Kapitel 11)

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Der Mann, der da stand, war unfassbar heiß.
Dagegen waren seine Brüder gar nichts.
Er war groß, wie alle, hatte breite Schultern. Seine schwarzen Haare waren verstrubbelt, aber im Gegensatz zu Xaviers Frisur sah diese nicht so aus, als wäre sie mit Haarwachs errichtet worden, sondern wirkte echt. Seine Gesichtszüge waren ausgeprägter, der Teint vollkommen. Seine Augenbrauen und die schwarze, dichten, langen Wimpern brachten seine blaugrünen Augen zum Leuchten. Er trug eine schwarze Lederjacke, darunter ein weißes Shirt, das sich an seinen Schultern spannte. Die lässige, dunkelblaue Jeans endete in schwarzen Boots.
Das war also Will.
Und er sah mich an.
Ich hörte Diamonds schlecht verborgenes Kichern neben mir, die sich darüber lustig machte, dass ich Will anstarrte. Damit rettete sei mich gerade noch, ich riss meinen Blick von ihm los und neutralisierte meine Gesichtszüge.
"Lake", grinste Will.
"Du bist also mein Verlobter", erwiderte ich spöttisch.
Diamond neigte sich zu mir und flüsterte in mein Ohr: "Sag mal, ist da jemand verliebt?"
Die Vorstellung, dass ich mich von Null auf Hundert verlieben könnte, war lachhaft. Ich war noch nie verliebt gewesen. "Besser verlieben, als eine Zwangsheirat durchzumachen", flüsterte ich zurück.
Glücklicherweise hatten die Anderen nicht vor, uns zu beobachten, und fingen wieder an zu reden, während Will auf uns zukam. Seine Hand war rau, groß, die Finger lang und schlank. "Also hast du Ja gesagt?", fragte er spielerisch.
Diamond gab ein 'Oho' von sich, und ich neigte den Kopf zur Seite. "Vielleicht. Würdest du dich freuen?"
Will ließ sich auf die Sofalehne sinken, lehnte sich gegen die Wand und blickte mir direkt in die Augen. "Weiß noch nicht, kenne dich ja nicht."
Diamond stand auf, drückte meine Schulter und sagte: "Ich werd' mal Trace einsammeln, damit wir in den Bunker können, bevor ihr euch zusammentut, da will nicht nicht mehr da sein."
Ich legte mich auf das freie Sofa, legte die Beine hoch und schloss die Augen. "Danke, Lake, nein, wie zuvorkommend. Di ist weg, aber wieso mir Platz machen, wenn man sich hinlegen könnte", moserte Will beleidigt.
"Hättest ja sagen können, dass du auch hier rauf willst", erwiderte ich, ohne mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen- ausgenommen der Bewegung meines Mundes beim Sprechen.
Plötzlich wurden meine Beine hochgehoben und auf dem Boden abgestellt und ein schwerer Körper drückte das Sofa neben mir nach unten. Missmutig setzte ich mich auf und blinzelte mir die Müdigkeit aus den Augen.
"Warum bist du hier?", fragte Will, wie so ziemlich jeder bis jetzt. Es nervte langsam ziemlich.
"Weil ich ein Auszeitjahr wollte", behaupte ich wie jedes Mal. Er nickte.
"Ja, klar. Und ich bin hier, weil mich eine Spinneninvasion daran gehindert hat, nach Hause zu gehen. Hältst du das mit dem Auszeitjahr für eine gute Lüge?"
Ich verzog das Gesicht. "So schlecht ist sie auch nicht. Ich stand vor der Wahl, ob ich ein Jahr verschwinde, oder in den Knast wandere. Meine Professoren nannten es ein Auszeitjahr."
Ich rutschte unruhig auf meinem Platz hin und her, da ich mich eigentlich hinlegen wollte, aber Dank Will keinen Platz mehr dafür hatte.
"Deine Professoren haben dich gezwungen, die Uni zu verlassen? Was hast du angestellt?", fragte Will belustigt.
Ich musterte die Anderen, die ab und zu argwöhnisch zu uns sahen, sich aber sonst mit sich selbst beschäftigten. "Ich habe die Chemikalien getauscht. Die Explosion hat angeblich den Professor gefährdet, was aber Unsinn ist. Sie war viel zu klein, um ihn zu betreffen, ich habe richtig dosiert. Aber die wollten mir das nicht glauben. Also, eigentlich haben sie mir schon eine Woche davor mit dem Rauswurf gedroht, weil ich die OH-Projektoren manipuliert hatte und private Bilder unserer Professoren gezeigt habe, aber anscheinend war die Explosion in ihren Augen schlimmer. Wobei sie, wie gesagt, niemanden verletzt hat. Außer vielleicht den Chemiesaal, der ist abgebrannt, weil die Feuerwehr nicht schnell genug da war. Dafür konnte ich aber nichts."
"Wie man sieht bist du eine hochangagierte Studentin", bemerkte Will trocken. Wahrscheinlich war ich der einzige Mensch hier, der meine Streiche lustig fand, aber immerhin machte ich das auch für mich und nicht für andere.
"Als Bodyguard hast du wahrscheinlich auch nicht studiert, sondern einfach nur die Hälfte deines Lebens im Fitnessstudio verbracht", konterte ich eingeschnappt.
"Du urteilst vorschnell. Ich habe- gut, ich habe nicht studiert, aber ich habe auch was im Kopf, nur halt nicht so viel Unbrauchbares wie Uriel oder Yves."
Ich sah ihn zweifelnd an. "Ach ja? Was? Dass ich eine Spionin bin?"
Will verdrehte die Augen. "Hätte ja sein können. Was hast du eigentlich mit Diamond angestellt?"
"Wieso fragst du?"
"Lake, ich kenne meine Schwägerin. Sie ist eher eine Schlichterin, nicht jemand, der ständig andere ärgert. Erst seit du da bist, ist sie so frech. Sag's einfach, was hast du mit ihr gemacht?"
Ich sah zu meiner Freundin, die bei Sky und Phoenix stand und sich mit denen unterhielt. Gerade in diesem Moment blickte sie zu mir, und sie zwinkerte mir scheinheilig zu.
"Ich habe nichts getan. Wirklich nicht! Mein schlechter Einfluss auf Andere ist zwar nicht unerwünscht aber auch nicht freiwillig."
Will runzelte die Stirn. "Du meinst, sie wird so... boshaft, nur, weil du da bist?"
"Habe ich nicht gesagt. Aber ja, ich mein's so. Ich weiß nicht, wann es angefangen hat, aber irgendwann haben die Menschen, egal, wie brav sie sonst waren, begonnen, in meiner Gegenwart Regeln zu brechen."
Plötzlich stand Will auf und ging. Ich sah ihm verwirrt hinterher, aber dann zuckte ich die Schultern und wandte mich ab. Wenn er jetzt keine Lust mehr auf mich hatte, war das sein Problem, nicht meines. Immerhin hatte ich jetzt wieder das ganze Sofa für mich.
Die Augen geschlossen legte ich mich hin und ließ mich in den Halbschlaf gleiten. Letzte Nacht hatte ich davon geträumt, dass ich von einem Hochhaus sprang. Solche Träume hatte ich häufig, und meistens wachte ich genauso müde auf, wie ich eingeschlafen war. Es fühlte sich nicht so an, als hätte ich geschlafen, mehr, als hätte ich einen Marathon hinter mir.
Ich fühlte mich beobachtet, doch ich öffnete nicht die Augen, um zu sehen, wer es war. Wenn jemand etwas von mir wollte, sollte derjenige zu mir kommen. Die Gespräche wurden leiser, als ich langsam in den Schlaf glitt, aber ich hielt mich davon ab, ganz einzuschlafen. Ich war nicht dumm, ich schlief nicht in der Gegenwart von fremden Menschen ein. Nicht, dass ich glaubte, sie würden mir etwas antun, aber wenn ich wieder weinend aufwachen sollte, sollte niemand das sehen.
Ich hörte das leise Klirren von Gläsern, sie stießen also an. Ich erwartete nicht, dass irgendjemand mir ein Glas bringen würde, immerhin gehörte ich nicht dazu, aber dann stieg mehr der Geruch von Rotwein in die Nase. Ich blinzelte und sah Will vor mir.
"Ist was?", fragte ich emotionslos.
Er antwortete nicht sondern drückte mir nur das Glas in die Hand. Ich ignorierte meine Müdigkeit, rappelte mich auf und ging mit ihm zu den Anderen. Trace stellte sich neben mich und sah mich merkwürdig an.
"Was habt ihr heute alle?", fragte ich genervt.
"Will hat erzählt, dass du sagtest, in deiner Gegenwart würden Menschen rebellisch werden", fing er an. Hätte ich doch bloß niemals etwas gesagt. Es war kein Geheimnis, aber ich hatte keine Lust darauf, jetzt über irgendwas zu reden. Wenn es ihm nicht passte, dann war das eben so. Es versetzte mir einen Stich, denn ich hatte gedacht, Trace sei ein Freund, aber ich unterdrückte das Gefühl des Verrats. Mit der Zeit hatte ich angefangen, weniger von Menschen zu erwarten, um nicht enttäuscht zu werden. Ich war zwar noch nicht bei dem Punkt, an dem ich nichts mehr erwartete, aber ich war auf dem besten Weg dahin.
Diamond sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. Sie auch? Kurz entgleisten meine Gesichtszüge, aber dann fing ich mich wieder. Lass bloß nicht zu, dass sie den Schmerz sieht. Trace hatte ich auf Abstand gehalten. Diamond nicht, sie war in meinem Herz. Und wieder hatte ich den Fehler begangen. Menschen enttäuschten mich. Immer.
Kalt wandte ich den Blick ab und trank mit einem Zug meinen Rotwein aus. "Hat er das?", fragte ich unterkühlt.
Trace sah mich forschend an. "Bist du...?"
Bin ich was? Da er nicht vorhatte, seinen Satz zu beenden, und ich meine Ehre nicht in die Mülltonne treten und nachfragen würde, stellte ich das leere Glas auf die Kücheninsel und ging an den Anderen vorbei in den Garten raus. Fragende Blicke verfolgten mich, doch ich ignorierte alle. Trace und Diamond waren nicht genauso gehirntot wie ich. Sie waren nicht so rebellisch, frech und unhöflich wie ich. Sie waren nicht die Menschen, die meine Ungezähmtheit akzeptierten, sie hatten sie nur lange nicht entdeckt.
Mit ausdruckslosem Gesicht ließ ich mich am Rand des Pools nieder und tauchte meine nackten Füße in das Wasser. Gut, dass ich Diamond nichts von den Depressionen erzählt hatte. Sonst hätte ich das jetzt bereut. Gut, dass ich sie nicht noch näher an mich herangelassen hatte.
Mein Handy vibrierte in meiner Tasche, und als ich es herauszog, leuchtete eine neue Nachricht von meinem Vater auf.

Rausgeworfen? Habe mich schon gefragt, wie lange es dauern würde. Ich besuche dich wahrscheinlich demnächst. Meine Einheit wird aus dem Außeneinsatz gezogen, wir haben schon alles getan, was momentan getan werden konnte. Ich kriege Urlaub. Geht's dir gut?

Ich lächelte leicht und schrieb zurück: Freue mich auf dich, ja, mir geht's super.
Wenn er wüsste, wie schlecht es mir wirklich ging, würde er sofort kommen, und das konnte ich nicht zulassen. Ihm ging es da gut, mitten im Krieg. Nicht bei mir. Ich war es ihm schuldig, dass er seinen Frieden fand. Ich legte mein Handy neben mich ins Gras, stützte mich mit meinen Händen hinter dem Körper ab und betrachtete den Himmel mit einem leisen Lächeln. Die Sonne schien mir direkt ins Gesicht und ich genoss die Wärme.
"Lake?", fragte neben mir jemand. Es war Will. Wieso sie ihn hinter mir her geschickt hatten, wusste ich nicht, doch ich drehte ihm nicht den Kopf zu.
"Will", entgegnete ich ruhig.
"Ich weiß nicht, was du denkst. Wieso bist du rausgegangen?"
Ich lachte hohl. "Ich bin nicht blind, so gucken mich alle an, bevor sie mich rausschmeißen. Wie Diamond. Und ich dachte, ich genieße das letzte Mal den Pool, bevor ich gehen muss."
"Rauswerfen? Sicher nicht! Keine Ahnung, wie du darauf kommst, aber nichts läge uns ferner, als dich rauszuwerfen!", erwiderte er heftig.
Ich sah ihn schräg an. "Und wieso guckt Di mich dann so an?"
Will setzte sich neben mich ins Gras und stützte sich ähnlich wie ich ab. "Bist du ein Savant, Lake?"
"Ein was?", fragte ich argwöhnisch. Bitte sag, er ist nicht verrückt. Dafür war er viel zu heiß.
Will musterte mich nachdenklich. >Hörst du das?<, fragte seine Stimme. Aber er bewegte seine Lippen nicht. Ratlos sah ich mich um, aber niemand Anderes war in unserer Nähe.
>Das bin ich, Lake. In deinem Kopf. Du bist ein Savant, deshalb hörst du mich. Das ist Telepathie<, sagte die Stimme. Entgeistert starrte ich ihn an.
"Ma- machst du das?", fragte ich schockiert.
Will lachte. "Ja, das bin ich. Du bist nicht verrückt, und ich bin es auch nicht. Wir sind nur Savants."
Ich wich vorsichtig zurück. "Und was bedeutet das? Was heißt das? Ich höre deine Stimme in meinem Kopf, wird das jetzt da bleiben? Weißt du, ich habe schon eigene Stimmen, die genug nerven, ich brauche nicht noch einen unhöflichen Bodyguard!"
Er stand ebenfalls auf, die Hände kapitulierend erhoben, mit den Handinnenflächen zu mir. "Das bleibt nicht da, wenn du es nicht willst. Und wenn du nicht willst, wird es auch nichts bedeuten. Aber wenn du willst, werde ich dir mehr erzählen. Es ist dein Erbrecht, Lake. Wenn du nichts davon wissen willst, geh jetzt. Aber wenn du erfahren möchtest, was du bist, dann setz dich wieder hin."
Ich sah ihn an. Ein Savant. Was auch immer das sein sollte. Ich konnte gehen. Oder ich konnte bleiben. Was sollte ich nur tun?





Relieving Lake (Die Macht Der Seelen- FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt