ich schon geschafft. Nur noch fünf. Victor trat mir leicht gegen die Rippen, was mich fast zum Umkippen brachte, aber ich schaffte es, mein Bein umzustellen und das Gleichgewicht zu halten.
"Wie war der Kaffee?", fragte er plötzlich. Ich würde Trace umbringen. Er hatte es tatsächlich jedem erzählt, nur, damit mich alle damit aufzogen. 50. Meine Arme brannten, als ich endlich aufstand und einmal schwer durchatmete. Dann antwortete ich: "Süß. Ich will aber wirklich wissen, wie es beim FBI so läuft."
"Da bin ich mir sicher, wirst du aber nicht. Vielleicht erzähle ich dir was, wenn du dafür sorgst, dass den Anderen klar wird, dass ich dich lediglich trainiere."
Ich würde sowieso dafür sorgen, also war es gut, dass ich dafür noch etwas bekam. Ich mochte Victor, aber ich stand eindeutig auf Will, nicht auf ihn. Dieser Sardismus war für einen Trainer oder einen Kumpel okay, aber nicht für jemanden, in den ich mich verlieben könnte.
Fragend sah ich mich um. "Was steht heute an?"
>Du wolltest, dass ich dir mehr über Savants beibringe<, tauchte seine Stimme in meinem Kopf auf. Nichts erwärmte sich in mir. Langsam wurde es merkwürdig, dass Will so eine andere Wirkung auf mich hatte. >Antworte mir<, befahl Victor.
Würde ich ja, aber wie? Hilflos stellte ich mir meine Stimme vor, die antwortete: >Es würde mehr bringen, wenn du mir erklären würdest, wie es funktioniert.<
>Geht doch. Das geschieht automatisch, Sky konnte es auch einfach von jetzt auf gleich. Schwieriger war es, ihr beizubringen, wie man die Gabe freischaltet, allerdings ist deine ja frei, wir wissen nur nicht, was es ist. Ich könnte es herausfinden, wenn du mich in deinen Kopf lässt.<
Ich machte ein entsetztes Gesicht. >Sicher nicht. Erstens ist mir schleierhaft, wie das gehen sollte, und zweitens bin ich nicht lebensmüde.<
Eigentlich schon, aber das würde ich ihm nicht sagen. Und wenn ich ihn in meinen Kopf lassen würde, würde er sicherlich herausfinden, dass ich exakt das war; lebensmüde. Immer noch. Ich war jetzt seit einer Woche hier, eine Woche von zwölf Monaten. Es konnte sich noch ändern, ich könnte die Depressionen noch in ihre Schranken weisen. Durch hartes Training.
Plötzlich fühlte ich einen Schlag, aber niemand war in der Nähe, der mich hätte schlagen können. Er war auf meine Schläfe platziert worden, kräftig und gut getroffen. Ein weiterer setzte nach. Ich sah mich um, aber hier war niemand, der mich schlagen könnte. Und mir tat auch außen nichts weh, aber ich spürte Hiebe und hatte Kopfschmerzen. Dann wurde mir klar, dass das Victor war, der meinen Kopf angriff. Ich wusste nicht, wie ich ihn abwehren konnte, ich wusste nicht, was ich überhaupt tun konnte. Aber ich konnte auch nicht einfach zulassen, dass er Kontrolle übernahm.
Ich stellte mir vor, mein Kopf würde von einer dicken, festen, unzerstörbaren Mauer umzogen. Der Boden bestand aus Stein, die Mauer hatte keine Lücken, sie besaß ein festes Dach. Ein Schauer überlief mich, als die Mauer sich schloss. Die Kopfschmerzen hörten auf, ich fühlte keine Schläge mehr.
Vielleicht hatte ich meine Abwehr gerade auch komplett niedergetrampelt, das wäre mein Untergang, aber ich hatte nicht einfach nichts tun können. Victor blinzelte lediglich. "Jetzt weißt du, wie du deine Mauer aufbauen kannst, wenn du die Abwehr fallen lassen willst, stell dir einfach das Gegenteil vor. Und ich halte es für sinnvoll, wenn du mich gucken lässt, weil wir dann unerwünschte Zusammenstöße mit deiner Gabe vermeiden."
Ich schüttelte unnachgiebig den Kopf. "Als ich sagte, ich hätte nichts gegen dich, meinte ich nicht, dass ich dir uneingeschränkten Zugriff auf meine Gedanken und meinen Kopf überlasse und dir die es dir ermögliche, mich zu kontrollieren."
Victor zuckte die Schultern. "Dann kann ich dir nicht helfen, tut mir leid."
Ungläubig starrte ich ihn an. War das sein verfickter Ernst? "Du willst also, dass ich dir anhaltslos vertraue, damit ich mehr über dieses Savant-Ding herausfinden kann, was du mir theoretisch auch so sagen könntest?"
"Ja, so ungefähr. Mit der kleinen Ausnahme, dass du einen Anhaltspunkt hast; wenn ich in deinem Kopf bin, ist meine Abwehr so undicht, dass jemand, der einen derartig mächtigen Geist hat wie du, auch in meinen Kopf eindringen könnte. Insofern ist es für mich genauso riskant wie für dich."
Ich lachte höhnisch. "Ja, klar. Weil ich auch genau weiß, wie ich dich angreifen kann. Für dich entbirgt diese Idee kein einziges Risiko, du willst dich nur einschmeicheln, weil du, wenn ich mich darauf einlasse, alles hast, was du bräuchtest, wenn du dich gegen mich wendest. Du kennst meine Gedanken, du weißt alles über mich, du kannst mich kontrollieren und hast wahrscheinlich auch noch Zugang zu meinen Gaben."
Er unterbrach mich mit einer schnellen Handbewegung. "Erstens weiß ich nicht alles über dich, weil du es merken würdest, wenn ich auf Gedanken oder Erinnerungen zugreifen will, von denen du nicht willst, dass ich sie sehe und ich denke, dein Kopf würde mich von selbst rauswerfen. Zweitens habe ich keine Ahnung, ob du nicht in meinen Kopf kommen könntest, du hast auch diese Abwehr, ohne dass jemand es dir beigebracht hat, drittens übersteigt es meine Macht bei Weitem, dich dauerhaft zu kontrollieren und viertens kann ich ebenso wenig die Gaben anderer kopieren. Verstanden?!"
Ich holte Luft, um etwas Schlagfertiges zu erwidern, aber dann wurde mir klar, was er da eben gesagt hatte. Zischend stieß ich die Luft zwischen meinen Zähnen hindurch wieder aus. "Interessant, dass du nicht gesagt hast, du würdest nicht auf meine Geheimnisse zugreifen, selbst wenn du könntest", überlegte ich schließlich laut.
"Würde ich", erwiderte er emotionslos. Natürlich würde er das. Aber dass er es einfach so zugab... Ich glaubte nicht, dass er diesen Gefallen jedem zukommen ließ. Wie schon vorher festgestellt war Victor ein manipulatives Arschloch, der gerne Triümphe in der Hand hatte, die er auch ohne Schuldgefühle ausspielte und er hasste es zu verlieren. Es hätte ihn nicht gestört, mich von vorne bis hinten zu belügen, um das zu erreichen, was er wollte. Aber er hatte zugegeben, dass er mich sofort ausspionieren würde, wenn er könnte.
"Vertrauenderweckend", spöttelte ich. "Weißt du, dass mich das friedlicher stimmt oder hast du es aus einem anderen Grund zugegeben?"
"Jetzt weiß ich's."
Ich hob einen der Bälle auf und warf ihn nach ihm. Victor wich mit einer schnellen Bewegung aus und der Ball flog gegen eine Wand. Immerhin hätte ich getroffen, wenn mein Trainer sich nicht bewegt hätte.
"Es würde mich noch friedlicher stimmen, wenn du einmal in deinem verdammten Leben verständliche, klare und eindeutige Antworten geben könntest", lockte ich mit einem falschen Lächeln.
Er hob eine Augenbraue. "Mein verdammtes Leben ist für mich wesentlich lebenswerter, wenn ich keine verständlichen, klaren und eindeutigen Antworten gebe."
"Also? Wusstest du es?", harkte ich nach.
"Du nervst", erwiderte er offen.
Ich grinste spöttisch. "Vielleicht würde ich dich nicht mehr so sehr nerven, wenn du mir VERDAMMT NOCHMAL antworten würdest."
Den zweiten Ball, den ich nach ihm warf, fing er mit der linken Hand aus der Luft. "Du wirst einfach munter weiternerven, und gerade ist es gut, etwas gegen dich in der Hand zu haben, nicht wahr?"
Ob sich das auf den Ball bezog oder auf die Antworten, die ich wollte, erwähnte er nicht. Irgendwann würde ich ihm das alles heimzahlen. Ich würde einen Weg finden, ihn genauso auf die Palme zu bringen und dann schön nach meiner Pfeife tanzen lassen. Aber fürs Erste brauchte ich meine Antworten.
"Will hat die Gruppe aufgehalten, bevor sie mich verletzen oder weiter anfassen konnten", erklärte ich in Erinnerung an seine vorherige Frage. Victor zeigte nicht, ob er überrascht, enttäuscht oder sonst was war.
"Ich hatte vermutet, dass es dich friedlicher stimmt, aber ich habe es auch gesagt, weil du mir alles andere sowieso nicht geglaubt hättest. Und ich habe dich nicht angelogen, also würdest du mich jetzt bitte in deinen Kopf lassen, damit wir heute noch irgendetwas schaffen?"
Missmutig schloss ich die Augen und ließ erst alle Gefühle von mir abgleiten. Dann stellte ich mir vor, wie die Mauer Ritzen bekam, Licht drang hindurch und durchflutete den Raum, in dem ich mich aufhielt. Die Decke fiel zusammen, die schweren Steine fielen um mich herum zu Boden, die Vibration trieb weitere Lücken in die Wände. Mehr und mehr Licht befand sich um mich herum, dann waren die Mauern auf einmal weg und ich befand mich auf einer Steinfläche im Licht. Etwas Dunkles verdunkelte den hellen Himmel, aber das war nicht meine Mauer, das war Victor.
Schwärze umhüllte mich und ich fühlte, wie er in meinen Gedanken herumstrich, auf der Suche nach meiner Gabe. Er ging an Erinnerungen vorbei, bis er bei einem Abschnitt ankam, an den er heran wollte.
>Nein<, befahl ich eiskalt. Das waren meine Depressionen, diesen Abschnitt durfte er keinesfalls sehen. Victor ging nicht sofort sondern sammelte sich dort, wollte herausfinden, an was er nicht durfte. >Nein<, wiederholte ich, doch ihn interessierte das nicht.
Vor meinen geschlossenen Augen sah ich noch immer die schwarzen Waben, die seinen Geist darstellten, der sich zusammenballte, um anzugreifen. Ich sah eine Lücke in diesen Waben, sah ein Loch, durch das Licht schien. Mit dem Gewissen, dass ich damit meine Stellung aufgeben und ihm Zugang gewähren würde, aber auch im Bewusstsein, dass das meine einzige Chance sein könnte, ihn abzuwehren, stellte ich mir vor, ich würde durch dieses Loch gelangen.
In einer schwarzen Röhre, überall von angriffslustigen Waben umgeben, kämpfte ich mich weiter voran, bis das Licht am Ende sich vergrößerte und ich ins Licht fiel. Erstaunt sah ich mich um. Hier war alles ordentlich. Unterteilt in Brauchbares, wo Wissen, Taktik und Strategie lagerten, und in Hinderliches, wo ich Gefühle, Menschen und anderes Wissen sah.
>Lake, lass es sofort<, befahl Victor.
Ich ignorierte ihn und sah mich weiter um. Mich interessierte Brauchbares am Meisten, aber trotzdem schlug ich den Weg in Richtung Hinderliches ein. Dort, wo Victor seine Schwächen, Gefühle und Erfahrungen verbarg, die er abschieben wollte.
>Lake, ich warne dich, wenn du weiter gehst übernehme ich die Kontrolle über dich<, sagte Victor nachdrücklich.
Ich lachte. >Ich habe dir gesagt, du sollst dich von diesen Gedanken und Erinnerungen fernhalten. Und außerdem kannst du keine Kontrolle über mich haben, solange ich gar nicht da bin. Selbst wenn du meinen Körper befehligen würdest, dann wärst du genauso weg aus deinem wie ich aus meinem, und damit hättest du keine Chance, mich davon abzuhalten, mir hier in Ruhe alles anzusehen, was ich will. Das wirst du nicht. Also hast du momentan nichts gegen mich in der Hand.<
Ich sah, wie ein Gefühl sich aus Hinderliches hinaus bewegte. Es war Wut, die von Victor Besitz ergriff. Panik nicht, die hatte er gut verborgen, und ich glaubte auch nicht, dass diese Wut speziell auf mich gerichtet war. Auch nicht auf sich selbst, obwohl er mich unterschätzt hatte, aber das wäre zu untypisch für Victor. Eher auf Trace, der mich aufgenommen hatte und ihm das hier damit einbrockte.
Ich kam bei Hinderliches an.
>Was willst du, Lake?<, knurrte Victor, der scheinbar eingesehen hatte, dass er wirklich nichts hatte, um mich zu erpressen.
Kurz bevor ich in seine Gefühle eintauchte, die er so erbittert zu verbergen suchte, stoppte ich. >Ich müsste nichts wollen, ich könnte auch einfach alles durchsuchen. Und du könntest mich nicht wirklich dafür bestrafen, weil ich dann ziemlich viel über dich wüsste, was ich herausposaunen könnte. Das willst du sicher nicht.<
Jetzt war da eindeutig auch Wut auf mich. >Du wirst das aber nicht tun. Sonst hättest du längst alles durchsucht. Was willst du?<
Es war ziemlich verlockend, wirklich seinen ganzen Geist zu durchsuchen. So viel Erfahrung, so viel Wissen, das alles könnte ich mir aneignen, nur durch einen kurzen Blick. Aber obwohl ich nicht nett war, gerne etwas gegen andere in der Hand hatte und mir das das Leben retten könnte, tat ich es nicht. Vielleicht, weil ich Loyalität gegenüber meinem Trainer spürte, vielleicht, weil ich ihn mochte, vielleicht, weil ich es mir mit Victor doch nicht versalzen wollte. Ich kannte ihn erst seit Sonntag, und doch war mir bewusst, dass Victor immer einen Ausweg fand. Er würde mir nicht die komplette Kontrolle überlassen, er hatte einen Joker, etwas in der Rückhand, das mir gefährlich werden könnte, und in diesem Fall wollte ich ihn keinesfalls als Feind haben.
>Halt' dich gefälligst von den Gedanken und Erinnerungen fern, die ich dir verbiete, kapiert? Und wehe, du versuchst, mich zu kontrollieren. Haben wir uns verstanden?<
>Ja. Und jetzt verschwinde aus meinem Kopf<, bestätigte er.
>Ich wusste, wir verstehen uns! Das ist ja süß von dir, dass du dich extra von meinen Gedanken fernhältst!<, spottete ich, als ich mich aus den Waben, die seinen Geist darstellten, zurückzog. Kurz sah es so aus, als wollte Victor dennoch angreifen, aber dann zog er weiter.
Ich kontrollierte seine Bewegungen, ließ ihn ansonsten aber in Ruhe. Immer, wenn er spürte, dass ich mich dagegen wehrte, dass er auf Gedanken zugriff, zog er sich augenblicklich zurück. Es dauerte ewig, bis er etwas fand. Er durchkämmte aber auch mein ganzes Gehirn.
>Ich hab's<, sagte er plötzlich. >Ich glaube, ich habe den Teil mit deiner Savantabstammung gefunden, Lake.<
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Relieving Lake (Die Macht Der Seelen- FF)
Hayran Kurgu|| "Du bist mir wichtiger als das meiste andere und ich liebe das. Du bist depressiv, und das gehört zu dir, zu der Person, in die ich mich verliebe. Ich werde niemals einfach gehen. Und es würde mich niemals zerstören, mit dir zusammen zu sein. Es...