„Ich frage jetzt zum letzten Mal. Wer hat meine Eingeweide geklaut?"
Dr. Lenz stiefelte von einer Ecke des grauen Flurs der Gerichtsmedizin zur anderen, ohne Annika und mich aus den Augen zu lassen. Vielleicht befürchtete er, wir würden ihm noch mehr Teile seiner Leiche stehlen. Da wir das nicht vorhatten, schwiegen wir und der Doc fuhr sich durch das lichte weiße Haar. Annika presste sich die Hand auf den Mund, um nicht zu lachen.
„Niemand?" Dr. Lenz baute sich vor uns auf. Er ging mir gerade bis zur Schulter. „Raus mit der Sprache. Die Eingeweide können sich schließlich nicht in Luft aufgelöst haben. Herr Winter?"
„Ich?" Ich musste mir das Lachen verkneifen. Der Doc war einiges, aber bedrohlich war er nicht. „Keine Ahnung."
„Ach?" Er rückte seine Nickelbrille zurecht. „Was sagen sie dazu, Fräulein Kampa?"
Annika warf mir einen Seitenblick zu.
„War er vielleicht zur Organspende eingetragen?"
„Zur Organspende eingetragen." Dr. Lenz zupfte am Ärmel seines Kittels. „Herr Winter, was ist das erste, was wir überprüfen?"
„Ob die Leiche vollständig ist?", schlug ich vor und Annika knuffte mich in die Seite. Sie hätte die Antwort auch gekannt, schließlich hatten wir genau das heute Morgen bei der Leichenübergabe erledigt. Der Doc bemerkte es nicht, er hatte seinen Dauerlauf durch den Flur wieder aufgenommen, drei Schritte nach rechts, drei Schritte nach links, zurück.
„Bleibt die Frage, wie die Eingeweide dann verschwunden sind."
Annika und ich wechselten einen Blick. Sie lächelte kokett - hieß, sie wollte die Schuld auf mich abwälzen. Ich schüttelte den Kopf. Beim letzten Mal, als Annika mich vorgeschoben hatte, hatte mich der Doc zu einer Nachtschicht verdonnert, die ich damit verbrachte, zu frieren und die momentane Belegung der Kühlfächer in den Computer zu übertragen. Annika lächelte scheinheilig.
„Ich war heute Morgen beim Arzt."
„Du warst doch...-"
„Schluss mit den Kindereien! Fräulein Kampa, Sie dürfen gehen." Dr. Lenz zupfte erneut an seinem Ärmelaufschlag. Aus unerfindlichen Gründen mochte er Annika mehr als mich. Genau gesagt, er würde mich rausschmeißen, wenn ich nicht nur ein Praktikant wäre. „Herr Winter, Sie räumen auf." Er zog die knollige Nase kraus. „Und vergessen Sie die Kühlboxen nicht."
Und an seinem Ärmel zupfend eilte er davon.
Ich drehte mich zu Annika um, die mir ein Grinsen zuwarf. Sie war schon fast beim Ausgang.
„Sorry, aber ich habe ein Date!"
„Mit wem denn?", fragte ich angesäuert. Ich hätte selbst schon darüber nachgedacht, sie mal zum Essen einzuladen, wäre sie nicht so eine fiese Hexe gewesen.
„Mit meinem Sofa, Orlando Bloom und Johnny Depp." Sie schenkte mir eine Kusshand. „Danke, Tristan!"
„Warte, du..." Sie warf die Tür hinter sich zu, ein kalter Windstoß fegte in den Gang. „Super. Wirklich, vielen Dank!"
Meine Stimme hallte von den gefliesten Wänden wider. Der Doc war wahrscheinlich schon weg, er verschwand immer als erstes. Sein Auto war aber auch immer direkt vor dem Hinterausgang geparkt.
Allein in der praktikantenorientierten Gerichtsmedizin Brandenburg. Der Traum eines jeden Studenten in den Semesterferien.
Ich stapfte in den Obduktionsraum, in dem wir die letzten Stunden verbracht hatten. Die Leiche, ein Alkoholiker in den Mittdreißigern, der sich zu Tode gesoffen hatte, war schon in der Kühlkammer, genauso wie Dr. Lenz' Leiche mit den flüchtigen Eingeweiden. Nur die Instrumente und das Blut auf den Obduktionstischen waren noch da.
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Schlimmer Geht Immer - Tristan-Winter-Reihe I
Paranormal"Wirst du mich auslachen?" "Ich werde es versuchen." Zombies in der Gerichtsmedizin, Ghule in freier Wildbahn, Dämonen auf der Jagd nach Tattoos. Tristan fühlt sich, als wäre er in einen schlechten Horrorfilm geraten. Plötzlich muss er sich gemeinsa...