Kapitel 8)

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Mit einem unterdrückten Schrei schoß ich aus dem Schlaf auf.
"Ich liebe dich, Mama!", hatte ich geschrien. Ich schlief selten gut, aber diese Art Albträume hatte ich eigentlich hinter mir geglaubt. Tränen liefen mir über die Wangen, ohne das ich es wirklich realisierte. Schon so lange hatte ich nicht mehr von ihrem Tod geträumt. Inzwischen suchten mich Albträume heim, die mir vorgaukelten, ich wäre schwanger, ich wäre verliebt, und der Typ würde sterben, ich würde ewig einsam bleiben oder ich würde Selbstmord begehen. Ich hatte gedacht, ich hätte dieses Kapitel meiner Vergangenheit hinter mir gelassen, ich hätte damit abgeschlossen.
Ich rückte an das Kopfende des Bettes, stellte meine Beine auf und umschlang sie mit den Armen. Ich wollte jetzt irgendetwas umarmen, aber hier war nichts. Nur ich, alleine mit meiner Qual. Leise schluchzte ich, versuchte aber, die Geräusche zu unterdrücken. Es war lange her, und ich hatte es immer noch nicht überwunden. Ich war zu schwach.
Langsam kroch die Kälte durch meinen Körper in mein Herz. Ich war müde ins Bett gefallen, fast sofort eingeschlafen, hatte noch nicht einmal mehr die neue Kleidung angeguckt, die Sky und Phoenix für mich gekauft hatten. Aber jetzt war ich wieder wach. Jetzt war ich alleine, es war Nacht und ich hatte Schmerzen.
Obwohl ich meine Augen fast nicht offen halten konnte, streckte ich meine Beine aus, stand auf und stolperte zum Lichtschalter. Meine Augen brannten und tränten, als ich das grelle Licht anschaltete, aber es war alles besser, als weinend im Bett zu sitzen. Die Tüten hatte ich einfach in eine Zimmerecke geschleudert, aber jetzt holte ich sie, legte sie aufs Bett und schüttelte den Inhalt heraus.
Sky hatte nicht gelogen; es gab viele enge, schwarze, langärmlige T-Shirts und schwarze enge Jeans. Aber damit hatten sie und ihre Freundin sich nicht begnügt. Ich nahm eine Oberteil in die Hand, das sie gekauft hatten. Es war weit und grün, hatte keine Ärmel und an den Seiten gab ein keinen Stoff, dort wurde es nur von zwei Bändern zusammengehalten. Der untere Saum hinten hatte in der Mitte ein Dreieck nach oben, und vorne war es halbrund nach oben ausgeschnitten, sodass es sehr viel von meinem Bauch zeigte. In der selben Tüte war eine weiße, enge Hose von der gleichen Marke, also vermutete ich, dass Sky und Phoenix wollten, dass ich das beides kombinierte.
In der vagen Hoffnung, dass es noch anderes gab, zog ich das nächste Top aus der Tüte. Es war dunkelgrau, weit und hatte dreiviertel Ärmel. Außerdem war es hinten bis zur Taille ausgeschnitten.
"Oh Gott, was habt ihr da gekauft?", murmelte ich entsetzt. Das nächste, das meine Tüte zum Vorschein brachte, waren weiße Hotpants. "Meine Fresse, wie kommt ihr auf solche Ideen?"
Entweder, die beiden hatten sich in mir vollkommen getäuscht, oder sie wollten mich quälen. Insofern war ich froh, dass ich mich nicht allzu dankbar erwiesen hatte.
An der Tür klopfte es. Ich schreckte herum, mein Herzschlag beschleunigte sich, aber dann erinnerte ich mich daran, dass ich ja jetzt zwei Mitbewohner hatte. Trotzdem zögerte ich kurz, bevor ich zur Tür ging und sie öffnete. Davor stand Diamond, die eine sehr kurze, hellblaue Schlafhose und ein Hemd von Trace trug.
"Ich konnte nicht schlafen und habe das Licht gesehen", erklärte sie leise, bevor ich fragen konnte. "Kann ich reinkommen?"
Wortlos trat ich beiseite, ließ sie an mir vorbei und schloss die Tür hinter ihr wieder. Sie betrachtete mit kritischem Blick die Sachen, die Sky und Phoenix für mich gekauft hatten und die jetzt aufgebreitet auf meinem Bett lagen, aber sie sagte nichts und ließ sich auf meiner Bettdecke nieder, die ich ans Fußende gestrampelt hatte. Erst dann sah sie mich wieder an.
Besorgnis zeichnete ihr Gesicht. "Du hast geweint."
Stumm hockte ich mich ans Kopfende, um genug Abstand zwischen uns zu haben und stützte meine Arme unauffällig hinter mir ab. Es war eine schlechte Idee gewesen, ein kurzärmliges Schlafshirt auszuwählen.
"Ich hatte einen Albtraum", erwiderte ich ruhig. "Wieso kannst du nicht schlafen?"
"Ich sehe in meinen Träumen meinen Vater", antwortete sie. Ihre Stimme verriet einen solchen Schmerz, dass ich mich kurz dafür schämte, dass ich Qualen litt, obwohl meine Mutter doch schon vor so vielen Jahren gestorben war.
"Weiß Trace, dass du noch von ihm träumst?", fragte ich sanft.
Sie schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll. Das ist meine Sache. Wovon träumst du, dass du weinend aufwachst? Oder hast du noch gar nicht geschlafen?"
"Mutter", antwortete ich wortkarg. Sie nickte verständnisvoll. Einen Moment saßen wir nur still da, ich genoss ihre Anwesenheit, die meine Einsamkeit vertrieb und schwelgte in Erinnerungen. Schließlich stand ich auf und zog mir statt des kurzen T-Shirts ein langärmliges an, das sowohl die Schnitte an meinen Armen als auch die an meinen Rippen verdeckte. Diamond strich nachdenklich über die Sachen, die auf meinem Bett lagen.
"Wie ist deine Mutter gestorben, Lake?", fragte sie, ohne dabei drängend zu klingen.
Ich kniete mich wieder neben sie und fing leise an zu erzählen: "Meine Mutter hatte einen Kindheitsfreund, der ihr sehr viel bedeutete. Kurz vor meiner Geburt wurde dieser Drogenabhängig, und meine Mutter, die zu sehr mit ihrer Schwangerschaft beschäftigt gewesen war, bekam es nicht mit. Aber er verschuldete sich, konnte nicht bezahlen und wurde auch immer kränker. Als ich eins war, starb er an Leukämie. Die Schulden gingen mit dem Rest seines Erbes auf meine Mutter, die zu diesem Zeitpunkt noch in Elternzeit und damit arbeitslos war. Mein Vater verdiente nicht genug, um unsere Familie am Leben zu erhalten und die Schulden abzubezahlen, deshalb versprachen sie, die Schulden mit Zinsen zurückzuzahlen, wenn ich fünf wäre. Alles klappte gut, aber wir mussten sehr viel Geld ausgeben, als mein Vater sich beim Skifahren tödlich verletzte. Das war irgendwo im Ausland, die haben sich geweigert, ihm zu helfen, wenn das Geld nicht da war. Als ich fünf wurde, kamen die Männer wieder. Wir hatten viel Geld zusammen, aber nicht genug. Der Anführer von ihnen rastete aus, sie zwangen mich, einen Chip zu schlucken, durch den sie mich immer finden konnten. Da meine Eltern nicht genau wussten, wo er war, konnten er nicht rausoperiert werden. Die Männer sagten, meine Eltern hätten weitere drei Jahre Zeit, aber sie wollten nicht nur das Geld, sondern auch eine Droge. Die Droge hatte das Aussehen einer kleinen Kopfschmerztablette, aber sie wurde nicht verdaut. Sie setzte sich fest, wie genau es funktioniert, habe ich nie verstanden. Jedenfalls setzte sie einen in einen Schlaf, und wenn jemand während du schläfst mit dir redet, wirst du danach auf diese Stimme hören. Sie raubt einem sozusagen den eigenen Willen. Sie wollten immer mehr, und eines Tages wollte ich mich weigern, ihnen sie zu übergeben. Ich wollte lieber sterben, als die Menschheit weiterhin so etwas auszusetzen. Sie schlugen mich zu Boden und nahmen mir die Tabletten ab. Ein Jahr später, da war ich acht, hatten wir endlich genug Tabletten, um unsere Schulden abzubezahlen. Aber der Mann erinnerte sich noch daran, dass ich sie ihm letztes Mal verweigern wollte. Er wollte mich zur Strafe erschießen, aber meine Mutter opferte sich für mich, und er meinte, es sei für mich schlimmer, wenn er mich am Leben lassen würde, mit dem Wissen, dass meine Mutter wegen mir tot war."
Diamond hörte aufmerksam zu. Sie schwieg und ließ sich alles durch den Kopf gehen, dann sagte sie leise: "Du weißt aber, dass es nicht deine Schuld war, oder?"
Ich nickte. "Ja, das weiß ich. Aber sie ist trotzdem nicht mehr hier."
Meine neue Gastgeberin zeigte kein Mitgefühl. Sie wusste wohl genauso gut wie ich, dass das nichts brachte. Es war nur noch schmerzhafter. "Mein Vater hatte Krebs. Wir haben alles versucht, aber es ging nicht weg. Crystal, meine jüngste Schwester, litt am Meisten unter seinem Tod, weil er sie mehr liebte als uns. Unsere Mutter hatte das Gefühl, sie müsse das ausgleichen und ließ Crystal genau dann außen vor, als diese sie am Meisten brauchte. Wir alle vernachlässigten sie. Das war ein Fehler, den sich keiner von uns bis heute verziehen hat."
Ich hatte noch nie jemandem meine Familiengeschichte erzählt, aber hier in Diamonds Gegenwart, die wusste, wie es sich anfühlte, wenn man einen geliebten Menschen verlor, fühlte ich mich sicher genug, um das Erlebnis anzusprechen, dass mich seit 17 Jahren verfolgte. Plötzlich richtete Diamond sich auf, sah sich kurz um und wies dann auf die Sachen, die Sky und Phoenix gekauft hatten.
"Interessanter Modegeschmack. Lass mal sehen."
"Bitte nicht-", fing ich an, doch sie schnitt mir das Wort ab und sagte bestimmt: "Doch, ich will sehen, wie's dir steht. Keine Widerrede. Keiner von uns kann nach dieser Unterhaltung schlafen."
Seufzend gab ich mich geschlagen und wandte mich mit ihr den Tüten zu.

Relieving Lake (Die Macht Der Seelen- FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt