Kapitel 44

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Das Warten stellte sich als das Schlimmste an der ganzen Sache heraus. Nicht zu wissen, ob mein Plan aufgehen würde. Nicht zu wissen, was als Nächstes geschah. Meine Wachen hatten mich sehr bald nach meiner Kontaktaufnahme zu Summer abgeholt und in den Trainingsraum gebracht. Kurz darauf kamen die wenigen Willenlosen, die noch übrig waren. One, Two, Three, Six und Aight waren ja inzwischen alle fort. Mir blieben somit nur noch Four, Five und Seven - wie es bei Victor und seinen Willenlosen stand, wusste ich nicht.

Vor etwa einer Dreiviertelstunde hatte ich Four dann losgeschickt, um den Raum zu finden, den Timo Whelan mir genannt hatte. Den Lakaien, die herumstanden und uns bewachten, hatte ich erzählt, dass Four für mich Victors Trainingsfortschritte beobachten und mir die besten Methoden vermitteln sollte. Ob sie es jemand anderem geglaubt hätten, wusste ich nicht, doch zumindest meine Wachen mochten mich genug, um genug Vertrauen in meine Worte zu setzen, um zuzulassen, dass Four ging.
Und ich arbeitete weiter daran, die Zeit zu verlängern, die ich die Willenlosen kontrollieren konnte. Vielleicht käme ich sogar voran, wenn ich mich konzentrieren könnte, doch mein Blick richtete sich alle paar Minuten auf die Tür, in der Hoffnung, dass Four mit guten Nachrichten auftauchen könnte. Doch meine Spionin blieb weg.
Mir kamen kaum noch Ideen, wie ich die Befehlszeit verlängern könnte, und um natürlich wollte ich auch keine Ideen haben. Stattdessen vertrieb ich mir die Zeit damit, über die Vorgehensweise meiner Mutter zu rätseln. Hatte ich mich in ihr wirklich getäuscht? Keine Mutter würde ihre Tochter zur Zielscheibe machen, das tat man einfach nicht. Wenn man ein Kind hatte, schützte man es. Das war ein ungeschriebenes Gesetz.
Vielleicht hatte sie einfach nur mir genug vertraut, um diese Bürde zu tragen, vielleicht wusste sie, dass ich damit klarkam. Und sicher hatte sie nicht geplant zu sterben, sie hatte gedacht, mich noch lange unterstützen zu können, auch wenn sie gewusst haben musste, dass ihr Tod sich näherte, je länger sie sich mit Gesellen wie Trissa abgab. Meinen Vater hatte sie nicht wählen können, damit hätte sie mich zu einer noch größeren Zielscheibe gemacht, denn er hätte alles getan, um mich zu retten, selbst Tausende Menschen zu Opfern zu machen. Sich selbst auch nicht, denn sie hätte das für mich ebenfalls getan - jedenfalls die Frau, die ich zu kennen geglaubt hatte.
Und ob sie Arbeitskollegen oder Freunden genug vertraute, um ihnen so eine große Macht zu übertragen, war unklar. Aus unserer Familie fiel mir auch niemand ein, der sonderlich geeignet gewesen wäre, viele starben früh und besonders groß war der Stammbaum sowieso nie gewesen. Insofern war es gar nicht so abwegig, dass sie mich gewählt hatte.
Was wiederum bedeutete, dass ich sie auf keinen Fall enttäuschen durfte. Ich musste die Tabletten vernichten, ich musste Trissa überlisten. Meine Mutter war tot, aber ich wollte auch eine Tote nicht enttäuschen. Zwar hielt ich die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch irgendwo war und das, was hier passierte, bemerkte, für extrem gering, aber dennoch war ich es ihr schuldig. Denn ich war an ihrem Tod Schuld gewesen.
Ich wusste noch nicht, ob ich es meinem Vater übel nehmen sollte, dass er mir das alles hier verschwiegen hatte. Gerne würde ich mir einreden, dass er es zu meiner Sicherheit getan hatte, dass er mich aus diesem ganzen Kram raushalten wollte, aber das konnte ich nicht. Er hatte nichts mehr damit zu tun haben wollen. Er hatte nach dem Tod meiner Mutter das ganze Savantzeugs vergessen wollen - was man ihm nun wirklich nicht nachtragen konnte. Aber es hatte mich mehr in Gefahr gebracht als behütet. Ich wusste kaum etwas über das, was mein Leben aufs Spiel setze, ich kannte mich nicht mit Gaben oder Seelenspiegeln oder sonst etwas aus, was mir jetzt helfen könnte. Wenn ich damit aufgewachsen wäre, hätte ich jetzt vielleicht genug darüber gewusst, um Victor und mich hier rauszuholen. Allerdings müsste Victor seine Gabe auch auf Trissa anwenden können, wenn er ihm nahe genug kam, da Kiras Schutzschild ja jetzt fort war. Und ich würde eventuell meine Gabe anwenden und Trissa auf unsere Seite ziehen können, wenn Victor mir dabei half.
Die Tür zur Trainingshalle ging auf. Mal wieder. Aber diesmal war ich heilfroh darüber. Four stürmte in den Raum (ich hatte ihr gesagt, sobald sie die Informationen hatte, solle sie sich beeilen), direkt auf mich zu. Ich stieß mich von der Wand ab und lief ihr ein paar Schritte entgegen, bis sie keuchend vor mir anhielt. Ungeduldig wartete ich, bis sie wieder genug Luft bekam, um mir Bericht zu erstatten.
"Der Raum ist relativ klein", berichtete sie, noch immer leicht außer Atem. "Du hattest recht, in einem Regal an der Wand liegt ein Karton, in dem sich weiße Tabletten befinden. Es sind Zig-tausend, alle aufeinandergehäuft. Sonst liegen da viele Waffen, von einfachen Pistolen zu Gewehren, an einer Wand ist ein riesiges Schlüsselbrett befestigt. Es sind die Schlüssel zu den Zellen. Und rechts, zwischen Militär-Ausrüstung, liegt so ein großer Schalter mit einem grünen Knopf. Von da noch ein paar Türen geradeaus ist eine Tür, über der Exit steht."
Sie sah mich kühn an, trotz ihrer bereitwilligen Erklärung. Four mochte mich nicht, sie handelte nur, weil sie musste. Anders als Six hielt sie mich für eine von Trissas Lakaien, sie dachte, ich würde irgendeinen kranken Spaß daran haben, Menschen zu unterwerfen. Und auch wenn ich es vielleicht mochte, wenn Menschen das taten, was ich von ihnen wollte, so hatte ich ihre Untergebung nie gewollt.
>Victor? Der Raum, den Mister Whelan mir genannt hat, ist richtig. Dort werden sie aufbewahrt, die Tabletten sowie der Auslöser. Four war gerade da.<
Ich wies Four an, zu den anderen zu gehen und ihre Kampffähigkeiten weiter zu trainieren - mein Wortlaut war es, der die Zeitspanne verlängern sollte - dann lehnte ich mich zurück an die Wand. Es schien immer leichter, hier rauszukommen. Wir hatten einen Verbündeten in den gegnerischen Reihen, wir wussten, wo wir die Tabletten und meinen Auslöser finden konnten, wir konnten miteinander kommunizieren und Trissa wahrscheinlich sogar steuern, wenn wir ihm wieder nahe genug kamen.
>Trissa lässt mich zu sich rufen, scheinbar ist Kiras Verschwinden aufgefallen. Du wirst wahrscheinlich danach geholt.< Gut, dass das anders als ein Handy funktionierte und er beinahe sofort antwortete.
Ich ließ meinen Blick über meine Willenlosen schweifen, die verbissen aufeinander einprügelten, zu meinen Wachen, die sich mit den anderen Lakaien an den Ausgängen postiert hatten und uns konzentriert zusahen.
>Kannst du Trissa kontrollieren?<, fragte ich willkürlich. Wenn Victor Trissa übernahm, könnte ich mich mit den Tabletten beschäftigten.
>Vermutlich. Allerdings wird es auffallen, ich begegne ihm nur in Handschellen und es sind immer Wachen dabei. Wie lange das halten wird, weiß ich also nicht. Ich denke nicht, dass wir genug Glück haben und die Lakaien ohne selbst nachzudenken auf seine Befehle hören, sodass es nichts bringen wird, ihm zu befehlen, ihnen zu sagen, sie sollten mich in Ruhe lassen.<
>Du findest schon einen Weg. Ich versuche, zur Lagerhalle zu kommen und die Tabletten zu vernichten. Vorher sag ich Will Bescheid, dass er sich Verstärkung holen soll und sie sich auf den Weg machen müssen. Du kümmerst dich darum, dass mit Trissa, den Lakaien und den Willenlosen alles geregelt ist, ja? Du weißt, wo Trissas Büro ist, nicht wahr? Davor ist die Trainngshalle. Von dort aus musst du fünfzehn Türen geradeaus, dann links abbiegen, die dritte Tür ist der Raum. Den Gang weiter runter ist der Ausgang.<
>Der Plan ist nicht gut<, bemerkte Victor missbilligend.
Ich ging abermals von der Wand weg, zählte die anwesenden Lakaien. Fünf. Drei Willenlose und ich. Four, Five und Seven waren geübte Mörder und Diebe. Ich nicht. Sicher, wenn es hart auf hart käme, könnte ich versuchen, es mit mindestens einem von ihnen aufzunehmen, aber das war kein Kampf wie der, den Zed un dich uns geliefert hatten. Es war kein Kampf wie der, auf den Victor mich seit Wochen vorbereitete. Das waren organisierte Trainingskämpfe, kein wildes Aufeinanderschlagen und Ausweichen wie der, der mir jetzt bevorstand.
>Immerhin habe ich einen<, entgegnete ich. >Also, willst du weiter hier rumlungern und in deiner Zelle verkochen oder hilfst du mir?<
Ich würde meine Willenlosen beauftragen müssen, mir den Weg freizuhalten. Nicht, weil ich Angst davor hatte, involviert zu werden, sondern weil ich wusste, ich würde es nicht schaffen, und ich musste hier unbedingt raus.
>Stirb nicht.< Eher ein Befehl als eine Bitte, aber beides wäre mir sehr willkommen. Mit diesen Worten kappte Victor unsere Verbindung, aber ich wusste, er würde mir helfen. Hoffentlich würde Will es mit dem Fluchtwagen schnell genug hier her schaffen, denn wenn sie nicht da waren, wenn wir rauskamen, platzte mein schöner Plan.
"Four, Five, Seven, kommt her", sagte ich laut. Sofort lösten meine Willenlosen sich voneinander, richteten sich auf und kamen zu mir. Seven hatte eine ordentliche Prellung auf der linken Wange, Five hinkte leicht, aber Four war noch gut in Form. Das würde auch noch reichen müssen.
Die drei versammelten sich vor mir, auch wenn man ihnen deutlich ansah, dass sie es nicht wollten. Ich blickte kurz zu den Lakaien. "Ihr werdet gleich auf diese Lakaien losgehen. Die fünf, die an den Ausgängen stehen, nicht auf mich, selbstverständlich. Ihr werdet versuchen, sie so schnell wie möglich außer Gefecht zu schalten, aber wenn sie k.o. oder tot sind, werdet ihr nicht weiter auf sie einschlagen, sondern euch sofort den anderen widmen. Ihr werdet mir den Weg zum Ausgang ermöglichen, die Lakaien von mir fernhalten. Wenn ihr sie alle besiegt habt, lauft ihr zu dem Raum, in dem Four gerade schon war. Vielleicht werdet ihr mich da noch antreffen, vielleicht auch nicht. Wenn nicht, dann holt euch die Schlüssel und befreit alle Willenlosen oder Gefangenen, die hier in Zellen sitzen und verhelft ihnen zur Flucht. Solltet ihr anderen Lakaien begegnen, macht sie fertig."
Stumm sahen sie mich an, warteten auf mein Startsignal. Seven schien überrascht, Fives Miene war wutverzerrt - vermutlich, weil er schon wieder für mich kämpfen musste - und Fours Gesicht war einfach nur ausdruckslos.
>Will, schnapp dir Xavier, Zed und Trace und hol uns ab. Irgendwer soll uns orten. Und, um Himmelswillen, beeilt euch bitte.<
Mein Seelenspiegel brauchte nicht lange um zu antworten: >Wir kommen. Crystal wird euch orten. Lake, pass bloß auf dich auf, ja?!<
>Immer doch.< Ich fokussierte meinen Blick wieder, warf einen weiteren Blick zu den Lakaien an der Tür und befahl: "Los jetzt."
Four war die, die meinem Blick am Längsten standhielt, bevor sie sich abwandte und den anderen folgte, die sich unauffällig den Lakaien näherten. Normalerweise war ich kein großer Fan von dem Prinzip auf sie mit Gebrüll, aber jetzt gerade würde ich das gutheißen, weil es schneller gehen würde. Aber na ja. Das war mein erster Ausbruchsversuch. Ich war seit mehr als einer Woche hier. Ich sollte endlich hier weg.
Seven griff als Erstes an. Die nächste Lakai wurde plötzlich von ihm angesprungen, er nahm ihn in den Schwitzkasten. Während die Lakai wild mit den Armen und Beinen fuchtelte und versuchte, einen vernünftigen Schlag zu platzieren, machten Four und Five sich bereit, die anderen Wachen von der erstickenden fernzuhalten. Jetzt wünschte ich mir, das mit dem Ersticken würde so schnell gehen, wie es in Filmen immer gezeigt wurde. Leider tat es das nicht. Zwar wurden die Versuche der Lakai, Seven loszuwerden, immer schlapper, doch k.o. war er noch lange nicht. Four bekam es nun mit einer der anderen Lakaien zu tun, und kurz darauf wurde auch Five in einen Kampf verwickelt. Ich schlich mich außen an ihnen vorbei, auch wenn alles in mir danach schrie, mich einzumischen. Ich könnte meinen Willenlosen helfen, von hinten angreifen, doch ich musste hier weg. Musste mich hier raus bringen.
Zum Glück hatten die Lakaien noch nicht registriert, dass ich nicht mitkämpfte, sie stürzten sich zu fünft auf meine vier Kämpfer. Währenddessen bewegte ich mich unauffällig an der Wand entlang zum Ausgang, versuchte, niemandem ins Auge zu fallen.
Seven ließ seinen Gegner los, der schlaff zu Boden fiel, und bekam es sofort mit dem nächsten zu tun. Er funkelte mich kurz an, bevor er von seinem Gegner auf den Boden geworfen wurde und seine Konzentration darauf verwenden musste zu gewinnen. Four und Five kämpfen Seite an Seite, schlugen und traten auf alles ein, das ihnen zu nahe kam. Schließlich löste sie sich von dem Finnen, schlug eine Lakai nieder und hockte sich auf seine Brust. Ihre Schläge prasselten schnell auf ihn ein, und während er versuchte, seine Deckung oben zu halten, war sie schon dabei, seine Kehle zu zerquetschen.
Five wurde von den anderen beiden Lakaien auf den Boden gedrückt. Ich sollte ihm helfen, auch wenn er mich nicht leiden konnte. Und ich sollte Four dazu bringen, ihren Gegner nur ohnmächtig zu schlagen, nicht umzubringen. Aber das war jetzt ihr Kampf. Und mein Weg aus der Halle hinaus stand offen.
Also rannte ich los. Ich sprang über den Körper des Bewusstlosen hinüber, landete auf der anderen Seite und raste weiter. Knapp schlug ich einen Haken um Seven, der auf dem Boden mit seinem Gegner rang und nichts mitbekam, dann zischte ich an Five und seinen Gegnern vorbei, die ihn gebändigt hatten und an Four, die ihrem Gegner mehr als ebenbürtig war. Aus der Halle hinaus. In den Gang hinein.
Es tat gut zu rennen. Ohne meine Anhängsel. Einfach so schnell ich konnte durch einen Flur rennen, hinter mir die leiser werdenden Kampfgeräusche. Meine Arme schwangen zu beiden Seiten meines Körpers, meine Füße pochten unregelmäßig und in schneller Abfolge auf den Boden, meine Haare flogen hinter mir her, verfingen sich in meinem Gesicht und nahmen mir die Sicht.
Ich konzentrierte mich auf meine Atmung, achtete darauf, dass sie gleichmäßig blieb, aber genauso sehr konzentrierte ich mich auf den Gang. Jede Tür, an der ich vorbeikam, wurde gezählt. Zehn. Ich zog mein Tempo weiter an, rief mir ein Lied ins Gedächtnis, zu dessen Takt ich laufen konnte, damit ich nicht aus dem Rhythmus kam, während ich zählte. Ausatmen, einatmen. Eins, zwei, drei. Einatmen. Eins, zwei, drei. Ausatmen. Dreizehn Türen. Die Abzweigung hob sich von der fahlen Umgebung ab.
Ich hörte hinter mir Schritte. Sie waren entfernt, aber ich konnte nicht zurücksehen, um herauszufinden, wer mir da hinterherrannte, denn ich musste ja die Türen zählen. Vierzehn. Ich näherte mich der linken Wand, damit ich schneller abbiegen konnte. Mein Atem wurde ungleichmäßiger. Fünfzehn. Schlitternd bog ich um die Ecke und sah aus dem Augenwinkel, wie am anderen Ende des Ganges eine einsame Gestalt mir hinterherrannte. Eine Lakai. Mist.
Die Tür war da. Am Ende des Ganges leuchtete das grüne Exit-Schild. Wie gerne würde ich jetzt einfach weiterrennen, die Tabletten und den Auslöser vergessen und das alles hinter mir lassen. Doch das konnte ich nicht. Ich musste einmal in meinem Leben an meine Mitmenschen denken.
Zum Glück war die Tür unverschlossen. Ich stieß sie auf, schlug sie hinter mir zu, damit ich die Lakai hören würde, wenn sie reinkam.
Four hatte den Raum gut beschrieben. Der Karton, in dem sich die Tabletten befinden mussten, war gut zu erkennen. Die Waffen, die Schlüssel, die Ausrüstung. In einer Ecke standen ein paar Kanister, in denen ich Benzin vermutete, daneben im Regal konnte ich Feuerzeuge ausmachen. Ich blickte mich wild um, bis mir der Schalter ins Auge sprang, den Four erwähnt hatte. Eilig hastete ich hinüber, nahm das Gerät in die Hand. Der Chip musste erst ausgeschaltet werden, sonst wurde es zu gefährlich.
Wenn es nicht er war, hatte ich jetzt ein Problem. Wenn der Knopf für etwas ganz anderes zuständig war, wenn ich jetzt irgendetwas auslöste. Doch ich musste es versuchen, selbst durch die Tür hörte ich die schnellen Schritte der sich nähernden Lakai. Also drückte ich den grünen Knopf.
Es passierte nichts Drastisches. Nichts ging in die Luft. Keine Türen wurden in die Luft gesprengt, kein Feueralarm ging an und keine Laserstrahlen verglühten mich. Ich nahm lediglich ein stetiges, schrilles Piepen in meinem Ohren wahr, aber es schien eher von innen zu kommen als von draußen. Der Chip. Er war aus.
Die Tür wurde aufgestoßen, die Lakai schlitterte herein. Seine Waffe hatte er scheinbar beim Kampf gegen meine Willenlosen verloren, doch auch so wusste ich, dass ich, erschöpft wie ich war, keine guten Chancen gegen ihn hatte. Er war niemand aus dem SEK-Team aus irgendwelchen Krimi-Serien, die nie etwas konnten. Er war keiner der Gegner, die beim Schießen nicht trafen. Ich befand mich in keinem verdammten Film. Sondern im echten Leben. Er konnte kämpfen, er war erfahren. Ich nicht.
Es war keine meiner Wachen. Mit denen hätte ich vielleicht noch verhandeln können. Es war eine der fremden Lakaien, die seit meinem kleinen Streich zusätzlich postiert worden waren. Er gab nichts von sich, keinen höhnischen Kommentar, er lächelte nicht einmal. Er war auch nicht wütend. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos.
Ich wich langsam zurück. Meine Hand rückte langsam zur Seite, griff nach einer der Pistolen im Regal. Ich umschloss den kalten Griff, zog sie zu mir und hob sie gegen die Lakai. Er schien vollkommen unbeeindruckt. Wieso war es ihm so gleich, dass ich ihn mit einer Waffe bedrohte? Hoffentlich war sie geladen. Bitte mach, dass sie geladen ist. Ich entsicherte sie mit einem schnellen Griff, so, wie Victor es mir beigebracht hatte.
Nichts vergessen. Stell dich jetzt nicht blöd an. Keine Sorgen machen. Zielen. Auf Rückschlag gefasst machen. Abdrücken. Die Kugel löste sich aus dem Lauf. Das Geräusch nahm ich kaum wahr, das Piepen war noch da, wenn es auch durch das Adrenalin abgeschwächt wurde. Die Kugel traf ihr Ziel. Immerhin, in einer solchen Situation hatte ich nicht verzielt.
Der Mann stolperte kurz zurück, doch dann fing er sich wieder. Wieso fiel er nicht? Ich drückte ein weiteres Mal ab. Die Kugel traf ihn erneut mitten in die Brust. Diesmal stolperte er nicht einmal. Was war da los? Wieso machte das nichts? Erst jetzt sah ich, dass die übliche Jacke, die die Lakaien hier trugen, dicker war, irgendwie aufgeplustert. Nein. Nein!
Er trug eine schusssichere Weste, dem war ich mir nun fast sicher. Als ob er gewusst hätte, dass er heute abgeknallt werden sollte. Angeblich gab es in China ein Gesetz, dass es verbot, einem Ertrinkenden das Leben zu retten, weil man somit in das Schicksal eingreifen würde. War das nicht auch irgendwie Eingriff? Okay, ich glaubte nicht an Schicksal, aber es wäre schön, würde er es tun. Also keine Pistole.
Ich sah mich um. Meine Zeit wurde knapp, die Lakai kam zügig auf mich zu. Mein Blick fiel auf die Benzinkanister. Schüssen konnte die Weste etwas entgegensetzen, aber gegen einen Brand würde sie auch nicht helfen. Und selbst wenn die Lakai floh, die Tabletten würden vernichtet werden. Also tat ich etwas, was ich nicht tun sollte.
Ich drehte meinem Gegner den Rücken zu. Mit zwei großen Schritten war ich da, packte einen Kanister, schraubte den Verschluss ab und wirbelte damit herum. Das Benzin spritzte raus, zu allen Seiten, lief auf den Boden, sprenkelte die Wände, traf auf das Regal. Die Lakai machte einen Satz auf mich zu, und ich warf den Kanister zu dem Karton, klaubte mir ein Feuerzeug vom Regal und wurde dann zu Boden geworfen. Ich konnte nicht sehen, ob ich mein Ziel getroffen hatte, ob das Benzin den Karton getroffen hatte, weil der Mann auf mir lag und mir mit den Händen die Kehle zudrückte, aber ich konnte hoffen.
So wie es aussah, würde ich diesen Raum nicht mehr lebendig verlassen. Ich hatte mich selbst verletzt. Hatte Selbstmord begehen wollen. Hatte in den Krieg ziehen wollen, nachdem mein Sprung missglückt war, damit ich dort an der Front erschossen wurde. Aber jetzt, wo die groben Hände der Lakai mir die Luft abdrückten, mein Gesicht heiß wurde und ich mich nicht gut genug konzentrieren konnte, um das Rädchen am Feuerzeug fest genug zu drehen, damit die Flamme anging, wünschte ich mir, dass es anders wäre. Dass ich bei Will wäre.
"Du wirst uns nicht beide umbringen", zischte die Lakai. Sein Gesicht war vor Anstrengung verzerrt, weil ich ihm mein Knie immer wieder in den Magen rammte, doch er gab nicht auf. Die Haut an meinem Daumen schien abzupellen, so häufig, wie ich ihn grob über das Rädchen zog. Ich konnte nicht sehen, wo es war, konnte nicht sehen, ob ich überhaupt an der richtigen Stelle drehte, doch es musste so sein. Ich konnte nicht einfach sterben und nichts bewirken.
"W...er..n i..r a ...ehn", hustete ich. Ich wollte uns beide nicht umbringen. Ich wollte weder mich töten noch einen anderen Menschen, auch wenn ich damit nicht die größten Probleme hatte. Aber ich wollte verhindern, dass Trissa sich weiterhin Menschen unterwarf, mit dem Überbleibsel meiner Mutter. Ich würde das Letzte vernichten, das von ihr übrig war. Ihr Andenken.
Vor 17 Jahren hatte sie sich zwischen mich und diese Kugel geworfen. Und heute würde ich vielleicht sterben. Schwarze Pünktchen tauchten vor meinem Auge auf, und ich hatte es noch immer nicht geschafft, das Feuer anzumachen. Meine Hände wurden schlaffer, aber ich musste es noch schaffen. Also biss ich die Zähne zusammen, nahm alle Kraft zusammen und drehte das Rädchen, drückte dieses Teil nach unten. Ich hörte das Aufflammen des Feuers. Ich hielt es schräg, ließ es mir egal sein, dass es an meinen Fingerspitzen leckte. Hielt es an die Benzinpfütze auf dem Boden.
Zischend flammte etwas auf. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie rötliche Flammen emporschlugen, doch ich konnte meinen Blick nicht mehr fokussieren. Alles war verschwommen. Die Lakai fluchte, dann verschwand das Gewicht von meiner Kehle, der Körper über mir war weg. Scheinbar hatte die Lakai die Flucht ergriffen. Jetzt wäre der passende Moment um mich aufzurappeln und aus diesem Raum zu fliehen. Doch ich konnte mich nicht aufraffen. Bei jedem Luftholen brannte meine Lunge entsetzlich.
Ich spürte meinen Körper kaum, lediglich meinen Hals, die Lunge und das Gefühl des Drucks auf meiner Kehle. Sehen konnte ich nur noch den Rauch, der zur Decke aufstieg und am Rande die roten Funken. Ich hörte das Knistern und meinen schnappenden, flachen Atem. Aber mein Körper erholte sich nicht. Da war nichts.
Ich versuchte, meine Arme zu bewegen, doch ich konnte nichts fühlen, das ich bewegen könnte. Mein Gehirn funktionierte noch, doch mein Körper schien nicht mehr anwesend. Aber mein Gehirn sendete die Signale, und das war noch da, bereit, selbige zu erteilen. Mühsam streckte ich das, was meine Arme sein mussten, aus, krallte meine Finger in den Boden - jedenfalls glaubte ich, dass es meine Finger waren - und zog mich nach vorne. Ich spürte, wie meine Hüfte über den kahlen Boden schabte.
"Lake!", brüllte jemand. Es könnten aber auch die Flammen sein, die immer lauter knisterten. Ich konnte nichts mehr sehen, doch ich spürte die unerträgliche Hitze auf meiner Haut, die mir sagte, dass das Feuer sich schnell ausbreitete und mir näher kam. Oder es war einfach mein Kopf, der sich einbildete, Wills Stimme zu hören.
Es war zu anstrengend, mich zu ziehen, ohne etwas zu fühlen. Ich wollte einfach nur noch liegen bleiben. Ich mochte Hitze doch eigentlich. Was hatte ich also jetzt hier gegen? Das war angenehm. Ich mochte Feuer. Es war heiß und wunderschön und wild. Ich liebte Feuer. Es wäre schön, mitten im Feuer zu liegen.
Irgendetwas brannte auf meiner Wange, doch ich versuchte nur zu lächeln, denn ich wusste, es war ein Funke des Feuers, das ich liebte. Meine Mutter wäre stolz auf mich. Ich hatte die Tabletten vernichtet. Ich hatte Frieden mit meinem Schicksal gefunden. Ich lag im Feuer, wissend, dass sie drauf und dran waren, mich zu verschlingen, und ich genoss es.
Ja, meine Mutter wäre stolz auf mich und auf das, was ich geschafft hatte.






Relieving Lake (Die Macht Der Seelen- FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt