Kapitel 20: Entschlüsse

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Es fühlt sich seltsam an, einfach aus dem Santuary zu spazieren, ohne das jemand sie aufhält. Und noch seltsamer ist, dass sie dabei keine Freude empfindet, sondern eine Mischung aus Wut, Angst und Hoffnungslosigkeit. Sie hat diesen Ort gehasst wie die Pest. Sie wollte niemals hier sein. Aber jetzt...Verdammt! Wo soll sie jetzt hin? Ihr Bauch wird in den nächsten Monaten anschwellen, wird sie bewegungsunfähig und zu leichter Beute werden lassen.
Aber nicht nur deswegen ist sie angepisst. Sie hat Negan verraten, zumindest ist er überzeugt davon. Sie hat ihn verletzt. Und er denkt, dass sie ihm nur etwas vorgespielt hat, dass sie ihn ausgenutzt hat. Und er wird niemals erfahren, dass es nicht so war. Komischerweise frustriert sie diese Gewissheit am meisten. Eigentlich könnte ihr ja egal sein, was er über sie denkt. Ist es aber nicht.

Mittlerweile liegt das verfluchte Fabrikgebäude hinter ihr, sie ist an den Stützpunkten vorbei. Und jetzt? Niedergeschlagen lässt sie sich auf einen Stein sinken und beobachtet einen Beißer, der in einem Loch feststeckt und erfolglos versucht, zu ihr zu gelangen. Er knurrt, es klingt fast frustriert. Was war er wohl mal für ein Mensch? War er ein langweiliger Durchschnittstyp, ein mürrisches Ekel, gutherzig? Hatte er eine Frau, Kinder? Was hat er gerne gemacht? Das einzige, was sie über ihn weiß, ist, wie er gestorben ist. Er hat sich selbst erschossen. Und scheinbar nicht gut getroffen. Zwar gut genug, um zu sterben. Aber nicht gut genug, um richtig tot zu sein. Wenn sie ihn so ansieht, kommt ihr die ganze Sache noch trostloser vor. Nicht einmal nach dem Tod findet man seinen Frieden.

Irgendwie erinnert der Beißer sie an Eric. Warum auch immer. Mit Eric war sie die letzten zwei Jahre mehr oder weniger zusammen. Sie hatte schon immer ein gewisses Faible für die Bad Boys, für die Kaputten, für die Unangepassten. Nur waren dies nach damaliger Definition Männer, die ein wenig mit Drogen experimentierten oder ab und an mal in eine Schlägerei verwickelt waren. Nach heutiger Definition wären das wahrscheinlich noch die Guten.
Eric war so einer. Sein Dad war ehemaliger Navy SEAL, ein ziemlich harter Hund. Seine Mom war eine dieser frustrierten Hausfrauen, die man aus schlechten Vorabendserien kennt. Dann hatte er noch den tollen großen Bruder, den er niemals erreichen konnte und der irgendwann bei einem Bombenanschlag im Irak ums Leben kam. Kurzum: Eric war richtig kaputt. Er hasste die Welt und sich selbst und überhaupt alles und jeden. Eden hatte ihn irgendwann auf einer Party kennengelernt, was damit endete, dass sie total high und betrunken in einer Klokabine vögelten.
So, wie eben klassischerweise die richtig großen Liebesgeschichten beginnen.
Letztendlich hatte sich gezeigt, dass Eric einfach nur ein verletzter, kleiner Junge war, der es nie jemanden hatte Recht machen können. Ihre Beziehung war trotzdem kompliziert. Sie trennten sich in regelmäßigen Abständen aus diversen Gründen. Und kamen dann wieder zusammen, schworen sich, dass sich jetzt alles ändern würde. Was es natürlich nicht tat.
Als Eden kurz nach Ausbruch des Virus mit ihrem Dad skypte und beschloss, Eric anzurufen, waren sie gerade wieder getrennt. Er war ausnahmsweise ans Telefon gegangen, das machte er sonst nie beim ersten Mal. Und hatte ihr, was für ihn total untypisch war, total euphorisch erzählt, dass sich für ihn alles zum Guten gewendet habe. Er hatte New York verlassen und engagierte sich für eine Organisation, die sich um Süchtige und Obdachlose kümmerte. Und es war genau das, was er immer hatte tun wollen. Er war das erste Mal in seinem Leben glücklich, hatte Frieden mit sich selbst und der Welt geschlossen. Welch Ironie, dass genau diese Welt nur wenige Wochen später untergegangen war.

Dieses Gespräch mit Eric hatte sie für einen Moment das Virus vergessen lassen. Sie hatte sich für Eric gefreut. Aber sie war auch ein wenig enttäuscht gewesen, in erster Linie von sich selbst. Denn scheinbar, hatten sie und ihre Liebe zueinander, es nicht geschafft, Eric aus seinem Selbsthass zu holen. Eden hatte ihre Vorliebe für schwierige Männer, welche ihr einige verzwickte Beziehungen einbrachte, irgendwann pragmatisch gesehen: Sie verliebte sich in ebensolche, weil sie waren, wie sie waren. Warum, hat sie bisher auch noch nicht genau begriffen. Vielleicht ist sie ja ein Masochist.
Sie machte sich jedenfalls nie die Mühe, jemanden ändern oder erretten zu wollen. Im Gegenteil, sie verachtete Frauen, die scheinbar nur Beziehungen eingingen, um aus einem harten Kerl einen angepassten, weichgespülten Vorzeigeschwiegersohn zu machen. Menschen sind, wie sie sind. Sie verändern sich nicht einfach so. Man verliebt sich doch in einen Menschen, weil er ist, wie er ist. Und nicht in das, was man gerne aus diesem Menschen machen würde, was man gerne hätte. Dennoch hatte sie gehofft, dass Eric durch ihre Beziehung einen Weg aus der schiefen Bahn finden würde. Aber es hatte nicht gereicht. Er hatte sein Glück letztendlich ohne sie gefunden.

Aber etwas Gutes hatte diese Beziehung gebracht, denn Eden hatte für sich selbst einen Entschluss gefasst: Sie wollte es niemals soweit kommen lassen, dass sie sich selbst und alles andere so sehr hasste. Sie nahm sich vor, dass sie, egal wie viel Scheiße und Rückschläge sie erleben würde, niemals aufgeben würde. Immer das Schöne und Gute im Blick behalten wollte. Ihr Leben lieben würde. Wie leicht sie sich das damals vorgestellt hatte, wie leicht dies damals gewesen war!
Letztendlich hatte dieser Entschluss sie aber über die ersten Monate der Apokalypse gebracht. Und er hatte dazu geführt, dass sie auch weitermachte, als sie erkannte, dass jeder Mensch das Virus in sich hat. Dass man nicht gebissen werden muss, um sich in einen Beißer zu verwandeln. Sondern einfach nur sterben muss. Dass es also nie ganz vorbei sein wird, dass es immer Beißer geben wird, solange es Menschen gibt.
Und sie würde auch jetzt weitermachen. Aufgeben lag noch nie in ihrer Natur. Und jetzt schon gar nicht.

Sie steht auf und erlöst den Beißer von seinem Leid. Dann geht sie mit festen Schritten auf den Wald zu.
Sie hat noch mindestens vier Monate, bis die Schwangerschaft sie nennenswert beeinträchtigen könnte. Das ist viel Zeit. Bis dahin kann sie sich einen sicheren Ort oder vielleicht auch eine Gruppe suchen, die außerhalb vom Dunstkreis der Saviors liegt. Hilltop, Oceanside, das Königreich oder auch Alexandria kommen dabei natürlich nicht infrage. Sie würden Eden ohnehin nicht helfen, da sie sie als Savior kennen. Sie muss weiter weg. Und die Saviors, insbesondere Negan, weit hinter sich lassen.

Das erste Mal seit Monaten ist sie wieder allein, übernachtet auf einem Baum und hat nur den Himmel über sich. Es ist ein milder Frühlingsabend, trotzdem wird es diese Nacht kalt werden. Sehnsüchtig denkt sie an den Schlafsack, der wahrscheinlich noch in dem Haus der Siedlung liegt, wo die Saviors sie aufgegriffen haben. Wie auch alles andere. Sie hat aus dem Sanctuary nur die Klamotten, die sie am Leib trägt und ihr Messer mitgenommen. Achja- und den kleinen Revolver. Negan hatte ja nur gesagt, dass sie weder Medikamente noch Lebensmittel mitnehmen darf, von Schusswaffen war nicht die Rede. Dieses Arschloch. Trotz ihrer Abneigung gegen Schusswaffen fühlt sie sich mit dem Revolver sicherer. Mit einem Messer kommt man zwar gegen die Toten an, aber nicht gegen die Lebenden. Diese Lektion hat sie gelernt.
Ihr Magen knurrt. Heute wird es nichts mehr zu essen geben. Morgen wird sie beizeiten aufbrechen und sich erstmal das Grundlegendste zusammen sammeln müssen.

Ein Röhren lässt sie aufhorchen. Ein Motor. Eden verschwindet hinter dem Baumstamm und behält die Schotterstraße vor ihr im Blick. Es ist ein Lieferwagen. Nur die Saviors würden es wagen, hier herumzufahren. Dann ist diese Straße wohl einer ihrer Transportwege. Das heißt, sie muss so schnell wie möglich hier weg. Aber nicht, bevor sie sich ein paar Sachen besorgt hat. Ein Grinsen huscht über ihr Gesicht. Oh ja, sie wird Negan den Scheiß direkt vor der Nase wegklauen.

Als der Lieferwagen an dem Baum, auf dem Eden saß, vorbei rumpelt, huscht ein Schatten vom Wegesrand auf den Wagen zu. Die Fahrer des Lieferwagen merken nichts, sie hören laut Musik und unterhalten sich. Der Schatten ist jetzt ohnehin in ihrem toten Winkel. Mit einem gezielten Sprung heftet er sich an den Wagen, schiebt die lose Plane beiseite und ist auf der Ladefläche. Der Wagen ist reichlich mit Kisten beladen. Der Schatten schnappt sich einen kleinen Rucksack, der in einer Ecke vor sich hingammelt. Dann wandern Dosen, eingekochtes Obst und Gemüse, ein Wollpullover und Munition in diesen Rucksack.
Der Wagen holpert über einen Stein und eine Kiste fällt krachend zu Boden. Qietschend kommt der Wagen zum Stehen, Fluchen ertönt aus dem Fahrerhäuschen, als ein Mann aussteigt und um den Wagen herum geht. Die Plane flattert leicht. Er schaut auf die Ladefläche. Eine Kiste mit Dosenobst ist umgefallen. Genervt nimmt der Mann die Kiste und sortiert die Dosen wieder ein. Seltsam. Er könnte schwören, dass die Kiste voll war, als er sie aufgeladen hat. Jetzt ist in der Mitte ein Loch. Eine Dose fehlt. Vielleicht ist sie ja weggerollt. Er leuchtet mir der Taschenlampe auf den Boden. Nichts. Egal. Er verstaut die Kiste in einer Ecke, damit sie nicht wieder umfällt. Als er von der Ladefläche herunterklettert, entgeht ihm der Schatten, der hinter ein paar Bäumen verschwindet.

The Girl With The Bat (TWD/Negan FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt