Kapitel 43

404 27 0
                                    


Als ich aus meinem ruhigen Schlaf hochschreckte, fühlte ich mich vollkommen ausgeruht. Unter meinen Fingern spürte ich meine Rippen hervorstechen, meine Hüftknochen rieben auf der Matratze, aber das war ich inzwischen gewohnt. Ich war nicht abgemagert, und in meinem Gesicht oder an meinen Beinen sah man nicht viel davon, dass ich nicht gut aß, doch meine Knochen stachen mehr hervor. Doch gestern hatte ich vernünftig gegessen. Zwar hatte ich einen Teil des Essens auswürgen müssen, weil mein Körper nicht darauf vorbereitet gewesen war, derartig viele Kalorien mit einem Mal aufzunehmen, doch es war genug drinnen geblieben. Und trotzdem verspürte ich Hunger in meinem Magen, vernahm das leise Grummeln. Allein der kurze Kontakt mit Will hatte meinen Appetit angeregt, verbesserte meine Laune und verhalf meinem Körper dazu, sich wesentlich fitter zu fühlen.
Ich stand auf, Victors Jackett eng um meine Schultern geschlungen, und tapste zu meiner Kleidung, dir in einer Ecke lag. Der eiskalte Boden unter meinen nackten Füßen veranlasste ein Frösteln, das schnell zu Schmerz an meinen Fußsohlen anwuchs, doch ich ignorierte dies, ebenso wie die Tatsache, dass mein Atem als Dunstwolke zu sehen war, meine Nase taub und nur noch als benommenes, gelegentliches Stechen zu spüren und meine Finger bläulich angelaufen waren. Wenn ich schlief und mein Körper auf Energiesparmodus lief, ich mich nicht bewegte und die wenige Wärme aus der Luft verschwand, die das Öffnen der Türen, meine sportlichen Aktivitäten oder die Anwesenheit meiner Wachen mit sich führten, kühlte ich immer ziemlich aus. Das Zittern war immer noch da, aber langsam gewöhnte ich mich daran, sodass ich mich nicht mehr unter meiner Decke versteckte und hoffte, es ginge vorbei. Eigentlich wollte ich Will fragen, wie viel Uhr es war, wollte seine Stimme hören und die Hitze unserer Verbindung meinen Körper erwärmen lassen, doch ich hoffte, dass er schlief. Angeblich hatte er in letzter Zeit nicht viel Schlaf bekommen, und jetzt, wo er mich einigermaßen sicher wusste, hatte er vielleicht Schlaf bekommen. Außerdem spürte ich ihn auch so, zwar weniger stark, aber trotzdem wusste ich, dass er sich irgendwo da draußen befand, dass er lebte und es ihm gut ging - jedenfalls für diese Situation. Ich wollte nach meiner Kleidung greifen, doch meine Finger ließen sich nicht krümmen. Als ich die Luft tief einsog, brannten meine Lungen. Das Gefühl, dass es noch kälter wurde, stieg in mir auf. Meine Beine fühlten sich unbeweglich und schwer an, meine Atemzüge schmerzten und meine Körperteile schienen zerbrechlich und bei jeder Berührung mit der Wand durchzuckte Schmerz, ähnlich wie Splitter, meine Finger, grub sich in die Kuppen, schlitterte unter den Nägeln hindurch und jagte meinen Arm hinauf. Beim Blinzeln tränten meine Augen vor Kälte.
>Victor?<, fragte ich besorgt. >Wie steht's um deine Zellentemperatur?<
Selbst telepathisch klang meine Stimme rau und kratzig. Als ich schluckte, brannte mein Hals wie flüssiges Feuer, doch wärmer wurde mir da durch leider nicht.
Als Victor antwortete, wirkte es, als hätte er die Zähne zusammengebissen. >Ich sollte lernen, wie man einen Backofen bedient<, knurrte er. Das war Trissas Bestrafung. Unsere verschiedenen Temperaturen, bei mir kalt, bei ihm heiß, waren weiter verstärkt worden, die Extremausmaße schienen bald erreicht. Kalte Luft strich um meinen nackten Bauch.
>Sorry <, murmelte ich. Es war meine Schuld, hätte ich Trissa von Anfang an die Wahrheit gesagt, hätte er Victor jetzt nicht bestraft. Und der war zuvor schon für meine Lügen geschlagen worden. Endlich schaffte ich es, meine Sachen aufzuheben, aber als ich mich mit schmerzenden Gliedern wieder aufrichtete, entglitt mir der Overall und fiel zurück auf den Boden, weil ich mit meinen halberfrorenen Fingern nicht vernünftig greifen konnte.
>Du könntest versuchen, deine Temperatur über Will zu regulieren <, schlug Victor vor, ohne auf meine Entschuldigung einzugehen. Ihm war klar, dass ich nicht gefragt hätte, wenn meine Zelle normale Temperaturen betrüge.
>Will schläft, glaube ich.< Gut, es war mehr ein Hoffen als tatsächliches Glauben, aber besser als nichts. Und außerdem wollte ich Will nicht damit beunruhigen, dass zusätzlich zu meiner sowieso schon misslichen Lage auch noch die Gefahr bestand, dass ich in meinem Bett erfrieren könnte - und sein Bruder verdampfte.
>Hatte ich nicht erwähnt, dass ich es nicht mag, angelogen zu werden? Lake, Will möchte von dir hören!<
>Schön, dass du beschlossen hast, der Name Lake sei wieder gut genug für dich<, sagte ich spitz und überging den Rest seiner Bemerkung geflissentlich. Mit zusammengebissenen Zähnen und einer Menge Anstrengung schaffte ich es, meine Unterwäsche zu wechseln und die Hose des Kampfanzugs überzustreifen. Sie passte sich an meine Beine an, aber durch die Tatsache, dass sie ebenfalls schon die ganze Nacht hier in der Kälte lag, wärmte sie nicht besonders. Aber das würde sich ändern, die warme Luft in meiner Körpernähe würde zwischen der Kleidung und meiner Haut eingeschlossen werden und mich aufwärmen. Hoffentlich. Die Messer, deren eiskalter Stahl sich an meine Hüfte presste, verbesserte meine Laune nicht gerade, aber immerhin hatte ich etwas zur Verteidigung hier.
>Wie willst du es hinkriegen, dass der Willenlosen, den du auf Trissa ansetzt, alle zwei Stunden pünktlich wieder bei dir ist, um den Befehl aufzufrischen?<, fragte Victor, ohne auf unsere vorherige Konversation einzugehen, weil ich sowieso nicht nachgeben würde.
>Ich weiß es nicht!<, gab ich gereizt zurück, während ich vergeblich versuchte, meinen Overall überzuziehen. >Keine Ahnung. Ich werde eine Lösung finden. Irgendwie.<
Endlich schaffte ich es, den Overall über meinen Kopf zu streifen, ordnete schnell die Messer und schlüpfte in meine schwarzen Laufschuhe. Victors Jackett legte ich unter meine Decke auf das Bett, damit es ein wenig warm war, wenn ich wiederkam. Um mich warm zu halten, während ich darauf wartete, dass jemand mich abholte, lief ich auf der Stelle. Meine Zellentür wurde aufgeschlossen, ich vernahm gedämpfte Geräusche von draußen, jemand, der leise mit anderen sprach, dann ging die Tür auf. Die Tür wurde wieder geschlossen. Vor mir stand ein Mann, der mir vage bekannt vorkam.
Stumm musterte ich ihn. Er war relativ groß, hatte rotbraunes Haar und nichtsaussagende braune Augen. Die Haare. Er war der Kellner, der mir gesagt hatte, ich solle Will nicht gehen lassen. Er wusste, dass meine Verbindung zu Will anders war als die Freundschaft zwischen mir und den anderen Benedicts. Kaum merklich wich ich zurück, um Abstand zwischen uns zu bringen. Er konnte Will verletzen. Durch ihn kam er noch mehr in Gefahr.
"Sie arbeiten für Trissa", stellte ich tonlos fest.
Der Mann setzte sich auf mein Bett, sein Blick wanderte kurz zu der Kamera in der rechten oberen Zimmerecke, dann wieder zurück zu mir. "Ja, ich arbeite für Trissa. Es freut mich, dass du mich wiedererkennst. Willst du wissen, woher wir uns vor unserem erneuten Zusammentreffen kannten?"
Wortlos nickte ich. Der Mann klopfte auf die Matratze, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, mich neben ihn zu setzen. Will. Scheiße, Will, was hatte ich jetzt schon wieder getan?
"Ich war derjenige, dem du die erste Ladung Tabletten übergeben hast. Damals warst du siebeneinhalb, wenn ich mich nicht täusche. Und du hießt noch Beaver Tila, nicht Lake Crey. Aber ich habe dich sofort wiedererkannt. Du hattest damals schon diese Haare, und deine Augen würde ich überall erkennen. Setz dich neben mich, Lake. Bitte."
Ich wusste nicht, wieso ich es tat, aber ich setzte mich neben ihm auf das Bett. Vielleicht bewegte mich das Bitte dazu, ein Wort, das mir seit einer Woche nicht mehr begegnet war, vielleicht war es das warme, vertrauenserweckende Funkeln in seinen Augen.
"Wieso warst du dort?", fragte ich nervös.
Er lächelte. "Weil ich dich im Auge behalten sollte. Und du? Ganz alleine an einem Tisch sitzen, in einem Restaurant, das will doch niemand, oder? Wieso waren Trace und Diamond nicht dabei? Oder wenigstens Victor?"
Mühsam unterdrückte ich ein Stirnrunzeln oder ein sonstiges Zeichen der Überraschung und Ungläubigkeit. Mein Blick huschte an die Decke, zur Kamera, an deren Unterseite ein rotes Lämpchen blinkte, das mich darauf aufmerksam machte, dass sich aufzeichnete. Wie es um die Tonaufnahmen stand, wusste ich nicht, aber höchstwahrscheinlich waren sie dabei.
"Ich wollte eine Auszeit", erwiderte ich heiser. "Und, hatte Mr. Trissa einen Grund, ausgerechnet Sie auf mich anzusetzen?"
Der Mann hatte mir geraten, Will festzuhalten, ihn nicht gehen zu lassen. Jetzt war er hier und verschwieg Trissa von meiner Verbindung zu dem mittleren Benedict-Jungen. Er war derjenige gewesen, dem ich die erste Lieferung damals übergeben hatte, vor mehr als 17 Jahren. Seitdem stand er in Trissas Dienst, und jetzt hinterging er ihn.
"Nun ja, ich habe mich angeboten. Was tut man nicht alles, um auf den kleinen Schützling aufzupassen?" Hinter seiner höhnischen Stimme verbarg sich etwas, das ich ehrliche Fürsorge nennen würde. Abermals musterte ich ihn eindringlich. Seine Haare ähnelten denen meines Vaters nur minimal, auch wenn sie denselben Rotstich besaßen. Seine Augen waren so gewöhnlich, wie Augen eben gewöhnlich sein konnten. Seine Gesichtszüge waren auch nicht wirklich außergewöhnlich, aber im Gesamten sah er nicht schlecht aus. Für sein Alter. Seine dunklen Augenbrauen brachten seinen Augen das einzig Leuchtende. Halt. Die Augenbrauen. Ein leichter Knick gen Ende.
Summer.
"Ihren Schützling?", spottete ich trocken. "Was macht mich denn zu ihrem Schützling?"
Ein fast wehmütiges Lächeln trat auf das Gesicht des Mannes. "Du weißt es nicht? Ich dachte, meine Cousine hätte es dir erzählt. Aber sie hat deinen Vater auch sehr lange nicht mehr gesehen, vielleicht konnte sie sich nicht mehr daran erinnern. Dein Vater und ich waren Schulfreunde, Lake. Dein Vater hat sie und ihre Mutter einst besucht, ich dachte, sie hätte sich daran erinnert, als sie dich gesehen hat. Ihr seht euch unfassbar ähnlich, du und Garett. Aber Summer war damals noch sehr jung. Jedenfalls wollte ich als Freund deines Vaters mich deiner persönlich annehmen."
Schock durchfuhr mich. Abgesehen davon, dass sich überall Verbindungen auftaten, die ich nicht erahnt hatte, machte es mich fertig, was meine Eltern mir so lange verschwiegen hatten. Meine Mutter hatte mich zur lebenden Zielscheibe gemacht, ohne mir jemals etwas davon zu sagen. Mein Vater hatte mir über 25 Jahre verschwiegen, dass ich Teil eines geringen Anteils der Weltbevölkerung war, der über abnormale geistige Fähigkeiten verfügte und nicht wenige Leute hervorbrachte, die die Herrschaft an sich reißen wollten. Allerdings musste man zur Fairness halber sagen, dass Trissa kein Savant war, er wusste lediglich von deren Existenz.
"Sind Sie ein Savant?", fragte ich, weil mir diese Frage trotz der laufenden Kamera relativ ungefährlich schien. Wenn er keiner war, könnte ich telepathisch Kontakt herstellen. Allerdings wusste ich nicht, auf wessen Seite er stand, auch wenn er mein Date mir Will vorerst verschwieg. Oder er tat nur so, als hätte er es verschwiegen, weil er von mir da durch Informationen erhalten könnte, an die Trissa über andere Menschen niemals kommen würde.
Doch der Mann schüttelte den Kopf. "Nein, ich bin, wie Mr. Trissa, ein einfacher Bürger ohne weitere Fähigkeiten." Er sah noch einmal zur Kamera, dann rückte er kaum merklich näher, bis unsere Hände sich berührten. Ich rückte nicht weg. War auch gut so, denn er steckte mir einen Zettel in die Hand, schnell und geschickt, sodass er nur für eine Millisekunde zu sehen war, eine Sekunde, die von unseren Schultern verdeckt wurde. Wenn wir Glück hatten, war die Übergabe nicht aufgezeichnet worden. Ich würde mir den Zettel später unauffällig ansehen und entscheiden, ob ich ihm traute oder nicht.
"Hast du Summer eigentlich mal getroffen?", fragte der Mann neugierig, brachte fast kaum merklich wieder Abstand zwischen uns.
"Ja. Wieso?" Kühl bleiben, Lake. Dir nicht anmerken lassen, wie geschockt du gerade bist. Aber es war schwer, denn er war seit einer Woche der erste neue Mensch, den ich zu Gesicht bekam. Zwar hatte ich schon Kontakt zu anderen Menschen, es war nicht so, dass ich in einer Arrestzelle sitzen würde, doch es waren immer nur die gleichen. Den Himmel hatte ich seit einer Woche nicht mehr gesehen, keine Sonne gespürt, ich war weder Skifahren noch klettern oder schwimmen oder Fußball spielen gewesen, hatte Victors Training unzählige Male versäumt und hatte mich nicht mit Trace gestritten. Hatte Will nicht gesehen. Die Unterhaltung mit ihm reichte mir nicht aus. Ich wollte ihn sehen können, wollte seinen Duft einatmen können, wollte ihn berühren. Wollte seine Nähe spüren.
"Hat sie von mir erzählt? Ich stehe meiner Cousine sehr nahe." Leicht kniff ich die Augen zusammen. Eigentlich hatte ich vorgehabt, nicht mit anderen Menschen als Will zu kommunizieren, die sich außerhalb dieses Gebäudes befanden, solange ich noch hier eingesperrt war. Ich wollte Diamond und Trace so unbedingt sprechen, dass ich es mir verbot. Aber Trissa hatte recht. Ich hatte die Auffassungsgabe meiner Mutter und ihren Sinn für Zusammenhänge geerbt. Der Mann wollte von mir, dass ich mit Summer in Kontakt trat und sie fragte, ob ich ihm trauen konnte. Was wiederum bedeutete, dass Kiras Leiche aufgefunden worden war. Unruhig krallte ich meine Finger ins Bettlaken.
"Nein, Summer erwähnte Sie nicht. Vielleicht ist einer der Gründe, dass Sie mich hier festhalten. Wie läuft es bei Mr. Trissa in letzter Zeit so? Hat er wieder erschreckende Entdeckungen gemacht?", fragte ich zwanghaft spöttisch. Der Mann grinste leicht. "Nein, da lief es relativ ruhig. Ich muss gehen, es ist hier rattenkalt. Mach dich bereit, du wirst bald abgeholt."
Er stand auf, lächelte mich noch einmal leicht überheblich an und klopfte dann dreimal gegen die Zellentür, bis diese geöffnet wurde. Zweimal kurz, einmal lang. Von draußen kam ein doppeltes, kurzes Klopfen zurück. Der Mann pochte mit der flachen Hand zweimal heftig, dreimal leichter gegen die Metalltür, bis der Ton den Raum dröhnend erfüllte. Ich hörte, wie die Riegel zurückgeschoben wurden, dann drehte sich ein Schlüssel im Schloss und die schwere Tür wurde aufgeschlossen. Ich sah meine Wachen im Türrahmen. Der Mann verließ den Raum, drehte sich dann kurz um und sagte: "Ich heiße Timo Whelan."
Dann wurde die Tür krachend hinter ihm zugezogen und ich blieb alleine in der Eiseskälte sitzen. >Ich hatte gerade eine Begegnung der dritten Art<, kündigte ich Victor an. >Weißt du etwas von einem Timo Whelan, der angeblich ein Onkel von Summer sein soll?<
>Ich weiß nicht genau. Summers Familie war noch nie Thema. Du kannst sie fragen. Wenn nicht über Will, dann weil sie mächtig genug ist, um eure Verbindung aufrecht zu halten, wenn du sie einmal gefunden hast. Sie ist ehrlich. Was man von dir ja nicht behaupten kann.<
>Ich habe gemerkt, dass es dir hier deutlich mehr Spaß macht, kontraproduktive Kommentare abzugeben, als draußen<, bemerkte ich belustigt. >Vielleicht wirst du mir ja immer gleichgültiger und ich färbe wieder auf dich ab. Oder ich tue es absichtlich, weil ich dich nicht mehr ertragen habe.<
>Oder es ist die Tatsache, dass ich nicht wirklich etwas Besseres zu tun habe, als kontraproduktive Kommentare abzugeben, du meine einzige Gesprächspartnerin bist und ich dich davon abhalten muss, Selbstzweifeln und Selbsthass zu verfallen, weil du dich in einer misslichen Lage befindest und Will da draußen ist und Angst hat. Solange du mich nerven kannst, machst du dich wenigstens nicht selbst fertig. Und jetzt stell Kontakt mit Will oder Summer her, ich muss unbedingt aus dieser Sauna raus.<
Genervt känzelte ich die Verbindung wischen Victor und mir und stellte eine andere her, mit Will. Summer kannte ich nicht gut genug, um sie einfach auf die Schnelle zu finden, ich hatte ihren Geist noch die berührt, doch Will war immer da, immer präsent und erreichbar.
>Will?>, fragte ich nervös. Ich wollte ihn nicht wecken. Vielleicht schlief er ja noch, ich wusste immerhin nicht, wie spät es war.
>Lake? Wie geht's dir?< Er klang hellwach, ausgeschlafen und voller frischer Energie. Gott, ich wollte auch so ausgeschlafen sein. Glücklicherweise hatte ich ihn nicht geweckt, auch wenn das momentan eigentlich das geringste unserer Probleme war.
>Ganz gut, eigentlich.< Von innen heraus erfüllte mich Wärme, vertrieb die bittere Kälte stetig. Erst wurde meine Brust wohlig warm, dann verteilte es sich über meinen Körper, meinen Hals, kroch meine Arme hinab bis zu meinen Fingerspitzen. Zu fühlen, wie sie auftauten, tat weh, doch immerhin wurde es warm. >Dir?<
Ah, ich hatte schon vergessen, wie es sich anfühlte zu atmen, ohne dass die Lunge zu explodieren schien. Meine Lippen waren leicht rissig, als ich über sie leckte, aber immerhin waren sie nicht mehr ganz so kalt. Die Prozdur ging irrsinnig schnell und war wahnsinnig effektiv. Stiche, ähnlich wie kleine Stromschläge, jagten meinen Arm von meinen Fingerkuppen hoch, dann prickelten sie und langsam kehrte das Gefühl zurück. Der Auftauprozess bei meiner Nase und meinen tauben Ohren dauerte länger, aber er setzte ein. Plötzlich spürte ich meine Beine wieder, auch wenn meine Zehen noch nicht anwesend zu sein schienen.
>Besser, seit ich mit dir reden kann<, erwiderte Will. >Es freut mich, dich zu sprechen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du dich nicht von dir aus gemeldet hättest, wenn du nicht etwas wissen wollen würdest. Was gibt's?<
Ja, er kannte mich eindeutig zu gut. >Kannst du zwischen Summer und mir eine Brücke bauen?<
>Summer? Sie ist bei Sky, wenn ich mich nicht irre. Ich muss erst einmal hin, aber dann dürfte es funktionieren. Wieso?<
Ich tigerte durch den Raum auf und ab - wenn ich mich hinsetzen würde, würde ich frieren, und einfach stehen würde auch nicht helfen. Hoffentlich hielt Victor die Hitze aus, die in seiner Zelle herrschte.
>Ich muss mit ihr sprechen. Ein Mann ist hier, der behauptet, ihr Onkel zu sein und mir helfen zu wollen. Ich möchte von ihr wissen, ob er wirklich ein Verwandter von ihm ist, ob ich ihm vertrauen kann und so weiter.<
Kurz schwieg er, dann kam: >Okay, ich gehe los. Ich melde mich in zwanzig Minuten wieder. Pass auf dich auf, ja?<
Ich lächelte leicht. >Immer doch. Du auch auf dich, Will. Wenn du jetzt von einem Auto angefahren wirst, verzeihe ich dir das nie.<
>Werde ich schon nicht. Ich muss dich ja noch daraus holen und gegen dich gewinnen, weißt du noch? Wir verschieben das einfach noch ein bisschen. Aber ich werde dich besiegen, glaub mir.<
Als er die telepathische Verbindung kappte, und nur noch die Spur seines Geistes, die ich fühlen konnte, blieb, inspizierte ich den Raum, den Winkel der Kamera und wo ich davon geschützt war. In solchen Momenten wünschte ich mir, dass ich ein mathematisches Wunderkind wäre, das ausrechnen könnte, wo es sich hinstellen müsste, um von der Kamera nicht aufgefasst zu werden, aber das war ich nicht. Also stellte ich mich in die Ecke neben der, in der die Kamera befestigt war, mit dem Gesicht zur Wand, zog schützend die Schultern hoch und blickte auf den Zettel, den mir der Mann gegeben hatte.
Trainingshalle rechts, fünfzehn Türen, links, dritte Tür - Ausschalter. -T
Das stand auf dem Zettel, den Timo mir zugesteckt hatte - sollte er wirklich Timo heißen. Er wusste, was mich unter anderem an einer Flucht hinderte. Was ich finden musste, um von Trissa loszukommen. Wenn ich es nicht schaffte, Trissa zu töten oder wenigstens hinter Gitter zu bringen, würde er mich mit diesem Chip in meinem Hals immer wieder finden - und töten können. Bevor es auffällig werden könnte, dass ich hier solange stand, steckte ich den Zettel wieder weg und drehte mich um. Gegen mein versteinertes Gesicht konnte ich aber nichts tun.
Vielleicht half Summers Onkel mir und Victor, hier rauszukommen. Zwar hatte ich immer noch weder eine Idee, wie wir diesen Gebäudekomplex verlassen sollten - immerhin hatte ich keine Ahnung, wo der Ausgang war - noch wusste ich, wie wir Trissa und sein Gefolge ausschalten sollten, aber jetzt wusste ich vielleicht, wo ich den Ausschalter für den Chip in meinem Hals finden konnte.
>Vic?<
>Danke.<
Ich verdrehte die Augen. >Mr. Whelan hat mir übermittelt, wo der Auslöser sein könnte. Du weißt schon, der Chip in meinem Hals, der jeder Zeit explodieren könnte.<
>Du traust ihm? Was hat Summer gesagt?<
Langsam schwand die Wärme aus meinem Körper wieder, je länger ich mich nicht direkt mit Will unterhielt, desto schneller ging sie und überließ der starren Kälte das Feld. Meine Füße beschleunigten sich, ich lief schneller im Kreis an den Zellenwänden entlang, aber langsam wurde mir schwindelig.
>Will ist noch auf dem Weg zu ihr, aus der Entfernung kann er uns nicht verbinden, aber es dürfte nicht mehr lange dauern. Und ich weiß nicht, ob ich ihm trauen soll, aber eine andere Wahl haben wir auch nicht, oder? Wir haben keinen blassen Schimmer, wo der Ausschalter sein könnte, und ihn von selbst finden wird schwer, weil hier alles verdammt gleich aussieht. Hast du inzwischen herausgefunden, wo der Ausgang aus diesem Loch ist?<
Zu gerne hätte ich jetzt eine Uhr, um überprüfen zu können, wie lange Will wohl noch zu Summer brauchen würde. Eigentlich würde ich sagen, dass es schon wieder gute zehn Minuten her war, dass wir miteinander gesprochen hatten, aber mein Zeiteinschätzungsvermögen war hier drinnen vermutlich ziemlich miserabel. Wenn ich mir eine Sache wünschen könnte, um diese Zelle erträglicher zu machen, wäre es eine Uhr, eine Heizung oder ein Fenster. Das Fenster würde wahrscheinlich zu lange dauern, deshalb blieb es bei Heizung oder Uhr, und da für die Heizung Rohre gelegt werden müssten, würde ich mich letztendlich sowieso für eine Uhr entscheiden müssen.
>Nein, aber ich habe eine Vermutung. Bist du je von der Trainingshalle rechts abgebogen?<
Keine Ahnung. Mein Orientierungssinn war komplett im Arsch. >Weiß nicht<, erwiderte ich wahrheitsgemäß. Da lang müsste ich auch, um den Raum zu finden, in dem der Auslöser lag. Vielleicht sogar die Tabletten.
>Jedenfalls bin ich noch nie da gewesen. Trissas Büro liegt links von der Trainingshalle. Die Lakaien knapp davor. Die Willenlosen zu deiner rechten, ich daneben. Von mir aus rechts kommt man zu einem Essraum für die Lakaien, den Bädern und einem weiteren, kleinerem Trainingsraum, in dem ich mit meinen Willenlosen trainieren muss. Ich glaube, hinter Mr. Trissas Büro befinden sich seine Privaträume, aber auch da dürfte nichts liegen, was wir brauchen. Es wäre absurd, so etwas dort aufzubewahren. Da würden wir als Erstes nachsehen. Also muss irgendwo rechts von der Trainingshalle ein Ausgang sein.<
>Lake?<, meldete sich plötzlich Will wieder zu Wort. >Ich bin da. Soll ich euch verbinden?<
Bevor mir schlecht wurde, setzte ich mich auf mein Bett und lehnte mich gegen die Wand, auch wenn mir fast augenblicklich wieder kalt wurde. >Mach das. Vicki, ich muss mit Summer sprechen. Ich sag dir Bescheid, sobald ich Genaueres weiß.<
Ich spürte, wie Will eine Verbindung zwischen mir und der anderen Frau knüpfte, bis ich ihren Geist selbst wahrnahm. Zwar nur schwach, weil sie so weit weg war, aber trotzdem sah ich sie. Und ich sah, wie mächtig sie war. Sofort stieg ein Gefühl des Unwohlseins in mir auf, des Misstrauens. Abgesehen davon, dass ich es merkwürdig fand, mit einer Frau zu kommunizieren, die sich Meilen von mir entfernt befand, gefiel es mir nicht, mich ihrer Macht zu nähern. Bei Victor oder Will war es etwas Anderes, sie kannte ich. Summer hingegen war mir fremd.
>Lake?<, erklang ihre klare, sanfte Stimme in meinem Kopf. >Bist du da?<
Mühsam schluckte ich. Noch nie war es mir so schwer gefallen, jemandem telepathisch zu antworten. >Ja. Hast du einen Onkel namens Timo Whelan?<
Sie stockte kurz. Ich konnte nicht erkennen, was sie fühlte, aber wahrscheinlich war es Schock. Ich befand mich abgeschnitten von der Welt in einem Gebäude, ähnlich einem Gefängnis, und wusste den Namen von einem ihrer Onkel. Das gab einem nun mal zu Denken.
>Was macht Timo bei dir?<, fragte sie scharf nach.
>Angeblich will er mir helfen. Wie du sicher nachvollziehen kannst, fällt es mir unter den entsprechenden Umständen schwer, ihm zu glauben. Also musst du mir sagen, ob ich ihm trauen kann oder nicht.<
Kurz schwieg die Frau, aber ich spürte ihre Anwesenheit deutlich. Dann antwortete sie langsam und bedacht: >Ich traue ihm. Mein Onkel hat uns bis jetzt immer geholfen, bei allem. Er war immer für mich da. Ich glaube nicht, dass er mich betrügen würde.<
Normalerweise würde ich darauf nicht vertrauen, doch seltsamerweise glaubte ich, dass Summer es erkannt hätte, wenn ihr Onkel sie benutzte. Ich glaubte, dass sie ihm zurecht traute. Und wenn sie ihm trauen konnte, konnte ich das auch, denn den Seelenspiegel eines Freundes von Summer anzulügen, wäre nicht gerade reizend.
>Danke<, sagte ich. >Will, wir kommen der Flucht näher.<


Relieving Lake (Die Macht Der Seelen- FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt