Ziellos streifte ich durch die Gänge. Meine Wachen hatten mir den Gefallen getan und ließen mich frei herumwandern, nachdem ich Aight abgegeben und mein Trainings für Beendet erklärt hatte. Ich könnte weiter nachdenken, ich könnte weiter Liegestütze machen oder Trissa aufsuchen und nach einem Anhaltspunkt für das Rätsel Summer suchen, aber stattdessen lief ich durch die leeren, eintönigen Gänge des Gebäudes und versuchte, sie auseinanderzuhalten. Es konnte nicht sein, dass dieses ganze Gebäude gleich aussah, dass es keine Fenster gab und ich keine Ausgänge fand. Scheinbar befanden sich alle Räume auf der gleichen Ebene, aber es musste einen Ausgang geben, etwas, das ans Licht führte. Immerhin waren wir hier reingekommen.
Abgesehen von dem Gang, in dem die Lampe in größerem Abstand zu den anderen stand, gab es aber nichts Auffälliges. Die Wände waren in der gleichen Farbe, die Türen waren in den gleichen Abständen, die Abzweigungen waren im gleichen Winkel eingelassen. Es war, als befände ich mich in einem unterirrdischen Labyrinth. Jeder Gang führte auf einen zurück, den ich zuvor schon durchlaufen hatte. Vor etwa zehn Minuten war ich dazu übergegangen, meine linke Hand an die Wand zu halten und immer so abzubiegen, aber Resultate gab es zum jetzigen Zeitpunkt nicht.
Es war inzwischen schon wieder zirka anderthalb Stunden her, dass ich Aight mit Kira losgeschickt hatte. Alle paar Minuten versuchte ich, Victor zu erreichen, aber immer wieder wurde ich abgeblockt. Wenn ich direkt mit Will Kontakt herstellte, konnte es sein, dass ich ihn nicht erreichte. Vielleicht lag es auch teilweise an unserer Verbindung, die zu schwach war, vielleicht lag es daran, dass ich zu schwach im Bereich Telepathie war. Aber Victor, der sich mit mir im selben Gebäude befand, würde ich benachrichtigen können.
Ich hatte gefragt, ob ich zu ihm könne, aber es war mir untersagt worden. Das gehörte auch zu meiner Strafe, weil ich Trissa nicht gesagt hatte, dass die Willenlosen nach zwei Stunden würden fliehen können. Die Zellen hatten keine Nummern. Wie konnte irgendjemand sich hier etwas merken?
"Wie findet ihr euch hier zurecht?", fragte ich meine Wachen, die mich auf Schritt und Tritt begleiteten. Sie redeten kaum, aber sie waren stets freundlich, hilfsbereit und offen für meine Wünsche. Obwohl sie weder meine, noch Victors Zimmertemperatur hatten reglen können.
Einer von ihnen antwortete: "Mit der Zeit wird es leichter, Miss Crey. Man merkt sich, wie häufig man links und wie häufig man rechts abbiegen muss, wie viele Schritte man in Richtungen gehen muss. Man findet Eselsbrücken. Beispielsweise muss ich von Mr. Trissas Büro aus nur fünf mal nach links abbiegen, um zu Fives Zelle zu kommen."
Ich nickte und speichterte die Information ab. Vielleicht würde ich sie später noch einmal gebrauchen können. Die Wartezeit war um, jetzt musste ich wieder meine obligatorische Nachricht versenden.
>Victor?<, fragte ich gedanklich, stellte mir seine grauen Augen vor, als Hilfe, um ihn zu finden. Meine Stimme prallte zurück, Echos halten in meinem Kopf wieder, verhöhnten mich. Zum ersten Mal fragte ich mich, was wäre, wenn Aight es nicht schaffte. Bis jetzt hatte ich auf seine Kampferfahrung und seine Schnelligkeit vertraut, aber sie waren zu dritt, er alleine. Die Gefahr, dass sie jemand Anderem begegnete, bevor Aight Kira ausschalten könnte, war gering, die meisten Lakaien hielten sich entweder bei Trissa oder in ihren Zellen auf, und die Willenlosen waren alle weggesperrt, doch die Lakaien würden sich zu verteidigen wissen. Wenn Aight es nicht schaffte, dann war ich richtig am Arsch. Kira würde merken, dass ich einen Mordanschlag auf sie hatte ausüben wollen, Aight würde wahrscheinlich sterben und Trissa wäre noch wütender. Ich legte alle meine Hoffnung in jemanden, der mich hasste, ging mir auf. Und nicht nur meine Hoffnung, sondern auch Victors Leben.
Ich konnte nicht warten, bis die nächsten fünf Minuten um waren. Zu unruhig und nervös war ich auf einmal. >Victor? Hörst du mich?<, fragte ich beunruhigt. Meine Worte verklangen, entfernten sich. Es war, als hätte jemand den Staubdamm weggespült und das Wasser würde ausbrechen. Meine Worte schwappten davon, wurden von der Strömung mitgerissen. Kein Echo kam zurück. Die Felsen waren jetzt vom Meer umspült, kräftige Wellen schlugen gegen sie, der Stein wurde zu kleinen Körnchen zermahlen. Barrieren wurden mitgerissen. Das Wasser setzte mit einem dröhnenden Krachen meine Savantkräfte wieder frei.
>Lake?! Du kannst sprechen? Was ist passiert?!< Ich hatte Victor noch nie so überrascht gehört. Hatte ihn noch nie so hektisch Fragen stellen gehört. Das war eher Wills Eigenschaft, während Victor ruhig und besonnen blieb, erst nachdachte und dann sprach. Erleichterung überströmte mich. Es tat unendlich gut, wieder telepathisch kommunizieren zu können, auch wenn es nur Victor war.
>Kann das jemand abhören?<, fragte ich misstrauisch. Vorher sollte ich ihm keine genaueren Botschaften überliefern. Auf einmal fühlte es sich viel selbstverständlicher und natürlicher an, gedanklich mit Victor zu sprechen, als mich laut mit den Lakaien zu unterhalten.
Victor erlangte seine Selbstkontrolle schnell wieder, als er antwortete, war seine Stimme wieder kühl und berechnend. >Nicht das ich wüsste. Du musst sofort mit Will reden, bevor es abbricht, wir sehen uns früher oder später sowieso wieder.<
Er hatte recht, auch wenn ich es ungerne zugab. Nicht, dass ich so gerne mit ihm sprach, auch wenn Victor mir Mut machte, dass wir hier rauskommen würden. Will würde mir viel mehr Mut geben. Es war die Ungewissheit, ob es nicht auch an mir haperte, ob ich nicht einfach zu schwach war, ob das Band zwischen uns die Entfernung nicht aushielt. Aber dieser Angst musste ich mich jetzt stellen, um unser aller Willen und Wohlergehen.
Während ich weiterlief, um mir nichts anmerken zu lassen, baute ich im Geiste eine Art Brücke auf. Wills Augen, seine Stimme, sein Aussehen und seine Worte, all das verband mich mit ihm. Sein Körper neben mir im Bett, seine Küsse auf meiner Haut, seine Wachsamkeit, während ich mich ritzte und sein spitzbübisches Lächeln. Ich folgte den Empfindungen, die ich insgeheim für ihn hegte, folgte seinen Liebeserklärungen und der festen Umarmung, die ich bekommen hatte, als er aus dem Gefängnis kam. Folgte unserer Verbindung, die ich endlich wieder spürte. Präsent, heiß und stark.
>Will?<, fragte ich laut. Eigentlich wollte ich flüstern, wollte mich an ihn herantasten, aber wer weiß, ob er mich dann gehört hätte. Ob er mich überhaupt hörte. Erst kam nichts. Es war, als führte meine Verbindung ins Leere, als würde meine Frage im Meer ertrinken, von den dunkelblauen Wellen verschluckt werden, auf den Grund gezogen.
Doch dann flammte am anderen Ende ein Licht auf, gleißend hell. Es war keine Streicholzflamme, es war ein Waldbrand. So ein richtig heißes Wipfelfeuer. >Lake?< Es tat so unfassbar gut, seine Stimme wiederzuhören. Vertraut, warm, mit unbändiger Erleichterung gefüllt. Er fragte nicht so laut wie ich, schien noch unsicher, ob er sich mich nicht nur einbildete.
>Will!<, stieß ich erleichtert hervor. Fast kamen mir die Tränen. Unsere Konversation musste unfassbar interessant sein. Ich hatte ihn erreicht. War stark genug, um die Verbindung herzustellen und aufrecht zu erhalten. Ich hatte seine Stimme gehört, hatte seine Gefühle gespürt. Freude, Erleichterung, Angst, Unwissenheit.
>Lake? Du bist es wirklich?< Er wollte sich nicht darauf verlassen, dass ich es war. Offenbar hatte er nun doch am eigenen Leibe erfahren, was es hieß, misstrauisch zu bleiben. So ging es mir bei unserer Liebesgeschichte. Doch die tat jetzt nichts zur Sache. Ich hatte mich gegen kontraproduktive Liebesgeständnisse und für die Herstellung eines Planes entschieden.
>Gut, das ich dich erreiche. Hat die Frau euch erreicht?< Ich wollte so unbedingt wissen, wie es ihm und den Anderen ging, wie es bei ihnen ablief, aber das brachte mir nichts. Wenn Kira nicht tot war, wenn sie noch lebte und die Barriere wieder aufbauen würde, dann musste es jetzt schnell von Statten gehen. Wenn mein Plan gut genug war, dann würde Will mir persönlich erzählen können, wie es bei ihnen abgelaufen war.
Doch ihm passte meine Vorgehensweise offenbar nicht. >Wie geht's dir? Was ist bei euch los, wieso haben wir euch nicht erreichen können? Wie geht's dir? Lake, hat er dir etwas angetan? Ist Victor bei dir? Was tut Trissa? Geht es dir gut?<
Dagegen war Victors Fragerei ja noch geradezu harmlos gewesen. Aber im Gegensatz zu dem tat es gut, Wills schnelle Fragen zu vernehmen, mitanzuhören, wie sich seine Stimme von Angst mehr und mehr zu Freude verwandelte. Es würde länger dauern, mich mit ihm darum zu streiten, welchem Thema wir uns zuerst widmeten, als auf seine Fragen zu antworten und eine Runde SmallTalk zu treiben, also gab ich nach.
>Mir geht's gut, soweit es eben geht. Kira hat eine Blockade aufgebaut, aber sie ist momentan... sagen wir, sie ist nicht ganz bei der Sache. Hier ist nicht besonders viel los, ihr wisst wahrscheinlich schon, was wir tun. Menschen kontrollieren, trainieren, versuchen, die Zeit unserer Kontrolle auszudehnen. Mir hat er nichts getan, aber Victor hat ein paar Schläge abgekommen. Und, daraus schlüssig, ja, Vicki ist hier. Trissa schiebt schlechte Laune, weil ein paar seiner Willenlosen entkommen sind, aber das regelt sich schon wieder. Wie läuft's bei euch? Hat Six euch erreicht? Geht es Di, Trace und den anderen gut? Hat Trissa euch etwas getan? Will, wie geht es dir überhaupt?<
Gut, meine Fragerei war wahrscheinlich ähnlich schlimm wie seine. Aber wir hatten das Recht, aufgebrachte, unbedachte und sich doppelnde Fragen zu stellen, immerhin befand ich mich unter Aufsicht des Mörders meiner Mutter und hatte ihn seit fast einer Woche nicht gesehen. Und, nebenbei gesagt, er war mein Seelenspiegel.
Von Will ging eine Welle der Erleichterung aus. Offenbar waren Victors Verletzungen nicht von Bedeutung. Naja, Will wusste vermutlich, dass sein Bruder auf sich selbst aufpassen konnte und darauf achten würde, dass Trissa ihn nicht umbrachte. Und mich unterschätzten sie ja immer wieder.
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Relieving Lake (Die Macht Der Seelen- FF)
Fanfiction|| "Du bist mir wichtiger als das meiste andere und ich liebe das. Du bist depressiv, und das gehört zu dir, zu der Person, in die ich mich verliebe. Ich werde niemals einfach gehen. Und es würde mich niemals zerstören, mit dir zusammen zu sein. Es...