Samstag.
In den vergangenen Tagen hatte Victor mich mit Training gefoltert, aber zum Glück hatte ich ihn bis jetzt noch nicht ununterbrochen am Hals, da ich noch nicht gegen Kira ausgesagt hatte. Das würde erst jetzt geschehen. Wenn Will nicht freikam, war ich echt am Arsch. Wir hatten uns nicht mehr gestritten, aber er war sadistisch und ich unverschämt geblieben. Victor hatte weiterhin Bemerkungen fallen lassen, die darauf hindeuteten, dass ich Will ziemlich viel bedeutete, aber er hatte nichts Direktes verlauten lassen. Mit seinem Fall waren wir nicht wirklich weitergekommen, da ich zwar identifizieren konnte, dass sein kleines Geschenk tatsächlich eine unserer Tabletten war, aber keinen Schimmer hatte, was Tressa damit bewirken wollte.
Diamond wollte mich vors Gericht begleiten, da Victor und Trace sich nicht in Verbindung mit mir dort blicken lassen konnten und der Rest kam sowieso nicht infrage. Über ihre Gesellschaft war ich sehr froh, auch wenn sie mir mit ihrer Gabe keinerlei Unterstützung leisten konnte. Vielleicht würde ihre Anwesenheit mich beruhigen. Wills Abwesenheit lag schwer über meinem Alltag, ließ sich nicht vergessen oder zur Seite schieben und verdarb mir den Appetit. Woran das lag, wusste ich nicht, aber ich hatte nachts Angst um ihn. Wir konnten ihn nicht besuchen, da ich als Zeugin keinen Kontakt zum Angeklagten herstellen durfte und die Anderen unter Verdacht standen, mit mir zusammenzuarbeiten. Demnach herrschte beim Frühstück am Samstagmorgen bedrücktes Schweigen in Traces und Diamonds Haus.
Diamond zwang mich, meine Lederjacke aufzugeben und stattdessen etwas Förmlicheres anzuziehen. Als ich mich standhaft gegen ein Kleid wehrte, gab sie mir einen eng taillierten, schwarzen Anzug für Frauen, eine weiße Bluse und ordentliche Schuhe. Meine Haare musste ich zurückbinden und meine obligatorischen beiden Lederketten und das breite Lederarmband durften auch nicht dranbleiben.
Als ich in den Spiegel blickte, sah ich nicht mich sondern jemand Anderen. Ich sah förmlich und brav aus, wie eine normale Durchschnittsbürgerin. Ohne meine Lederjacke fühlte ich mich geradezu nackt, als ich mit Diamond um kurz vor Elf auf die Straße ging, weil wir los mussten.
Alice war am Donnerstag aus der Werkstatt gekommen, aber natürlich durfte nicht ich fahren. Di hatte mich noch nie fahren sehen, aber sie meinte, sie würde es gar nicht erst ausprobieren wollen. Irgendwie verständlich, wenn man mich näher kannte. Oder auch so.
An der zweiten Ampel, an der wir halten mussten, klopfte jemand an mein Fenster. Ich sah überrascht nach rechts und blickte direkt in Kiras tätowiertes Gesicht. Ihr Mund war zu einem spöttischen Lächeln verzogen, aber in ihren Augen lag eine stumme Drohung. Da ich mich nicht schwach geben durfte, ließ ich das Fenster gelassen runterfahren und sah sie mit einem falschen Lächeln an.
"Kira! Wie schön, dich wiederzusehen!", grüßte ich fröhlich. Dann ließ ich die Freude aus meiner Stimme verschwinden und fragte eiskalt: "Was willst du?"
Sie stützte die Ellenbogen ab und sah mich mit gespielter Freundlichkeit an. "Ich denke, Will hat dich gewarnt, aber jetzt nochmal von mir; du wirst nicht für ihn aussagen, sonst bist du tot. Denk dran, mein Vater hat viel Geld und ist mächtig. Lass es dir ein gut gemeinter Rat unter Freundinnen sein, ja? Schönen Tag noch."
Offenbar ziemlich zufrieden mit sich selbst, wandte sie sich ab und stolzierte davon. Ich fuhr mein Fenster wieder hoch und lehnte mich zurück. Ich wusste, dass meine ruhige Maske perfekt saß. Nicht einmal Diamond, die mich besser kannte als die meisten Anderen Menschen, konnte erkennen, was in mir wirklich vorging. Mir war eiskalt. Ich hatte nicht wirklich Angst wegen der Drohung, Victor hatte mich gut ausgebildet und außerdem war es für mich nur eine leere Drohung, die mir etwas Action verschaffen könnte, aber die leichte Übelkeit, die aufblühte, kündigte eine weitere, schlaflose und schmerzhafte Nacht an.
"Wir sind da", sagte Diamond kaum zehn Minuten später. Ohne Zögern schnallte ich mich ab, nahm mir meine Tasche, in der ich mein Handy, meine Schlüssel, Geld und meine Personalien aufbewarte, öffnete die Tür und stieg aus. Hinter mir schlug ich sie wieder zu, sah mich kurz prüfend um und ging dann entschlossen auf das große, helle Gebäude vor uns zu. Diamond schloss sich mir an. An ihrem besorgten Gesichtsausdruck sah ich, dass sie nicht davon überzeugt war, dass ich die Kontrolle behalten würde, doch das sollte mich erst einmal nicht kümmern.
Das Gebäude war weitläufig, die Gänge von vielen Fenstern geschmückt und die Gänge waren mit anzugtragenden Männern und Frauen in schlichten Röcken oder amtlichen Kleidern gefüllt. Das hier war nicht mein Gebiet. Hier fühlte ich mich nicht wohl. Meine rechte Hand verkrampfte sich leicht um meine Tasche, aber sonst ließ ich mir nichts anmerken.
Diamond lief dicht neben mir, lenkte mich sachte zum Gerichtssaal. Im Gegensatz zu mir war sie hier völlig in ihrem Element. Sie war ehrlich, offen und moralisch. Diamond wäre die perfekte Richterin, aber sie hatte sich für eine Laufbahn unter Savants entschieden- auch wenn sie dort in etwa das war; eine Richterin. Der Gerichtssaal, indem Wills Fall behandelt werden würde, war nicht groß, aber geräumig, schlicht und hell. Diamond setzte sich neben mich auf die Stühle, die dem Richterpult zugewandt standen und legte ihre Hände offen auf den Tisch. Das Gericht war schon anwesend, die Richterin, der Rechtsanwalt, Kira, deren Vater, der Gerichtsschreiber und der Staatsanwalt.
Kira sah mich breit lächelnd an, versuchte nicht einmal zu verbergen, dass sie Kontakt aufgenommen hatte. Ich lächelte zurück. Lass sie in die Falle laufen, Lake, mach ihr Glauben, dass du auf ihrer Seite bist.
Dann kam Will, von zwei Polizisten begleitet. Sein schwarzer Haarschopf war noch verstrubbelter als sonst, aber im Gesamten schien es ihm recht gut zu gehen. Seine blaugrünen Augen suchten sofort mich, und er schüttelte kaum merklich den Kopf. Ich konnte ihn nicht anlächeln, die Kontrolle über meine Gesichtszüge waren mir entglitten, aber ich ließ meine Augen wärmer werden, in der Hoffnung, dass er es sehen konnte.
Der Staatsanwalt erhob sich und trug den Fall vor. Ich hörte schweigend zu, konzentriert, achtete auf jede Formulierung. Kira musste ihre Aussage wiederholen, dann unterhielten sich die Anwälte erst einmal für sich. Wills Anwalt brachte gute Argumente vor, aber er sprach viel zu aggressiv. Da mich diese Unterhaltung nicht so wahnsinnig interessierte, inspizierte ich die Anwesenden näher. Die Polizisten hatten am Ausgang Stellung genommen, beide waren breit gebaut und hatten ein Brettgesicht. Der Staatsanwalt war ein schwitzender Wurm in grauem Anzug, hatte seine blonden Haare zurückgegeelt und hatte eine schleimige Stimme. Als ich den Richter genauer ansah, klingelte irgendetwas. Er war groß, hatte dunkelblonde Haare, die aber fast abrasiert waren und einen Bartansatz. Er war nicht schlank, aber auch nicht fett, sondern ziemlich muskulös. Seine blassblauen Augen waren fest auf mich gerichtet. Diese Augen... die hatte ich schon einmal gesehen. Und irgendetwas sagte mir, dass ich mich auf jeden Fall daran erinnern sollte, wo.
"Miss Crey, bitte erläuteren Sie Ihre Erinnerungen an das Geschehen", forderte der Staatsanwalt mich aalglatt auf.
Räuspernd erhob ich mich und wandte den Blick mühsam vom Richter ab. Kurz sammelte ich mich, rief mir alles in Erinnerung und begann dann: "Will und ich waren spazieren, als wir auf Kira und ihre Freunde trafen. Kira und ich fingen an, uns zu zanken, und einer ihrer Freunde ist auf mich losgegangen. Will sagte mir, dass das seine Klientin sei, und er sich nicht gegen sie stellen könne, was ich verstand. Ich griff nicht von selbst an, wehrte nur ab. Kiras Freunde haben mich zu zweit festgehalten und angefasst, während sie versucht hat, Will anzugreifen. Will hat sie abgewehrt und mich von Kiras Freunden befreit."
Will sah mich nicht an, aber dann erklang plötzlich seine Stimme in meinem Kopf: >Wieso tust du das?! Ich habe doch gesagt, das könnte für dich gefährlich werden!<
Alles glühte. Ein wohliger Schauer überlief mich und vertrieb das Übelkeitsgefühl. Wieso auch immer, ich hatte Angst, ihm zu antworten und damit dieses Gefühl zu zerstören. Lieber blieb ich stumm und wandte den Blick von ihm ab.
Zu Kira, die mich aufgebracht anfunkelte. Ihr Blick sprach Bände. Laut ihr würde ich diese Aussage bereuen. Ich schenkte ihr ein weiteres, falsches Lächeln. "Hat Mr. Benedict Ms. Ula auf irgendeine Weise angegriffen?", fragte der Staatsanwalt weiter.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. "Will hat Kira aus dem Weg gestoßen, als diese mich schlagen wollte. Sonst nichts. Das war aber, wie gesagt, nachdem diese mich zuerst angriff."
Der Staatsanwalt nickte. "Danke für Ihre Aussage, Ms Crey. Mr Assirt und ich werden uns nun zurückziehen und beraten, das Urteil wird Ihnen dann verkündet."
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Relieving Lake (Die Macht Der Seelen- FF)
Fanfiction|| "Du bist mir wichtiger als das meiste andere und ich liebe das. Du bist depressiv, und das gehört zu dir, zu der Person, in die ich mich verliebe. Ich werde niemals einfach gehen. Und es würde mich niemals zerstören, mit dir zusammen zu sein. Es...