Kapitel 14)

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Wir hatten den Essenstisch ausklappen müssen, damit alle daran Platz fanden, und auch jetzt war es noch sehr eng. Ich saß zwischen Diamond und Will, womit ich allerdings noch relativ Glück gehabt hatte. Mir gegenüber hatte Trace sich niedergelassen, flankiert von Xavier und Crystal, sodass ich einigermaßen von den Anderen abgeschirmt war.
Den Fragen konnte ich allerdings nicht entgehen.
"Darf man in Deutschland von einer Universität geworfen werden?", fragte Uriel interessiert. Ich betrachtete missmutig meine Nudeln, obwohl ich Pasta an sich liebte.
"Nein", murrte ich. "Aber für mich haben sie immer schon gerne Sonderregeln eingeführt."
Diamond kicherte. "Ich wette, du hast sie verdient. Ich meine, kein Mensch ist blöd genug, um von zwei Schulen zu fliegen und einfach weiterzumachen!"
Ich verdrehte die Augen. "Ich konnte nichts dafür. Jedenfalls nicht in der ersten Schule. Die Tadel wurden einfach zu schnell vergeben. Ich hatte Ethik, bevor ich es abwählen konnte, der Lehrer hat meinem besten Freund eine 6 gegeben, weil er dessen Schrift angeblich nicht lesen konnte, dann an die Tafel geschrieben, dass gute Schrift wichtig sei, und ich habe eben nachgefragt, was das Wort vor 'Schrift' heißen solle. Ich habe bis heute nicht herausgefunden, was daran so schlimm gewesen war... aber es könnte auch sein, dass ich den Tadel dafür gekriegt habe, dass ich ihm daraufhin seine Unterlagen gestohlen und die 6 rausgekillert habe."
Wenn sie Storys haben wollten, sollten sie diese kriegen. Vielleicht war meine Frage ein bisschen provokant gewesen, aber so schlimm jetzt auch wieder nicht. Zugegeben, ich hatte in den Unterlagen ein bisschen mehr rumgepfuscht als zugegeben- und nebenbei die Hälfte verbrannt- sodass ich am Ende keine Einträge oder Sechsen mehr hatte.
"Wie alt warst du da?", wollte Xav wissen.
Ich zog die Augenbrauen zusammen und dachte nach. Das war gerade auf dem neuen Gymnasium gewesen, frisch von der Grundschule weg. "Siebte Klasse", erwiderte ich zufrieden mit meinen Erinnerungen.
Xav wirkte erstaunt, dann bewundernd. "Starkes Stück für eine Siebtklässlerin. Der Punkt geht an dich, ich hab in der 7. noch nicht sowas angestellt."
Trace verdrehte die Augen. "Xav, du hast in der 7. gerade mal der Kantinentante dein Essen ins Gesicht geklatscht, weil du meintest, es würde nach verfaultem Tier riechen."
"Du hast was getan?!", fragte Karla von der Stirnseite des Tisches scharf.
Xav wurde blass. "Nichts. Trace erzählt mal wieder Müll. Ich habe nichts getan, Mum!"
Ja, da wurde der große Xav doch tatsächlich schüchtern. Eins musste ich Karla lassen, sie hatte ihre Söhne fest im Griff. Jedenfalls Xav. Irgendwann beschloss ich, Xav zu retten, da ich ihm das mehr oder weniger eingebrockt hatte, und fragte: "Kann man hier noch was Anderes als Skifahren?"
Karla verstummte abrupt und sah mich erstaunt über den plötzlichen Themawechsel an, aber Xav, sichtlich froh, aus dem Schneider gezogen zu sein, antwortete sofort: "Ja, am See kann man Kajak fahren, wir haben Football und Fußballmannschaften und Baseball geht auch. Wieso, ist dir Ski zu langweilig?"
"Ne, aber nicht anstrengend genug", erwiderte ich ohne Zögern. "Und bevor ich anfange, mein Zimmer auseinanderzunehmen, weil ich nachts nicht einschlafen kann, weil ich zu viel Energie habe, frag' ich lieber."
Victor, der zwischen Saul und Xav saß, schnaubte. "Glaub mir, du wirst fürs Training deine ganze Kraft brauchen."
"Verschone das Haus!", stieß Trace im gleichen Moment aus.
"Du bewegst dich den ganzen Tag, Lake! Wie kann es nicht anstrengend genug sein? Du musst alle zwei Minuten irgendein Kind aufsammeln, dass von den Skiern gefallen ist und gefahrläuft, überfahren zu werden!", protestierte Saul. Die Kinder rettete ich nur wegen des Jobs, versteht sich.
Ich zuckte die Schultern. "Weiß nicht, ist halt nicht anstrengend. Wenn wir mal vom Lärm absehen, die die machen."
Diamond kickte mir unterm Tisch gegen's Schienbein, um mich daran zu erinnern, dass eine Mutter hier mit mir am Tisch saß. Dankbar trat ich zurück. Sie jaulte auf und verzog das Gesicht, was sich anhörte, als würde man eine Katze an den Vorderpfoten halten und im Kreis durch den Raum wirbeln. Nein, ich hatte es noch nie ausprobiert, aber so in etwa stellte ich mir das Geräusch vor.
Will auf meiner anderen Seite unterdrückte ein Lachen und verbarg sein Gesicht hinter den Händen, damit niemand das Grinsen sah. "Miststück!", fluchte Diamond.
"Nicht fluchen, weißt du doch, Di!", flötete ich in ihrer Stimmlage. Will prustete leise.
"So höre ich mich nicht an!", behauptete meine Freundin, setzte sich aber wieder hin und bedachte mich mit einem weiteren strafenden Blick.
Tat sie wohl, aber das sollte ich ihr wohl besser nicht sagen. Bevor ich überhaupt etwas sagen konnte, mischte Saul sich ein, der bis dato geschwiegen hatte. "Apropos fluchen; habt ihr herausgefunden, was deine Gabe ist?"
Wir hatten uns gar nicht mehr damit beschäftigt, aber wahrscheinlich dachten die Anderen, dass wir uns darüber unterhalten hatten, als Sky, Victor, Will und ich im Wohnzimmer gesessen hatten. Ich stieß Will unauffällig an, um ihn darauf hinzuweisen, dass ich das Reden liebendgerne ihm überließ. Immerhin kannte er sich mit dem ganzen Kram besser aus als ich.
"Ähm, nein, noch nicht. Aber da wir festgestellt haben, dass Lake andere dazu bringt, in ihrer Gegenwart oder, wenn die Person längere Zeit unter ihrem Einfluss stand, Regeln zu brechen, wird das wohl etwas Derartiges sein."
Allerdings hatte es sich in meiner Schulzeit nicht nur auf Regeln beschränkt. Meine Freunde hatten sich an die gleiche Musik wie ich hörte gewöhnt, hatten langsam meine Meinungen geteilt und dieselben Dinge gemocht. Es war noch nicht einmal aus Absicht geschehen, aber sie waren mir gefolgt.
Doch einmal mehr schwieg ich und verriet nicht, was in mir vorging. Victor hatte unrecht; mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich diesen Menschen vertrauen konnte. Dass sie mich beschützen und verstehen würden. Aber ich hörte nicht darauf. Ich ignorierte und unterdrückte das Gefühl, schwieg einfach alles tot, was mir zu schaffen machte. Sie würden es niemals erfahren.
"Also meinst du, dass Lakes Gabe ist, ihre Mitmenschen zu Rebellen zu machen?", fragte Phoenix zweifelnd.
Will zuckte die Achseln. "Vielleicht. Oder so etwas. Du hast ja gehört, was Di gesagt hat; hast du Diamond jemals eine Beleidigung aussprechen hören, bevor Lake hier war?"
Diese Theorie tat mir weh, doch ich verschob dieses Gefühl und konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt, nicht darauf, dass ich mit dieser Gabe wahrscheinlich noch nie echte Freunde gehabt hatte. Wenn ich diese Gabe hatte, dann waren die Menschen mir nur Dank ihr gefolgt, nie aus freiem Willen. Dann hatte ich von Anfang an Recht gehabt und Di und Trace mochten mich eigentlich gar nicht.
"Ich glaube nicht, dass das so funktioniert", sagte Victor und rettete mich damit vor einem öffentlichen Absturz. Da die Anderen ihn fragend ansahen, erklärte er sich: "Mag sein, dass etwas Derartiges Lakes Gabe ist, aber sie wirkt nicht immer. Ich fühle mich wie immer, obwohl ich meine Abwehr vorhin vollkommen unten hatte ihr gegenüber. Wenn ihre Gabe so funktionieren würde, würde ich schon längst Veränderungen spüren."
Fuck. Er hatte seine Abwehr unten gehabt und ich hatte diesen Moment seiner Schwäche nicht ausgenutzt. Wann ich das wieder bekam, war unklar. Wenn überhaupt. Ich hätte die Möglichkeit nutzen sollen, doch ich hatte es noch nicht einmal bemerkt.
"Wieso hattest du deine Abwehr unten?", fragte Tarrynn, ohne sich darauf zu konzentrieren, dass Victor gerade alle Spekulationen zunichte gemacht hatte.
"Weil ich wissen wollte, ob ihre Gabe sich automatisch auf mich überträgt", log Victor ungerührt. Endlich noch jemand, der ohne Schuldgefühle log. "Und sie hat es nicht getan. Auch nicht, als ich sie aufgefordert habe, es willentlich zu tun."
Will sah mich fragend an, wahrscheinlich wollte er wissen, ob ich in Victors Kopf etwas gesehen hatte, aber ich schüttelte verneinend den Kopf. Selbst wenn ich bemerkt hätte, dass Victors Geist offen war, wie hätte ich den irgendetwas tun sollen, wenn ich keine Ahnung hatte, wie das funktionierte? Manche Dinge, wie zum Beispiel das Unterdrücken meiner Gefühle, tat ich automatisch, aber ein Angriff auf jemand Anderes- per Gedanken?
"Aber was ist, wenn sie nur funktioniert, wenn es für sie wichtig ist? Ich meine, auf ihrer Schule brauchte sie Freunde, aber sie hatte keinen Drang, dich zu transformieren", schlug Crystal vor.
Ich lachte tonlos. "Glaub mir, Victor zu transformieren, das wäre ein unglaublicher Drang."
Den scharfen Blick, den ich dafür quitierte, ignorierte ich einfach. Aber Victor gab die Verteidigung seiner Meinung nicht auf, entweder, weil er wirklich auf keinen Fall verlieren wollte, oder, weil er sich seiner Sache echt ziemlich sicher war.
"Du weißt selbst, dass die Idee nicht logisch ist. Lake wird erstens auch so Freunde gefunden haben, zweitens wissen wir alle, dass sie für Freundschaft keine Gabe anwenden würde, weil sie diese für überbewertet hält, und drittens hat sie sich noch nicht mal mit allen angefreundet, die in ihrer Gegenwart Regeln gebrochen haben. Trace hat doch erzählt, dass Lake irgendwann mal neben einer Streberin saß, und die daraufhin anfing zu reden. Sie hat sich nicht mit ihr angefreundet."
Ich stand auf, um meinen Teller in die Spühle zu räumen, da alle mit Essen fertig waren, und die Anderen folgten meinem Beispiel. Hoffentlich hatte Victor recht und meine Gabe war nicht für meine Freunde verantwortlich. Wenigstens nicht für Diamond und Trace.
"Können wir das wann anders ausdisskutieren? Ich muss morgen früh raus und habe einen ziemlich anstrengenden Tag vor mir", unterbrach Uriel unsere Konversation.
Victor blickte auf seine Armbanduhr. "Ja, ich muss auch weg. Und Lake sollte auch besser ins Bett, morgen wird ein ziemlich anstrengender Tag für sie."
Was hatte er bloß vor? Die Anderen brachen ebenfalls auf, ohne nochmal ein Wort über meine Gabe zu verlieren, aber ich wusste, dass das Thema noch nicht vom Tisch war. Zum Abschied umarmte Will mich und ich sog seinen Geruch ein, der mir nach einem Tag schon unglaublich vertraut wirkte. Wahrscheinlich würde er, wenn wir uns das nächste Mal treffen würden, so tun, als hätten wir uns nie gut verstanden. Das machten die Menschen immer; sie verstanden sich gut mit mir, aber dann wurde ich zu langweilig. Trotzdem behielt ich seinen frischen, herben Geruch in der Nase, als die Anderen alle weg waren.
"Hey, wir haben's überlebt!", sagte Diamond müde.
Ich wollte ihr mit dem Abwasch helfen, doch sie schüttelte abwehrend den Kopf. "Trace kann helfen, wenn Victor sagt, es wird anstrengend, kriegen wir dich sowieso nicht lebend zurück. Schlaf lieber."
Ich wollte protestierten, aber dann gab ich mich geschlagen und wünschte den Beiden noch Gute Nacht, bevor ich mich in mein Zimmer zurückzog, wo ich mir die Schminke abduschte und unter die Bettdecke schlüpfte.





Relieving Lake (Die Macht Der Seelen- FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt