Kapitel 20)

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>Wo?<, fragte ich augenblicklich. Ich folgte der Verdichtung der Waben, bis ich zu einem Abschnitt meines Bewusstseins kam, von dessen Existenz ich bis jetzt nichts gewusst hatte. Für mich sah es allerdings aus wie jede andere Kindheitserinnerung.
>Wieso glaubst du, das wäre was Besonderes?<, fragte ich neugierig, während ich mich ihm näherte. Victor wich mir aus, sodass ich keine Chance hätte, wieder in seinen Geist einzudringen, selbst wenn ich wollte. Was ich nicht tat.
>Glaub mir, ich weiß es. Allerdings müsstest du mir Zugang gestatten, bevor ich Näheres herausfinden kann.< Seine Stimme hatte einen leicht sarkastischen Unterton, der mir sagte, dass er noch immer ein bisschen sauer war, weil ich nicht zugelassen hatte, dass er das erfuhr, was er wissen wollte. Selbst schuld.
>Warte kurz, ich will erst wissen, ob ich dich daran lasse<, behauptete ich, eigentlich nur, um ihn zu provozieren.
Victor gab ein drohendes Geräusch von sich, aber er wehrte sich nicht, als ich ihn beiseite drängte und auf die Erinnerung zugriff. Irgendwie war es cool, ihn so in der Hand zu haben. Zwar würde das nicht mehr lange dauern, sobald wir aus meinem Geist raus und wieder in der realen Welt waren, würde er mich dafür bezahlen lassen, aber momentan hatte ich die Macht. Daran könnte ich mich glatt gewöhnen.
Sobald ich sicher war, dass Victor weit genug entfernt war, dass er nicht sehen konnte, was ich gleich sehen würde, tauchte ich in die Erinnerung ein. Ein Junge stand vor mir, der Größe nach waren wir in der 3. Klasse. Ich wollte mit Fußball spielen, aber die Jungs ließen mich nicht.
"Geh zu den anderen Mädchen und spiel mit denen Puppie", wies der Junge mich an. Er hieß Dexter, wenn mich meine Erinnerungen nicht trogen.
"Geh du doch zu den anderen Mädchen!", erwiderte ich aufgebracht. Meine kleinen Hände waren zu Fäusten geballt.
Die anderen Jungs lachten mich aus. "Wir spielen nicht mit Mädchen", sagte einer und zog das Wort Mädchen lang, als wäre es etwas Ekeliges.
"Das ist aber schade für euch", erwiderte ich kühl. Gerade war ich richtig stolz auf mein kleines Ich, das sich schon damals nicht hatte einschüchtern lassen. Noch sah ich keinen Grund für Victors Annahme, hier könne er etwas finden, das auf meine Gabe hinwies, aber ich sah weiter zu.
Der Junge packte meinen Hinterkopf und zog meine Haare nach unten. "Mädchen gehören nicht auf den Fußballplatz", behauptete er. Ich schlug nach ihm und erwischte sein Gesicht. Er ließ meine Haare abrupt los. Tränen stiegen in seine Augen, sein Gesicht wurde rot.
Ich lachte ihn höhnisch aus. "Du gehörst auch nicht auf den Fußballplatz, du Heulsuse. Wenn du flennen willst, geh zu deiner Mami. Wenn du hierbleibst, hörst du auf und benimmst dich!"
Die anderen Jungen sahen mich erschrocken an, doch sie hatten auch ohne ihren Anführer noch genug Mut, um sich mir in den Weg zu stellen, als ich zum Ball wollte. "Das ist nichts für dich, Lake", sagte ein anderer kleiner Macker.
Ich funkelte ihn wütend an. "Sag das nochmal und wir werden herausfinden, ob das Krankenhaus etwas für dich ist!"
Ich war mir ziemlich sicher, dass die kleinen Scheißer sich in die Hose machen würden, wenn sie nicht so viele wären. Vor ihren Freunden konnten sie nicht aufgeben. "Das ist nichts für dich, Lake", wiederholte der Schmarotzer.
Und ich schlug zu. Immerhin hatte ich ihn gewarnt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ich meine Drohung wahr machen würde, und außerdem war er ein kleines Kind, er war nicht alt genug, um sich zu wehren, und ich war echt ein ziemlicher Schlägertyp gewesen.
Blut lief aus seiner Nase und Tränen vermischten sich damit. "Kann ich mit Fußball spielen?", fragte ich süßlich.
>Und? Darf ich Majestäts Erinnerungen sehen?<, fragte Victor ungeduldig und riss mich damit grob aus den Gedanken.
>Ja, darfst du. Und hör auf zu zicken, Victor.<
Ich wusset, dass er sich am Riemen reißen musste, um darauf nichts Patziges zu antworten. Ich trieb den disziplinierten Agent an den Rand seiner Selbstbeherrschung. Und ich war ziemlich stolz drauf. Plötzlich setzten die Kopfschmerzen wieder ein, als er unsanft in die Erinnerung eindrang. Wahrscheinlich versuchte er, mir absichtlich wehzutun, um es mir heimzuzahlen, dass ich ihn verspottete.
Ich wartete stumm, während er sich die Erinnerung ansah. Die Jungs hatten mich am Ende doch mitspielen lassen, und ich hatte sie alle in den Wahnsinn gedribbelt, meine Mannschaft hatte haushoch gewonnen. Danach waren sie mir nie wieder so gekommen. In der 6. Klasse hatte ich zwar mit einigen Jungs ständigen Streit gehabt, weil diese behauptet hatten, Mädchen könnten nur shoppen und würden in die Küche gehören, aber das war anders gewesen. Damals hatte ich meinen Respekt schon gehabt, ich war seit Jahren Klassensprecherin, in diesem Jahr war ich Schulsprecherin gewesen und hatte ziemlich viel Macht gehabt. Sie hatten diese Scheiße von sich gegeben, um mich zu provozieren, nicht, weil sie es wirklich glaubten.
>Hast du sie gefunden?<, fragte ich sofort, als Victor sich aus meinen Erinnerungen zurückzog. Er antwortete erst nicht, strich weiter um meine Gedanken herum. Ich behielt ihn argwöhnisch im Auge, als er sich den Gedanken näherte, die ich ihm vorhin verweigert hatte. >Jetzt habe ich etwas gegen dich in der Hand, Lake<, sagte er schließlich. >Und ich würde wirklich gerne wissen, was ich da auf gar keinen Fall wissen darf.<
Sein Geist näherte sich dem Abschnitt weiter. Die schwarzen Waben ballten sich erneut zusammen. >Vielleicht ist es mir ja egal, ob ich erfahre, was meine Gabe ist<, sinnierte ich.
>Dann werde ich Trace, Will, Di und den Anderen erzählen, dass sie dich nur ertragen, weil deine Gabe ist, deine Art auf Menschen zu übertragen. Das wäre doch echt schade, nicht wahr?<
Wut flammte in mir auf. Hätte ich ihn doch bloß nie in meinen Geist gelassen. >Was willst du, Victor?<, knurrte ich.
Ich hasste es abgrundtief, erpresst zu werden- obwohl ich ihm etwa das Gleiche angetan hatte. Erpressungen erinnerten mich immer an den Tod meiner Mutter- solange ich es nicht selbst war, die erpresste.
>Woher willst du wissen, dass ich etwas will- abgesehen von Zugriff auf diese Gedanken?< Er spielte genau das gleiche Spiel wie zuvor. Seine Art, es mir heimzuzahlen, bestand nicht darin, mich zu verletzen, sondern mich in die gleiche Situation zu bringen.
>Wie war das doch gleich? Ich weiß es, weil du sonst schon alles durchsucht hättest? Komm schon, ich habe keine Lust auf deine Spielchen, sag einfach, was du willst.<
Die Schwärze waberte um die Erinnerung herum, schloss sie ein und mich aus. Jetzt hatte er die Oberhand. Er könnte jederzeit angreifen, und ich würde mich diesmal nicht wehren können, bevor er sich Zugang verschafft und alles gesehen hatte.
>Ich weiß es momentan tatsächlich nicht. Aber mir wird etwas einfallen. Und was auch immer ich dann verlange, du wirst es ohne Widerrede, ohne Auswege und ohne Verweigerung tun, kapiert? Sonst könnte es sein, dass du deine Geheimnisse ganz schnell los bist.<
Wäre ich momentan im Stande, meinen Körper zu bewegen, würde ich mit den Zähnen knirschen. Da ich mich aber in meinem Geist befand, ohne direkten Zugriff auf mein physisches Ich, konnte ich ihm nur einen Impuls aus Wut schicken. Auch etwas, das wie von selbst geschah.
>Kapiert. Und jetzt geh da weg. Und sag mir, was du gefunden hast.<
>Draußen. Sonst könnte es passieren, dass ich dem Wunsch verfalle, mir doch noch etwas anzusehen, dass du lieber für dich behalten willst. Oder Trace und Di und Will gegenüber nebenbei fallen lasse, dass du ziemlich viele Geheimnisse hast, für die du alles tun würdest. Weißt du, wie du aus deinem Kopf rauskommst?<
>Ich denke, indem ich dem Wunsch verfalle, dir eine reinzuhauen<, vermutete ich sarkastisch. Seine schwarzen Waben zogen sich zurück, und langsam durchflutete wieder Licht die Steinfläche, auf der ich mich noch immer befand. Gleißend helles Licht, das mich für einen Moment blendete, bevor ich mit dem Wiederaufbau der Mauern begann. Ich stellte mir vor, die Steine würden in Zeitraffer aufgeschichtet werden, wuchsen immer weiter in die Höhe, noch stärker als zuvor. Dann formten sie sich nach innen, zu einem mächtigen Dach, das das Licht verbannte. Und schließlich schlossen sich die Mauern und wieder versank ich in Finsternis, aber diese war mir wesentlich willkommener als die Schwärze Victors Geistes. Und ich klammerte mich wirklich an den Wunsch, Victor meine Faust in den Magen zu rammen, als ich mich aus meinem Kopf mehr und mehr wieder in meinen Körper zurückzog, bis ich die Augen aufschlagen und ihn ansehen konnte. Er lehnte gelassen am Ring und betrachtete, wie ich um die Kontrolle kämpfte.
"Na, hat dir der kleine Ausflug in deinen Kopf gefallen?", fragte er höhnisch.
"Nicht so sehr wie der in deinen", erwiderte ich, konnte ein leichtes Zittern in meiner Stimme aber nicht unterdrücken. Es war anstrengend gewesen, zurückzukommen. Aber wieso hätte Victor mich auch vorwarnen sollen. Ich hätte's an seiner Stelle auch nicht getan.
"Wenn du das häufiger machst, wird es leichter", erklärte er glücklicherweise. Ich atmete tief durch und richtete mich auf.
"Also, was ist meine Gabe?", fragte ich, ohne die Anspielung darauf zu beachten, dass er vorhatte, mich weiterhin dieser Art der Selbsterkundung auszusetzen.
Victor beschloss, nicht sofort zu antworten, sondern sich erst einmal gründlich umzusehen, als wüsste er nicht genau, wo er sich befand. Vielleicht wollte er auch herausfinden, ob ich meinem Wunsch nachgeben und ihn schlagen würde. Oder das versuchen; er war zu gut für mich. Letztes Mal hatte er mich, nachdem er gesehen hatte, dass ich wohl zuschlagen konnte, ohne Probleme fertiggemacht. Wenn das seine Art und Weise war, andere zu motivieren, wäre ich nicht überrascht, wenn er seinen Teamkollegen schon ihre Särge zeigte, bevor er mit ihnen in einen Außeneinsatz gingen. Wieso er überhaupt ein Team hatte, war mir schleierhaft; wahrscheinlich war kein Mensch- außer mir- so blöd, irgendetwas mit ihm zu machen, und sei es nur, Seite an Seite mit ihm zu kämpfen. Ich würde seinen Seelenspiegel fragen müssen, ob ich ihr einen Brecheimer geben solle, wenn sie in seiner Gegenwart war.
"Deine Begabung ist es, Menschen- ob Savants oder nicht- auf deine Seite zu ziehen. Insofern lagen die Anderen richtig. Aber du wendest diese Gabe nur an, wenn du es unbedingt willst oder wenn es überlebenswichtig für dich ist. Bei deinen früheren Freunden, bei uns oder bei anderen Personen, die dir wichtig sind, wirkt diese Gabe nur solange, bis du von selbst Gefühle für die Person entwickelst. Und selbst wenn es nur Loyalität ist, dann wirkt deine Gabe nicht mehr, es sei denn, eine der beiden genannten Szenarien tritt ein."
Ich musste mich auf den Ring setzten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Die Streber hatten sich wegen meiner Gabe meine Art angewöhnt. Aber meine Freunde, Di, Trace, Will, selbst Victor, nicht. Die Menschen, für die ich etwas empfand, egal, welche Empfindung das war. Obwohl...
"Was ist, wenn ich jemanden hasse? Dann ist das eigentlich auch eine Empfindung", rätselte ich laut.
"Wenn du jemanden hasst, willst du ihn entweder auf deine Seite ziehen, oder du stößt denjenigen ab, weil du ihn nicht in deiner Nähe haben willst. Ich weiß nicht genau, wie das funktioniert, aber theoretisch gesehen ähnelt deine Begabung meiner, weil du Menschen ähnlich kontrollierst, nur auf eine andere Weise."
"Und das hast du jetzt herausgefunden, weil-?", harkte ich nach, da ich in der Erinnerung an mein Drittklässler-Ich partout nichts gefunden hatte, das ihn auf so eine Schlussfolgerung bringen könnte.
"Ich weiß seit meiner Geburt, dass ich ein Savant bin, ich habe erkannt, dass deine Gabe freigesetzt wurde, weil du so wütend warst, weil sie dich nicht ernstgenommen haben. Du wolltest nicht ausgelacht werden, und musstest erst zur Handgreiflichkeit greifen, bevor sie verstanden haben, dass du es ernst meinst und sie besser auf dich hören sollten."
Aha. Wenn er das sagte. Ich sah ihn mit schiefgelegtem Kopf an, zuckte dann aber die Schultern und blickte durch den Raum. "Was jetzt? Krafttraining, Ausdauer oder Taktik?"
Victor wirkte fast beeindruckt, weil ich es einfach so hinnahm, was er von sich gab und weitertrainieren wollte, aber wie üblich schaffte er es, seine Emotionen sofort wieder zu verstecken, als sie auftauchten. "Taktik. Fürs Krafttraining ist es zu spät und ich habe keine Lust dabei zuzusehen, wie du hier Runden läufst."






Relieving Lake (Die Macht Der Seelen- FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt