Kapitel 29: Wie Rauch

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Sie rennt, so schnell sie kann. Hinter ihr heulen die Wölfe. Dunkelheit umgibt sie und der Atem rasselt durch ihre Lunge. Sie hat Angst, schreckliche Angst. Sie kann sie hören. Sie sind überall. Äste knacken. Sie riecht sie, ihren Gestank. Und da sind diese blauen Augen. Sie spürt, wie sie sich in ihren Nacken bohren. Dieses verrückte Lachen. Es ist fast direkt an ihrem Ohr. Sie rennt noch schneller. Sie stolpert und landet auf etwas Weichem. Als sie nach unten sieht, liegt da ein zerfetzter Arm. Entsetzen erfasst sie, als die Hand beginnt, nach ihr zu greifen. Sie kämpft sich wieder auf die Füße und läuft weiter.
Sie erreicht eine Scheune. Die Wölfe sind jetzt ganz nah. Sie reißt die Tür auf und schlägt sie hinter sich wieder zu.
Es ist keine Scheune. Es ist ein Thronsaal. Der König sitzt auf einem Thron aus eingeschlagenen Schädeln. Er trägt eine Krone aus Stacheldraht und sein Zepter ist ein blutiger Baseballschläger. Sein Gesicht ist nicht zu erkennen, es wird von einem Schatten verdeckt. Von seinen Händen tropft Blut.
"Willkommen im Reich der Toten, meine Königin!", ruft er, als sie näher kommt, "Im Reich der Verdammten! Dies ist das Imperium des Schlammes und Drecks. Wir regieren über das Nichts! Wir bringen Tod und Verdammnis. Du bist der Beginn meines Untergangs. Und ich bin dein Verderben."
Er reicht ihr eine Krone. Sie ist ebenfalls aus Stacheldraht. Und in ihrer Mitte thront ein blauer Diamant. Nein, es ist kein Diamant. Es ist ein Auge. Ein leuchtend blaues Auge.
Als sie die Hände ausstreckt, um die Krone entgegenzunehmen, sind ihre Hände ebenfalls mit Blut überzogen.
Sie setzt sich die Krone auf den Kopf.
"So lasst die Toten kommen!", ruft der König. Die Scheunentür fliegt auf. Und die Kreaturen kommen herein. Sie sind halb Mensch, halb Wolf. Ihre Kehlen sind blutige Löcher. Ihre Schädel sind zerschlagen.
Sie springen auf Eden zu, reißen ihr erst die Kleider, dann das Fleisch in Fetzen vom Leib. Sie reißen sich um sie, kämpfen. Sie heulen und winseln und knurren. Der König tut nichts, um ihr zu helfen. Er sitzt nur da und lacht und lacht und lacht...

Sie reißt die Augen auf. Ein Schrei des Entsetzens steckt in ihrer Kehle. Ihre Wangen sind nass, genauso ihr Kissen. Über ihre Haut zieht sich eine Gänsehaut und ihr ist trotz der dicken Decke furchtbar kalt.
Langsam atmet sie aus und ein und schlingt die Arme um ihren Körper, um mit dem Zittern aufzuhören. Nur ein Traum. Das war nur ein dummer Traum. Sie spürt, wie ihr Tränen über die Wangen laufen. Das Bett, das Zimmer kommen ihr plötzlich viel zu groß vor. Sie fühlt sich verloren.

Sie schwingt sich aus dem Bett, zieht sich schnell etwas über und wandert durch die Flure. Sie sucht nichts bestimmtes, sie will einfach nicht mehr schlafen. Sie hat Angst vor weiteren Träumen. Das ganze Sanctuary ist still, alle schlafen tief und fest.
Fast erleichtert stellt sie fest, dass in einem der Nebengänge Licht brennt- da ist noch jemand wach. Dünne, bläuliche Rauchschwaden kommen von da. Eden wird von dem Licht angezogen wie eine Motte. Die Tür ist nur angelehnt und sie drückt sie vorsichtig auf.

Er sitzt da, hat die Beine übereinander geschlagen, Lucille an die Wand gelehnt und zieht gedankenverloren an einer Zigarette. Im Moment ist er einfach nur Negan, nicht Negan, der Anführer. Ab und an gönnt er sich scheinbar auch im Sanctuary einfach nur er selbst zu sein. Er sieht zu ihr auf, mustert sie und scheint, mit einem Blick auf ihr verheultes Gesicht, zu wissen, wieso sie nicht im Bett liegt und schläft.
"Krieg ich auch eine?", fragt sie.
"Nein. Du bist schwanger."
"Ich hab in den letzten Wochen einiges getan, was man nicht tun sollte, wenn man schwanger ist. Das kannst du mir glauben.", entgegnet sie. Er betrachtet einen Moment die Zigarettenschachtel in seiner Hand. Dann nimmt er sich noch eine, steckt sie an und reicht ihr seufzend die Schachtel.

Sie zündet die Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug. Das leichte Brennen in ihrem Hals tut gut. Sie inhaliert, atmet aus und folgt dann dem Rauch mit ihrem Blick. Er steigt auf, dem Licht entgegen. Dort verharrt er eine Weile und löst sich dann auf.
"Ich bin Schuld.", sagt er plötzlich. Sie runzelt fragend die Stirn.
"Dass dir das passiert ist. Das war meine Schuld. Ich hab versprochen, dich zu beschützen und stattdessen habe ich dich rausgeworfen. Ich hab versagt. Ich bin Schuld, dass..."
"Lass das!", unterbricht sie ihn. Ihre Stimme klingt schärfer als beabsichtigt. "Schuld haben nur diese Bestien. Und sie haben dafür bezahlt oder werden es noch."
Es wundert sie selbst ein wenig, dass sie das sagt. Aber sie gibt ihm tatsächlich nicht die Schuld an all dem. Es war vielleicht nicht fair, sie rauszuwerfen. Aber alles andere...
"Es tut mir leid, Eden.", sagt er. Es klingt ehrlich.
"Mir auch.", entgegnet sie milde und nimmt erneut einen tiefen Zug.
"Du solltest das wirklich lassen.", grummelt er, "Die Psyche dieses Kindes ist genetisch schon genug vorbelastet."
Sie lacht kurz. Wohl wahr.
"Kriegst du jetzt etwa väterliche Gefühle?", fragt sie provokant.
"Warum nicht? Wann gedenkst du, damit anzufangen, mütterliche Gefühle zu entwickeln?"
Eden zuckt mit den Schultern. Vielleicht nie. Sie hat sich nach wie vor nicht wirklich mit dem Gedanken abgefunden.

The Girl With The Bat (TWD/Negan FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt