Kapitel 45)

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Es war, als würde ich in einer Blase schweben. Um mich herum das klare, dunkle Wasser, weit über mir die entfernten Lichtstrahlen, die sich auf der Oberfläche brachen. Keine Geräusche drangen zu mir durch, keine Gerüche, keine Schmerzen, keine Trauer und keine Hoffnung. Es war eintönig, friedlich und sanft.
Manchmal, wenn ein Sonnenstrahl zu mir in die Tiefe herab drang, spiegelte meine Mutter sich in den Wellen wider, die gegen die Außenwände der Blase schlugen, manchmal war es Will, manchmal einfach nur schemenhafte Konturen von hellroten Flammen, die versuchten, mich zu verschlucken, doch sie kamen nicht zu mir durch.
Ich war körperlos, nur sehen konnte ich. Hätte ich Sinne, wären diese betäubt, doch ich besaß keine. Nichts, was ich verletzen könnte. Nichts, was lieben könnte und nichts, das sterben könnte. Nur das endlose Wasser und ich, die zusah, wie die heißen Sonnenstrahlen sich ihren Weg in die Tiefe bahnten.
Noch nicht einmal atmen musste ich. Denn wohin sollte die Luft? Ich besaß keine Lunge, nichts, was durch Sauerstoff am Leben hätte erhalten werden müssen. Die Blase und ich trieben durch die Strömungen, mal war das Wasser ruhiger, mal seichter, mal tiefer und mal heller. Hier und da mischten sich andere Farben hinzu, etwas schillerte rötlich, etwas leuchtete in einem Blau, so durchdringend wie der Himmel an heißen Sommertagen, und manchmal sah ich grellgrüne Flecken in dem Nachtblau, doch nie wurde es zu etwas Festem, etwas Lebendigem. Es waren lediglich Spieglungen der Sonnenstrahlen.
Hier gab es nichts. Keine Fische, keine Algen, keine Riffe. Manchmal schlug die Illusion von Will gegen die Außenwände der Blase, schrie mir etwas zu, das ich nicht verstehen konnte, manchmal tauchte meine Mutter in den Flammen auf und bewegte ihren Mund, streckte ihre Hände nach mir aus, doch ich vernahm keine Geräusche, spürte keine Sehnsucht oder das Verlangen, zu ihr zu gelangen. Noch nicht einmal Glück über die vollkommene Ruhe hier unten konnte ich wahrnehmen, denn ich war zu keinerlei Gefühlsregungen in der Lage.
Noch nicht einmal, als plötzlich das Gewissen da war, dass meine Mutter mir erklären könnte, wieso sie mir die Bürde auferlegt hatte, wollte ich zu ihr. Denn hier unten gab es keine Bürden. Hier unten interessierte mich nicht, dass sie mich dafür verantwortlich gemacht hatte, Menschen den Willen zu nehmen. Dass ich den Tod von Menschen in Auftrag gegeben hatte. Es drang eine einzige Sorge zu mir durch, und das nur selten. Wenn ein Sonnenstrahl direkt auf mich schien, die Blasenwände durchdrang und dahin fiel, wo mein Gesicht hätte sein sollen, dann dachte ich an Will.
Er war da draußen, das wusste ich. Er hatte nach mir geschrien, kurz bevor die Flammen mich verschluckten. Er war es, der jetzt vielleicht um mich trauerte. Er war es, der die Asche nach meiner verkohlten Leiche abgesucht hatte. Vielleicht war das Feuer ja noch gar nicht aus. Vielleicht war ich noch nicht ganz verbrannt, und deshalb war mein Bewusstsein noch da. Doch ich wusste, es musste schon längt verglüht sein. Ich hatte kein Zeitfühlungsvermögen, nicht hier im Wasser, wo alles gleich aussah, wo ich nichts fühlte und nichts hörte, doch die Flammen waren schon erloschen, dem war ich mir gewiss.
Vielleicht war Will schon lange weg, sodass er die Asche meines sterblichen Körpers nie finden würde. Vielleicht war nichts mehr von mir übrig, das man hätte finden können. Eigentlich sollte ich jetzt hoffen, dass das Feuer sich nicht weiter ausgebreitet hatte. Denn dann wären die Benedicts ihm ebenso zum Opfer gefallen wie ich. Doch hoffen konnte ich nicht. Wollte ich nicht. Ich war tot. So fühlte sich also der Tod an. Ich hätte etwas Anderes erwartet.
Nie hatte ich mich viel mit Glauben abgegeben. Nicht an das Paradies, nicht an die Hölle, nicht an ein Leben nach dem Tod. Damit hatte ich recht behalten; das hier war kein Leben. Ich lebte nicht. Ich war kein Lebewesen. Lediglich etwas, das denken und sehen konnte und in einer Blase im Meer herumtrieb. Aber auch daran hatte ich nie geglaubt. Ich hatte immer gedacht, wenn ich tot war, war ich tot. Weg. Keine Schwärze würde ich sehen, ich wäre einfach fort und würde nie wieder kommen.
Eigentlich müsste ich jetzt sagen, dass ich mir wünschte, es wäre so. Eigentlich sollte mir hier unendlich langweilig sein, eigentlich sollte ich mir unfassbare Sorgen machen und Schuldgefühle haben, eigentlich sollte ich wissen wollen, was da vor sich ging, bei Will und seinen Brüdern. Doch so war es nicht.
Ich könnte schon eine Ewigkeit hier herumtreiben, es könnten auch nur drei Minuten gewesen sein. Zeit zählte hier nicht. Alles was zählte, war die Einsicht, zu der ich gekommen war. Die Einsicht, zu der ich hätte kommen müssen, solange ich noch lebte. Und die war keineswegs, dass es ein Leben nach dem Tod gab, dass ich an Gott hätte glauben sollen oder dass ich mich im Leben falsch verhalten hatte. Nein, so war es nicht.
Mein Charakter war derselbe - soweit ich einen besaß. Ich wusste, ich hatte gehandelt, wie ich es für richtig gehalten hatte. Wie ich es immer noch für richtig hielt. Natürlich hatte ich Fehler begangen, wie jeder Mensch. Doch zuzulassen, dass meine Mutter sich für mich opferte, war keiner davon gewesen. Denn wie mein Vater damals sagte, war es für eine Mutter der schönste Tod, anstelle des Kindes zu sterben. Es war ein Fehler gewesen, mir die Schuld an ihrem Tod zu geben. Mich in Depressionen fallen zu lassen. Doch diesen Fehler konnte ich mir verzeihen, denn er hatte aus mir den Menschen gemacht, der ich hatte sein wollen. Es war kein Fehler gewesen, aus der Universität zu fliegen. Keiner, nach Denver zu ziehen, bei Trace und Di zu wohnen und die Familie Benedict kennenzulernen. Will kennenzulernen.
Auch keiner war es, mit Diamond unseren Frauenabend zu machen. Dieser Abend hatte zu meinem Tod geführt, doch er hatte mir auch dazu verholfen, einen Wunsch zu erfüllen. Den Wunsch, die Freude am Leben zu finden. Mein Fund war zu spät gewesen, als ich ihn hatte, war ich schon an der Schwelle zum Tod, doch er hatte mir all das erklärt, was ich mich gefragt hatte. Mein Leben hatte einen Sinn gehabt. Den Sinn, dieses Tablettenlager zu vernichten. Niemand hatte mich dafür geschaffen, das zu tun, meine eigenen Handlungen hatten dazu geführt, doch letztendlich hatte ich etwas getan, auf das ich stolz sein konnte. Ich hatte den Wert am Leben und an der Gesellschaft gefunden, die ich gehabt hatte. An meiner Freundschaft zu Diamond und Trace, an meiner etwas heikleren Freundschaft zu Victor, an meiner Verbindung zu Will.
Und das war die Einsicht. Es war keine Verbindung zu Will, die ich hatte. Es war nicht das Seelenspiegelband, das dazu führte, dass ich ihn im spärlichen Licht der Sonne sehen konnte. Es war die Liebe, die ich zu ihm hatte und mir nicht hatte eingestehen können, bis es zu spät war. Und das war der große Fehler, den ich begangen hatte.
Ich hätte ihm sagen müssen, was sich in meinem Herzen für ihn entwickelte, doch ich war zu feige gewesen, um mir Klarheit darüber zu bringen, was ich denn tatsächlich fühlte. Vielleicht war ich tot. Vielleicht würde ich die Ewigkeit in dieser Blase verbringen und daran denken, dass ich diesen einen Fehler niemals würde rückgängig machen können.
Doch daran glaubte ich nicht. Denn Will hatte mir Hoffnung geschenkt. Und eben diese Hoffnung ließ nicht zu, dass ich mich damit abfand, tot zu sein. Ich war nicht tot. Ich konnte nicht tot sein. Nicht, bevor ich ihm gestanden hatte.
Ob es nun der innige Wunsch war, ihm dies zu sagen, oder mein Sturkopf, es war so. Die Welt um mich herum manifestierte sich wieder. Ich spürte plötzlich das dringende Verlangen nach Sauerstoff. Fühlte, wie meine Beine und Arme sich strecken wollten, wie meine Brust sich dehnen und mein Körper sich aufrichten wollte.
Will hatte nicht meine Leiche in der Asche gefunden. Will hatte einen noch atmenden, funktionierenden Körper gefunden.

Relieving Lake (Die Macht Der Seelen- FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt