12.

2.1K 70 2
                                    

~ 12 ~

Zwei Wochen später sitze ich wieder im Literaturkurs. In den letzten beiden Wochen ging es mir wirklich schlecht, da ich von einer Magen-Darm Grippe befallen war. Was mir irgendwie auch gelegen kam, denn so konnte ich Kyle aus dem Weg gehen und Chris sagen, dass ein Besuch unmöglich war, da ich ihn ja nicht anstecken wolle.
Eigentlich geht es mir schon seit ein paar Tagen wieder gut, aber irgendwie konnte ich mich noch nicht so richtig überwinden, mich meinen Dämonen zu stellen.

„Guten Morgen, Mira", grinst Léon mich fröhlich an, als er sich neben mir auf den Stuhl sinken lässt.
„Hey", grüße ich erleichtert zurück. Ich hatte gehofft, dass Léon sich neben mich setzen würde, damit ich nicht die Ehre habe, dass Kyle wie in den letzten Stunden mein Sitznachbar ist.

„Geht es dir besser?"
Léon und ich hatten in den letzten zwei Wochen viel Kontakt. Und dass er mit der Frage nicht die Grippe meint, zeigt mir sein aufmerksamer Blick. Ich muss wirklich sagen, dass Léon und ich uns sehr gut verstehen. Wahrscheinlich ist es etwas leichtsinnig von mir, mich ihm schon jetzt so offen anzuvertrauen, aber ich habe trotzdem ein gutes Gefühl dabei. Er war ernsthaft an mir interessiert, brachte mir immer wieder etwas Essen aufs Zimmer, obwohl das sogar strengstens untersagt ist. Ob ich das dann auch bei mir behalten konnte, war eine andere Sache.

Über Kyle und mich verloren wir kein weiteres Wort mehr. Trotzdem wusste Léon genau, wie es mir mit der Situation ging, schließlich wusste er über alles Bescheid.

„Ich komme schon klar." Gelogen. In Wirklichkeit macht mich mein schlechtes Gewissen mehr als fertig. Chris nochmal unter die Augen zu treten wird für mich eine Qual.
Léon lächelt mich mitfühlend an und legt seine Hand auf meine, die auf der Stuhllehne liegt. „Wenn ich dir irgendwie helfen kann, sag einfach Bescheid. Ich weiß nur zu gut, wie du dich fühlst."
„Wie meinst du-"
„Das ist mein Platz!"
Bei der mürrischen Stimme zucke ich zusammen.
„Jetzt nicht mehr. Du kannst dir einen anderen suchen. Deine Anwesenheit ist hier nicht mehr erwünscht." Léon stellt sich bedrohend auf, direkt vor mir, damit er Kyle die Sicht auf mich verdeckt. Ich bin ihm unendlich dankbar dafür. So sieht Kyle nicht, wie fertig ich bin.

„Was bildest du dir ein?", ruft Kyle laut und ich sehe, wie er einen großen Schritt auf Léon zugeht. „Verpiss dich oder ich sorge dafür!"

„Mr. King?" Plötzlich steht Mr. Phillips hinter Kyle. Unser Kursleiter. „Gibt's hier ein Problem?"
Bevor Kyle den Mund öffnen kann, funke ich dazwischen. „Nein, Mr Phillips. Hier ist alles in Ordnung. Kyle wollte sich gerade einen andern Platz suchen."

Ich kann förmlich spüren, wie Kyle mit seinem Blick versucht meine Wange zu durchbohren. Ich ignoriere es aber und weiche ihm gekonnt aus, indem ich meine Bücher aus meiner Tasche krame.
Mr. Phillips kümmert sich nicht weiter um uns und verschwindet hinter seinem Pult, während Kyle irgendetwas flucht, sich dann aber abwendet. Erleichtert atme ich auf.

„Was für ein Theater", knurrt Léon und setzt sich kopfschüttelnd wieder neben mich.
„Danke für deinen Einsatz", lächle ich.



Nach der Stunde flüchte ich schnell aus dem Raum. Zumindest versuche ich es, denn Kyle hat den Unterricht ein paar Minuten vorher verlassen. Warum wird mir klar, als ich ihn ein paar Meter weiter an der Wand neben der Tür lehnen sehe.
Als ich in den Gang trete, kommt er auch schon direkt mit schnellen Schritten auf mich zu. Schnell wende ich mich ab und gehe in die andere Richtung den Gang entlang. Weit komme ich aber nicht, denn plötzlich packen mich zwei starke Hände an den Armen und wirbeln mich herum. Im nächsten Moment befinde ich mich gegen eine Wand im Nebengang gepresst.

„Lass diesen Scheiß, Mira!", knurrt Kyle und ist meinem Gesicht plötzlich ganz nah. Seine Nase berührt fast die meine.
„Lass mich los", keuche ich und versuche meine Arme aus seinem Griff zu befreien. Vergebens. Er packt nur noch fester zu.
„Was soll dieses Theater?" Seine Augen funkeln bedrohlich und plötzlich fühle ich mich wie befangen. „Kommst du nicht damit klar, dass dir jemand mal die Zunge in den Hals gesteckt hat?"

Ich schnaube. „Ich komme nicht damit klar, dass ein provokantes Arschloch das mit mir gemacht hat." Auch ich werde wütend. Was fällt ihm eigentlich ein, mich schon wieder so bloßzustellen. „Ich habe einen Freund, verdammt! Du hattest kein Recht dazu!"
„Einen Freund der dir absolut nicht das gibt, was du brauchst!"

Ich starre ihn wütend an. „Du kennst mich nicht und du kennst Chris nicht! Also hör auf zu behaupten du wüsstest was ich will. Geschweige denn was ich brauche! Das einzige was ich brauche, ist Abstand von dir, Kyle King!" Ich stoße ihn heftig gegen die Schulter, damit er mir Platz macht und verschwinde dann. Versuche es zumindest, denn schon wieder hält er mich am Arm zurück.

„Wage es dich nicht schon wieder wegzurennen! Du bleibst hier."
Ich lande unsanft mit dem Rücken an der Wand. „Pass doch auf du Penner!"

„Siehst du", grinst er. „Das ist die Mira, die ich kenne. Und zwar die echte Mira-"
„Von wegen echte Mira", unterbreche ich ihn sofort. „ Du und deine Freunde, ihr habt aus mir eine falsche Mira gemacht! Die Mira die ich wirklich bin, die springt nicht auf irgendwelchen Partys herum und vor allem betrinkt sie sich nicht, um sich dann zu übergeben!"

Er lacht. „Dir ist wirklich nicht zu helfen."
„Bitte?!"
„Du hast mich schon richtig verstanden." Er lässt mich los und geht zwei Schritte zurück. Plötzlich wird mir ganz kalt und eine Gänsehaut bildet sich auf meiner Haut, so als würde ein kalter Windhauch über meinen Körper fahren. „Dir ist nicht zu helfen, weil du nicht erkennst, wann es Zeit für Veränderungen ist."

Mit diesen Worten wendet er sich ab. Nach einigen Schritten hält er allerdings noch einmal an und dreht sich zu mir um. „Der edle Ritter steht mir übrigens in nichts nach. Halt dich lieber von Léon fern!"
Und dann ist er um die Ecke verschwunden.




Ich bin Kyle die ganze Woche über nicht einmal mehr über den Weg gelaufen, sodass ich das ganze Drama mehr und mehr vergessen kann und mich ganz auf Chris konzentriere.
Er wird in einer halben Stunde da sein, sodass ich mich beeile und mir schnell eine Jeans und einen Pulli anziehe.
Er hat vor mit mir ein wenig spazieren zu gehen und danach etwas zu essen.

Pünktlich auf die Minute klopft es dann auch schon an meiner Tür.
Nervös zupfe ich noch einmal am Pulli und fahre mir durch die Haare. Hoffentlich wird das alles auch so leicht, wie ich es mir wünsche ...

„Und wie läuft es mit dem Kurs? Du meintest ja es wäre ziemlich stressig in letzter Zeit."
Chris sitzt mir gegenüber in einem mittelständigem Restaurant.
„Naja, das geht mittlerweile. Ich habe mich gut eingefunden und die Leute sind auch ganz nett. Vor allem Léon."

„Léon? Schön. Ein neuer Freund?"
Ich nicke. „Ja, wir verstehen uns ziemlich gut. Er ist mein Sitznachbar und weiß ziemlich viel. Das ist wirklich beeindruckend."
„Und deine speziellen Freunde?"

Ich schlucke. „Von denen habe ich mich wie besprochen distanziert. Die taten mir einfach nicht gut. Und jetzt kann ich mich voll und ganz auf Literatur konzentrieren und habe keine Dummheiten mehr im Kopf."
Chris zieht eine Augenbraue nach oben. „Dummheiten?"
Scheiße.
„Ich meine das im übertragenem Sinn. Du weißt schon..." Wild gestikuliere ich mit den Händen.

Chris lächelt ehrlich und beugt sich über den Tisch, damit er nach meinen Händen greifen kann. „Es freut mich wirklich, dass du dich so gut eingelebt hast. Und obwohl du mir schrecklich fehlst, gönne ich es dir von ganzem Herzen."

Ich atme zittrig ein, bemühe mich aber um ein Lächeln. „Dankeschön."
Man, bin ich eine schlechte Freundin. Zuerst führe ich mich auf wie der letzte Teenager, knutsche mit einem x-beliebigem Typen herum und jetzt tue ich so, als würde ich die glücklichste Beziehung der Weltgeschichte führen.

„Und?"; lenke ich schnell vom Thema ab. „Wie läuft es bei dir mit deinem derzeitigem Projekt?"

Chris' Gesicht hellt sich plötzlich um 5 Nuancen auf und seine Augen funkeln. „Wunderbar! Ich habe einen tollen Partner und wir sind schon sehr weit. In 4 Wochen müssen wir zwar erst unser Ergebnis mitteilen, aber es läuft so gut, dass wir schon viel früher fertig sind. Und mit Tiffany haben wir ein Mädchen bei uns, dass wirklich toll ist. Sie unterstützt uns, hat eine Menge Ahnung und ..."

Plötzlich werde ich von vier Personen abgelenkt, die gerade das Restaurant betreten.
Verdammt! Womit habe ich das bitte verdient?
Schlimm genug, dass er mir die ganze Zeit über schon im Hinterkopf herumspukt und ich mich nicht genug auf Chris konzentrieren kann.

Jetzt erscheint er hier auch noch mit einer bildschönen Brünette ...



HOLD ME TIGHT - abgeschlossenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt