Kapitel 5)

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Trace fuhr mich mit Alice zu den Pisten hoch und berichtete mir derweil, was ich wissen sollte. Angeblich war sein Vater ziemlich locker, aber ich sollte lieber niemanden beleidigen und auch nicht erwähnen, dass ich von der Uni geflogen war und schlechten Einfluss auf Diamond ausübte.
"Na, ist es schmerzhaft, dabei zusehen zu müssen, wie die Frau sich wegen der Neuen verändert?", fragte ich mit einem grausamen Unterton. Ich saß auf dem Beifahrersitz, hatte die Beine überschlagen und sah vorne aus dem Frontfenster. Trace fuhr wirklich als wäre er vollkommen dicht. Aber mir gefiel das. Ich kannte es immerhin von den Straßenrennen, wo es noch grober zuging.
"Du meinst der Alten. Lange wirst du nicht bei uns bleiben", grinste Trace als Antwort, sodass ich wusste, dass er es nicht ernst meinte. Wenn doch, hatte ich ernsthafte Probleme, doch das würde ich jetzt erst einmal übersehen.
"Und? Tut's weh?"
Er warf mir einen missmutigen Blick zu. "Ich habe noch nie eine Person getroffen, die so schadenfroh ist. Und nein, tut es nicht. Es ist lustig. Solange jedenfalls, bis Di wirklich zu dir wird, dann bringe ich dich hinter Gitter, zwei von deiner Sorte würde ich nicht ertragen."
"Wie charmant wir heute wieder sind", kommentierte ich trocken. Also würde ich eben aufpassen müssen, dass ich Diamond nicht ganz transformierte.
Wir kamen an den Pisten an und ich sah das kleine Häusschen, wo die Ski verliehen und die Karten verkauft wurden. Trace parkte auf einem Parkplatz davor und wir stiegen aus. Aus Gewohnheit blickte ich mich kurz um, prüfte mit einem schnellen Blick alles nach Gefahr ab. Ich war nicht ausgebildet, aber ich erinnerte mich noch genau daran, wie meine Mutter gestorben war. Danach hatten wir die Männer nie wieder gesehen, aber die Paranoia war geblieben.
Trace beobachtete mich aufmerksam, sagte aber nichts, bis ich fertig war und mit ihm auf die Hütte zuging. Drinnen waren die Wände mit Skis und Snowboards behängt, ein paar Leute standen davor und versuchten, sich eins auszuwählen. Ein Mann Ende 50 stand hinter einem Tresen, und laut der schwarzen Haare, der Größe und des Körperbaus war er Traces Vater. Saul Benedict, wenn ich mich nicht irrte.
Saul sah uns überrascht an, als wir reinkamen und auf ihn zugingen. "Trace! Was machst du denn hier?"
Trace schob mich sanft nach vorne und trat neben mich. "Das ist Lake, unsere neue Mitbewohnerin. Sie braucht Arbeit."
Saul musterte mich mit einem prüfenden Blick. "Kannst du Skifahren, Lake?", fragte er neugierig.
Ich nickte knapp. Würde er dir gleichen Fragen stellen wir Trace schon zuvor? Die Neue zu sein war immer noch scheiße, auch wenn man aus der Schule raus war. Ich war zweimal aus der Schule geschmissen worden, und in der Neuen hatte ich mich immer vorstellen müssen. Verhasste Schülermomente kannte wahrscheinlich jeder.
Saul, der glücklicherweise schnell von Begriff war, verstand, dass ich nicht auf eine freundliche Unterhaltung aus war und nickte nur. "Gut, dann ist eigentlich alles geklärt. Trace, bringst du sie noch nach oben?"
"Klar", antwortete sein Sohn bereitwillig.
Er führte mich aus der Hütte wieder an die frische Luft und ich triezte: "Na, du braves kleines Vatersöhnchen?"
Trace stöhnte genervt. "Das brave kleine Vatersöhnchen schmeißt dich gleich raus, Lake, also pass besser auf. Wieso wurden wir mit dir bestraft? Das ist einfach nicht fair. Nein, warte, sag nichts, ich will deine Antwort gar nicht hören."
Ich grinste. "Kleiner Trick; wer keine Antworten will, sollte besser keine Fragen stellen. Nur so 'ne Schulweisheit, weißt du."
"Ich hasse dich", sagte er resigniert. "Du warst die schlechteste Entscheidung, die Di und ich je getroffen haben."
Sein Gesicht blieb ernst. Kurz war ich mir unsicher, ob er es ernst meinte, aber dann ließ ich es mir einfach egal sein. Selbst wenn, mir konnte das egal sein, solange er mich nicht rauswarf. Und auch wenn er das tat, ich würde einen anderen Platz für mein Leben finden. Trace und ich stiefelten derweil den Berg hoch, da wir stumm übereingekommen waren, dass keiner von uns Lust hatte, sich in eine Gondel zu setzen und hochschiffen zu lassen.
"Immerhin habe ich dafür gesorgt, dass du Diamond nicht mit deinen Pfannkuchen vergiftest", behauptete ich emotionslos.
Trace schien für einen Moment zu überlegen, ob er mich den Berg runterschubsen sollte, aber er ließ es dann bleiben. Wahrscheinlich, um seinen Job zu behalten. "Jeder hat Schwächen. Deine ist offenbar das Schneiden von Obst. Sonst noch was? Meine Rache wird kommen, sei dir sicher."
Ich betrachtete den strahlend blauen Himmel über uns, die warme Sonne, den glitzernden Schnee. "Meine Schwächen wirst du ganz sicher nicht herausfinden, Tracie. Für wie bescheuert hältst du mich eigentlich; wieso sollte ich sie dir sagen, wenn ich weiß, dass du sie gegen mich verwenden willst?"
Er grinste. "Bei jemandem, der so tough tut wie du, müssen die Schwächen irgendwas Lächerliches sein. Hast du Angst vor Bäumen, Lake?"
Ich sah ihn vernichtend an. "Hast du Angst vor Schlägen, Trace?"
Er nickte überzeugend und wich von mir weg. "Ja. Lass es besser. Nein, sag mal, wovor hast du Angst?"
Ich wandte den Blick von ihm ab und überblickte wieder die Landschaft um uns herum. Wir hatten die Bergspitze fast erreicht, jetzt fehlten nur noch etwa hundert Meter. Von hier sah man die Abfahrtspiste, die von unzähligen dunklen Punkten bevölkert war.
Ich könnte es ihm sagen. Könnte diesen ernsten Moment aufrecht erhalten. Aber ich ließ es bleiben. "Vor Waffeln", scherzte ich. "Und Wolken. Diese weißen Schäfchenwolken, weißt du? Die machen mir 'ne Heidenangst. Die sehen aus wie Serienmörder."
Trace verdrehte die Augen. "Ja, klar, mit Maschinengewehren und Skimasken. Ich glaube, du wirst dich mit meinen Brüdern gut verstehen. Vor allem mit Will und Xav, die haben auch nur Blödsinn im Hirn. Victor ist der Ernste, Uriel der Goldjunge, Yves ist ein Wunderknabe und Zed hat gerade seine rebellische Phase hinter sich und erleidet manchmal Rückfälle. Ich glaube, alle außer Vic und Will haben eine Freundin. Bei denen solltest du dich in Acht nehmen. Wenn du auf sie den gleichen Einfluss hast wie auf Di, dann natürlich nicht, aber Sky und Phee, die Partnerinnen von Zed und Yves, gehen gerne shoppen und haben eine schwere Vergangenheit. Crystal, Xavs Freundin, arbeitet als Modefabrikantin und nebenbei als Model. Und der jüngste Zuwachs, die Freundin von Uriel,  ist Lehrerin."
Ich schluckte schwer. "Wieso habe ich das Gefühl, ich werde gerade in deine Kanickelfamilie aufgenommen?"
Trace grinste. "Weil es so ist. Du wirst die Anderen sowieso alle noch kennenlernen. Achso, und da wäre noch was; halt dich von meiner Tante mütterlicherseits fern. Sie ist nicht mehr ganz auf der Spur."
"Aber du, oder wie?", murmelte ich spöttisch. Die Aussicht, Traces Familie zu treffen, gefiel mir nicht. Die Jungs klangen alle ziemlich cool, und persönlich hatte ich auch nichts gegen die Frauen, aber so wie Trace sie dargestellt hatte, waren das alles Goodgirls mit Modelmaßen. Bei so etwas konnte ich eben nicht mithalten. Ich war weder gut und sanft und freundlich noch hatte ich annähernd Modelmaße. Ich war auf meine 1,73 ziemlich stolz, aber ich hatte nicht diese Strichbeine, hatte breite Hüften und eine mittemlmäßig schmale Taille. Ich war nicht schlank genug, obwohl meine Rippen hervorstachen, sondern hatte Sixpackansätze auf meinem Bauch. Ich war relativ breitschultrig für ein Mädchen, meine Arme waren muskulös- wenn auch noch lange nicht so wie Traces-, mein Gesicht war oval. Ich hatte breite Kiefer, keine allzuhohen Wangenknochen und ansonsten ein ziemlich gewöhnliches Gesicht. Das einzige, was ich daran mochte, waren meine Augen. Sie waren grünbraun, von einem dunklen, schwarzen Ring umgeben und veränderten ihre Farbe je nach Lichteinfall in Grün oder Braun.
Wir kamen oben an und Trace zeigte mir den Platz, an dem ich alles am Besten überblicken konnte. "Ich würde dich nachher abholen, aber ich habe in Denver unten einen dringenden Einsatz, ich weiß noch nicht, wie lange er dauert. Weißt du, wie du nach Hause kommst?", fragte er schuldbewusst.
Nach Hause. Das war jetzt mein Zuhause. Hier, in den Bergen, bei Diamond und Trace. Für ein Jahr würde ich hier wohnen, arbeiten und leben. Und nach diesem Jahr würde ich wissen, ob ich bereit war, zurück an die Uni zu kehren oder ob ich es meinem Vater gleichtat und zur Bundeswehr ging.
Ich wusste, dass es 2014 eine Statisitken gab, die besagten, dass etwa jede zweite Frau bei der Bundeswehr sexuelle Anspielungen oder Übergriffe hinter sich hatte, aber trotzdem. Für mich bedeutete Bundeswehr Freiheit, Stärke und Leben, egal, das ich einen Vorgesetzten oder eine Vorgesetzte haben würde, dass ich mich stramm an Regeln zu halten hatte und dass mein Leben dadurch erst Recht auf dem Spiel stand.
"Ja, ich weiß, wie ich nach Hause komme", erwiderte ich und riss mich damit grob aus meinen Gedanken. "Danke."
Trace nickte, drehte sich um und ging den Weg zurück, den wir gekommen waren. Ich wandte meinen Blick zur Piste und beobachtete weiter, wie die Menschen über den Schnee rauschten.
Kleine, dunkle Punkte auf der weißen, schier endlosen Ebene.
Schließlich seufzte ich, schüttelte meine Faulheit ab und lief näher zu den Abfahrtspisten hinüber, um von Nahem den Überblick zu behalten.



Relieving Lake (Die Macht Der Seelen- FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt