22 - Brötchenjagd

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Als Gabe am nächsten Morgen verkündete, dass er bereit zum Frühstücken wäre, hatte ich Die Rückkehr des Sherlock Holmes durchgelesen und Doyles Kurzgeschichtensammlung Der Abschlussauftritt angefangen. Es hatte mich beruhigt, die bekannten Bücher zu lesen, auch wenn ich die Lösung zu jedem Geheimnis im Voraus kannte, und gegen um sechs hatte ich nicht mal mehr alle paar Sekunden in die Schranktrümmerstücke geschielt. Ich schob die Bücher zurück ins Regal und ging in die Küche, um Frühstück zu machen. Meine Schulter tat weh. Aus Gabes Zimmer hallte gedämpft Beethovens Neunte. Ich fragte mich, wie er dabei trainieren konnte. Den Geräuschen nach tat er aber genau das.

Als ich die Küche betrat, hockte Levi auf seinem improvisierten Bett und bearbeitete ein Blatt Papier mit einer Schere. Ich überlegte, Brötchen aufzubacken, aber im Ofen waren immer noch die Knopfaugen der Puppe, die mich anklagend ansahen. Spiel mit mir! Ich schauderte, beinahe konnte ich den brennenden Stoff in der Luft riechen. Aus dem Ofen würde ich heute sicher nichts essen.

„Tenos' Viecher können ganz schön unheimlich sein." Levi nahm das Papierstück an einem Ende und ließ es aufklappen. Er hatte irgendwelche Grimassen hineingeschnitten. Ich wollte nicht wissen, von was dieser Junge träumte. „Ich habe mich in einer Kirche versteckt, irgendwo nördlich von Berlin. Da hat er mir auch solche Puppen auf den Hals gehetzt."

„Warum die Puppen?"

„Sie sind nur belebte Dinge. Nicht dämonisch." Er zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, die anderen können keine Kirchen betreten."

„Die Heiligen der Unheiligen."

„Das passt."

Wir schwiegen und ich überlegte, was wir frühstücken konnten. Aus Gabes Zimmer war das Geräusch von Fäusten auf Leder zu hören.

„Ich gehe Brötchen holen." Ich sah auf die Uhr. Kurz vor halb acht. „Du weißt nicht zufälligerweise, ob der Bäcker sonntags aufhat?"

„In Lamenitz hatte er immer nur montags geschlossen."

„Lamenitz?"

Ich nahm Gabes Portemonnaie vom Tisch. Irgendetwas Gutes musste es ja haben, dass meines in der Gerichtsmedizin lag und wenn dieses Gute war, dass ich das Frühstück nicht bezahlen musste, war mir auch das recht.

„Da komme ich her." Levi grinste. „Dreihundert Einwohner, Durchschnittsalter fünfundfünfzig. Aber dafür haben wir Kühe."

„Erinnert mich an zu Hause."

Und daran, dass ich meine Mutter demnächst anrufen sollte. Und Dr. Lenz. Der Junge schnitt ein weiteres Stück Papier aus dem Blatt. Die Fratze erinnerte mich an eine Draculakarikatur. Ich ging zu Gabes Zimmer und klopfte. Er machte sich nicht die Mühe die Tür zu öffnen.

„Was?"

„Ich gehe Brötchen holen."

„Mir egal."

„Bin in zehn Minuten zurück."

„Freut mich."

Er drehte Beethoven lauter. Und dieses Mal auf Garantie, um mich zu ärgern.

„Ich nehme übrigens dein Portemonnaie mit."

Die Tür ging auf und Gabe starrte mich nieder, sein Blick untermalt von Beethovens Fünfter Symphonie. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn vom Training.

„Garantiert nicht."

„Und womit soll ich dann bezahlen?"

Er grinste boshaft.

Schlimmer Geht Immer - Tristan-Winter-Reihe IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt