Will und Victor waren bei mir, als ich zum ersten Mal wieder in die Sonne trat. Nach meinem Geständnis hatte ich mir eine elendig lange, heiße Dusche genehmigt, mir Jeans und ein vernünftiges T-Shirt angezogen und Diamond richtig begrüßt. Danach hatte Xavier mich einer Untersuchung unterzogen, an deren Ende sich herausgestellt hatte, dass ich eigentlich ziemlich fit war. Vielleicht ein bisschen unterernährt, der Stress hatte seine Folgen und ich könnte psychisch ein paar Schäden davontragen, aber ansonsten war alles gut.
Die Familie war zum Glück nicht da, weil Will sie überzeugt hatte, dass ich sie nicht alle da haben wollte, wenn ich wieder zu mir kam. Nur Victor war hier, weil er mit mir dort gewesen war und deshalb mitfühlen konnte, Diamond, Xavier und Trace. Trace hatte mich so fest umarmt, dass ich glaubte, er würde mir meine Rippen zerquetschen - danach hatte ich Xavier um eine weitere Untersuchung gebeten, doch er hatte zuversichtlich, dass Trace mir nichts gebrochen hate, abgelehnt. Und jetzt stand ich vor der Tür, starrte in den Himmel und konnte nicht glauben, was ich sah. Er war strahlend blau. War der Himmel jemals so blau gewesen? Die Sonne schien mir schräg ins Gesicht und es war ziemlich warm. Verdammt, warm! In der Zeit, die ich in meiner kalten, fensterlosen Zelle verbracht hatte, hatte ich fast vergessen, wie es sich anfühlte, ohne eine Decke und Victors Jackett überhaupt irgendetwas zu fühlen, das über frostige Kälte oder gefühlslose Taubheit hinausging.
Es war eine faszinierende Neuentdeckung für mich, dass sich etwas über mir bewegte. Vögel zu sehen, die hoch über mir kreisten, deren weißgraue Brustfedern sich vom Himmel abhoben, in der Ferne ein paar vereinzelte, weiße Wolken. Eine frische Brise, die mir um die Nase wehte. Der frische Geruch der Blumen und der Pflanzen, die hier wucherten.
Victor stand zu meiner rechten Seite, Will zur linken. Es war nur eine Woche her, dass ich den Himmel gesehen hatte. Und trotzdem war ich schon total überrascht davon, was er für mich bereit hielt. Was wäre, wenn ich Monate dort verbracht hätte? Hätte ich mich dann überhaupt noch daran erinnern können, dass der Himmel blau war?
Unter meinem Arm klemmte Victors Jackett, das er aus der Lagerhalle für mich mitgebracht hatte. Er hatte nicht mit einer Wimper gezuckt, als er meine Verletzung gesehen hatte, mich nur mit einem Nicken begrüßt und mir stumm das Jackett gegeben. Um ehrlich zu sein hatten wir noch kein einziges Wort gewechselt.
Das, Lake, ist der Himmel, verspottete ich mich selbst. Ich kam mir reichlich blöde vor, wie ich den Vögeln gebannt beim Fliegen zusah, doch ich konnte mich nicht davon losreißen. Nie wieder wollte ich in ein Gebäude. Einfach hier draußen bleiben. Für immer. Der leichte Chlorgeruch in der Luft, der vom Pool herüber getragen wurde, machte es vollkommen. Obwohl der Salzgeruch des Meeres noch besser gewesen wäre.
"Ich werde zwar nicht heiraten, aber die Flitterwochen gehen nach Frankreich ans Meer, ja?", sagte ich an Will gewandt, ohne ihn anzusehen. Er lachte, verschränkte seine Finger mit meinen und betrachtete mich von oben schief. "Wie du meinst. Was willst du eigentlich mit dem Jackett?"
Ich nahm es in die Hand, hielt es mir vors Gesicht und betrachtete es nachdenklich. "Ich überlege noch, ob ich es rituell verbrenne oder aufbewahre. Was meinst du, Vicki?"
Es fiel mir leicht, meine Gefühle zu überspielen. Nicht, weil ich es vor den Männern musste; sie waren wahrscheinlich die Menschen, denen ich auf der Welt am meisten traute, nein, es fiel mir leicht, weil es für mich leichter war. Ich wollte nicht den Gedanken an die Einsamkeit meiner Zelle nachhängen. Darüber Witze zu machen, war viel leichter. Denn ein kleiner Teil von mir hatte es genossen, und dieser Teil musste beachtet werden.
"Wenn ich einen Ventilator gehabt hätte, würde ich ihn jedenfalls behalten. Er hätte mir das Leben wesentlich leichter gemacht", entgegnete Victor belustigt.
Ich grinste ihn kurz an. "Hättest du ihn denn angekriegt?"
Er zuckte die Schultern. "Ich war auch überrascht, dass du herausgefunden hast, wie man ein Jackett anzieht."
Ich gab einen empörten Laut von mir, hängte mir das Jackett aber über die Schulter und trat einen weiteren Schritt von der Haustür weg. "Nur weil du meinst, jeden Tag einen Anzug tragen zu müssen, heißt das nicht für alle anderen, dass sie das Leben genauso streng und förmlich sehen müssen! Ich mag es halt... ein bisschen unformeller. Wo mir gerade einfällt, dass ich mich eigentlich noch bei der Universität beschweren muss. Ich meine, ihr Rauswurf - der eigentlich nicht möglich war - hat veranlasst, dass ich acht Tage in einem arschkalten Drecksloch abhängen musste, den Großteil der Zeit mit dir als einziges bekanntes Gesicht und abgeschnitten von jeglichen Menschen, mit denen man Kontakt pflegen möchte. Außerdem war der Rauswurf unbegründet. Wenn du das nächste Mal in einem Chemielabor bist, mische ich andere Säuren zusammen und sorge dafür, dass du ordentlich was davon zu spüren kriegst. Du weißt schon, Erfahrungen mitteilen und so. Vielleicht würde eine Brandnarbe dir sogar stehen. Allerdings müsste ich deinem Model dann erklären, wie es dazu kam, und da wir schon darüber sprachen, dass ich mit ihren Fingernägeln keine Bekanntschaft machen möchte, lasse ich es doch besser. Also lieber etwas, das deine Psyche komplett zerstört. Keine Sorge, mir fällt etwas ein."
"Kaum bist du draußen, schon redest du wieder Mist ohne Ende", murrte Victor, aber ich sah das Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte. Wir kamen am Pool an, ich fläzte mich auf eine Liege, während Victor eine weitere in Beschlag nahm und Will sich neben mir niederließ.
"Irgendwann musst du mir erzählen, was bei euch los war. Wie es da drinnen war."
Ich legte meinen Kopf auf Wills Oberarm und genoss die Wärme, die sein Körper abgab. Ja, irgendwann würde ich ihn über alles aufklären müssen. Darüber, dass ich für den Tod mehrerer Menschen verantwortlich war. Von Kiras Schicksal wusste er schon, und als ich ihn vorhin darauf ansprach, hatte er gesagt, dass ich so gehandelt hatte, wie ich musste, um mein Überleben zu sichern. Aber irgendwann würde ich mit ihm darüber sprechen müssen, dass ich vorsätzlichen Mord begangen hatte und keineswegs Schuldgefühle verspürte. Darüber, dass ich in einer eiskalten Zelle gehockt hatte und Angst hatte, weil ich ihn nicht erreichen konnte, dass ich an unserer Verbindung gezweifelt hatte. Dass ich Trissa dabei zugesehen hatte, wie er Victor verprügelte und erst eingegriffen hatte, als er ihm eine Pistole an den Kopf hielt und drohte, ihn zu erschießen.
Irgendwann.
Aber nicht heute.
"Victor, weißt du, wer Kathrine Vee ist?", fragte ich, ohne auf Wills Bitte einzugehen. Die Frau, die Six eigentlich in die Lagerhalle hätte bringen sollen, hätte ich ihr nicht zur Flucht verholfen. Eigentlich hätte ich gedacht, dass Six kam und die Benedicts benachrichtigte, doch offenbar hatte ich mich in ihr getäuscht. Was jetzt auch nicht weiter schlimm war; ich und Victor waren draußen und in einigermaßener Sicherheit.
"Eine der Diebinnen, die in den letzten Jahren an Überfällen auf Juweliere, Banken und Goldschmiede beteiligt war. Wieso?"
Das passte. Six war auch Diebin gewesen, Trissa hatte nicht nur Mörder unter seinen Willenlosen haben wollen. Six hätte Kathrine in die Lagerhalle schaffen und mir übergeben sollen, damit ich ihr eine Tablette verabreichen und ihr den Willen nehmen konnte.
"Sie sollte eines der Opfer werden."
Will beobachtete mich von der Seite, wahrscheinlich versuchte er, sich aus dem Gehörte so viel wie möglich zusammenzureimen. Das Meiste hatte er schon gewusst, viele neue Informationen kamen nicht dazu. Mein Handy vibrierte in meiner Hosentasche. Ich fische es heraus und schaltete es an. Ja, sobald ich wieder draußen war, fing meine Handysucht wieder an. Fast so schön, wie den Himmel zu sehen, war zu spüren, wie mein Arsch vibrierte.
Die Nachricht war von Diamond. Ich überflog sie kurz und wollte mein Handy bereits wieder ausschalten, als ich verstand, was sie mir geschrieben hatte. Von da an dauerte es drei Minuten, bis ich die Nachricht auseinandergenommen hatte, die Buchstaben einzeln zusammengesetzt und analysiert und letztendlich geglaubt hatte, was da stand.
Sobald das vollbracht war, sprang ich auf. Will sah mich verdutzt an, doch ich hatte keine Zeit für Erklärungen, sondern rannte los. Mein Handy ließ ich achtlos ins Gras fallen. Er stand vor der Haustür, eine schwarze Sporttasche neben sich liegend. Als er mich auf sich zurennen sah, breitete er die Arme aus und fing mich auf, als ich ihm um den Hals fiel. Die Haare meines Vaters waren länger, als hätte er lange keine Zeit gehabt, sie zu pflegen. Er trug noch das beige Shirt und seine Uniformjacke, die Cappy lag zu seinen Füßen.
"Paps", flüsterte ich mit Tränen in den Augen. Eigentlich hätte ich gedacht, dass er nicht mehr kam. Dass er fortblieb, weil es ihm dort besser gefiel als hier. Hoffentlich hatte ihm niemand gesagt, wo ich die letzte Woche verbracht hatte. Mein Vater hielt mich eine Armlänge von sich weg, musterte mich und Schmerz und Schuldgefühle huschten über sein Gesicht, als er meine Wunden sah.
"Woher hast du das, Lake?", fragte er besorgt. Ich musterte ihn meinerseits, scannte sein Gesicht nach neuen Verletzungen ab. Eine Narbe an seiner Schläfe kannte ich noch nicht, doch es war nichts Drastisches. Seine Wangen waren etwas hohler und auf seiner Stirn machten sich langsam die ersten Altersfalten breit, doch ansonsten sah er noch aus wie früher.
"Ist eine lange Geschichte. Nichts Schlimmes. Wie kommt es, dass du hier bist? Ich dachte, du musst in die Balkanstaaten?", entgegnete ich ausweichend. Aus dem Augenwinkel sah ich Will und Victor, die dazu kamen.
"Mein kommandierender Offizier hat mich abgezogen, als er hörte, dass meine Tochter seit ein paar Tagen als vermisst gemeldet ist. Ich bin so schnell gekommen wie ich konnte. Es tut mir so leid, Lake. Ich hätte niemals gehen dürfen."
Ich grinste leicht. "Ach, Quatsch. Mir geht's hier gut."
Victor schüttelte meinem Vater die Hand und stellte sich höflich vor. Mein Vater runzelte die Stirn - er wusste, normalerweise hielten höfliche Menschen es nicht in meiner Gegenwart aus - aber er tat mir den Gefallen und blamierte mich nicht. Will trat neben mich und reichte meinem Vater ebenfalls die Hand. "William Benedict, Sir."
Ich sah kurz in Wills Gesicht, erblickte ein freundliches Lächeln, dann sah ich zurück zu meinem Vater. Er hatte es mir verschwiegen, er wollte nichts mehr mit Savants zu tun haben. Aber wenn ich ihn sowieso noch auf Victors Seelenspiegel ansprechen wollte, konnte ich auch gleich damit rausrücken. Und ich war es Will irgendwie schuldig.
"Er ist mein Seelenspiegel, Paps. Will."
Mein Vater starrte Will an. Sein Mund presste sich zu einer Linie zusammen, seine Augen verengten sich, seine Muskeln spannten sich an. So abweisend und aggressiv hatte ich ihn noch nie gesehen. "Diese Geschichte hat sie umgebracht, Lake. Deine Mutter ist wegen ihrer Savant-Kräfte gestorben. Hätte sie diese... Gabe nicht gehabt, hätte sie für diesen Mann nichts herstellen müssen, er hätte dich niemals bedroht und sie wäre niemals erschossen worden."
"Meine Mutter ist gestorben, weil ich zu schwach war, mich aus der Schusslinie zu bewegen", sagte ich kühl. "Ursprünglich hatte ihre Gabe nichts damit zu tun. Sie hätte sich nicht mit Trissa einlassen sollen, und als sie es tat, hätte sie ihn niemals für dich verlassen dürfen. Es war Trissas Schuld, dass sie diese Tabletten herstellte, nicht die ihrer Abstammung. Und dass sie gestorben ist, lag daran, dass ich mich gewehrt habe. Ich habe mich gewehrt, war aber nicht stark genug, um etwas Anderes zu tun als zu weinen, als Trissa mich mit seiner Pistole bedroht hat. Sie hat sich vor mich geworfen, vor die Kugel. Das hatte nichts mit dieser Savant-Geschichte zu tun, es war Mutterliebe, wie du damals schon sagtest."
Zum ersten Mal tat es mir nicht weh, darüber zu sprechen. Es war, als hätte ich mit dieser Geschichte abgeschlossen. Nicht mit meiner Mutter, mit ihr könnte ich niemals abschließen, denn sie war ebendies; meine Mutter. Doch auch wenn ich wusste, dass meine Mutter sich für mich geopfert hatte und ich somit nicht ganz unschuldig an ihrem Tod war, machte ich mir keine Schuldgefühle mehr. Sie hatte es aus freiem Willen getan, genauso, wie ich mich mit den Tabletten hatte verbrennen wollen, um anderen zu helfen. Ich hätte die anderen nicht dafür verantwortlich gemacht, es war meine freie Entscheidung gewesen, es war eine Entscheidung, auf die ich stolz war und die ich wieder treffen würde.
Und so war es meiner Mutter auch gegangen, glaubte ich.
Will umschloss meine Hand mit seiner und ich verschränkte unsere Finger. Es fühlte sich keineswegs merkwürdig an, meinem Vater so gegenüber zu stehen, nein, es war angenehm. Angenehm, ihm klar sagen zu können, was ich vom Tod unserer Mutter hielt, vor ihm mit meinem Freund stehen und nicht davor zurückzuschrecken, ihm meine wahren Gefühle darzulegen, wie ich es immer getan hatte, damit er ohne Sorge oder Schuldgefühle zurück in seinen Krieg konnte.
Und noch angenehmer war es, die Narben auf meinen Armen nicht verbergen zu müssen. Mein Vater sah mich noch kurz an, wütend, enttäuscht und angsterfüllt, dann wanderte sein Blick zu meiner Hand in Wills und wieder zurück zu meinen Augen.
"Ich bin froh, dass es dir gut geht", sagte er, die negativen Gefühle aus seinem Blick verschwanden und machten väterlicher Liebe Platz. Dann sah er noch einmal kurz zu Will, wie eine Warnung. "Dass es euch gut geht. Und ich hoffe, es bleibt so, William."
Will legte seinen Arm um meine Taille und lächelte mich fürsorglich an. "Das wird es, Mr. Crey."
It's the end! Finally, I finished this story and decided to publish my last chapter. I hope, you all enjoyed reading this, and to all those who didn't enjoy and read it anyhow, thank you so much. Thank you all so much.
Ich habe auch keine Ahnung, wieso ich das in meinen fehlerhaften Englischkünsten verfasst habe. Eigentlich wollte ich nur Danke sagen, an alle, die diese Geschichte bis zum bitteren (oder weniger bitteren) Ende gelesen haben. Wenn irgendjemand Kritik äußern will, ob sie nun konstruktiv ist oder nicht, immer her damit, ich bin offen für alles. Es wird wohl demnächst das erste Kapitel meiner nächsten Geschichte veröffentlicht, der Weiterführung aus der Sicht von Victors Seelenspiegel, falls jemand Interesse hat, sie wird Reaching Tiger heißen.
Over and out.
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Relieving Lake (Die Macht Der Seelen- FF)
Fanfiction|| "Du bist mir wichtiger als das meiste andere und ich liebe das. Du bist depressiv, und das gehört zu dir, zu der Person, in die ich mich verliebe. Ich werde niemals einfach gehen. Und es würde mich niemals zerstören, mit dir zusammen zu sein. Es...