Kurzgeschichte: Wenn die Nacht schläft

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Blicklos starre ich an meine weiße Zimmerdecke. Nichts regt sich, nur das stetige Rauschen des Heizkörpers, der unter meinem schmalen Fenster an der Wand angbracht ist, durchschneidet die Stille.

Meine Eltern haben aufgehört zu streiten, meine kleine Schwester liegt warm eingepackt in ihrem Bett ein Zimmer weiter.

Alle Lichter sind ausgeschaltet und nur das fahle Licht des sichelförmigen Mondes wirft einen stetigen Lichtstreifen an die weiße Tapete neben meinem Bett.

Wenn ich es tue, dann muss ich es jetzt tun. Jetzt, in den Stunden, in denen selbst die Nacht schläft.

Mit einem schnellen Ruck schmeiße ich mich aus meinem vor Alter quietschenden Bett und verharre reglos auf dem Boden liegend. Nur das Geräusch der Heizung vermischt sich mit dem Rauschen meines Blutes in meinem Kopf.

Endlose Momente zwinge ich meine Gedanken still zu halten, bis ich mir sicher bin, dass meine Eltern nicht aufgewacht sind und auch meine Schwester sich noch immer verdient in ihre Bettdecke kuschelt. Vorsichtig und diesmal darauf bedacht kein Geräusch zu machen, nehme ich meinen bereits gepackten, alten Rucksack, schwinge ihn mir über die Schulter und öffne vorsichtig meine Zimmertür. Leise tapsen meine Socken auf dem gefleckten Laminat und ich verziehe innerlich stöhnend vor Verzweiflung das Gesicht, als unsere ebenfalls vom Alter gebeutelte Wohnungstür in ihren Angeln knarzt. Ich höre sie einrasten und klopfe mir fast schon selbst auf die Schulter, halte mich im nächsten Moment aber schon wieder ab. Noch ist es zu früh, als dass ich wirkliche Erfolge verzeichnen könnte.

Drei Minuten später schlappen meine ausgelatschten Turnschuhe die Landstraße entlang. Durch die Blätter der Bäume, die ein wenig drohend neben der in der Nacht dunkel schimmernden Spur aufragen, fällt das Licht des Mondes. Es lenkt mich von meinen Gefühlen und Gedanken ab, die ich versuche aus meinem Hinterkopf zu scheuchen, wo sie schon die ganze Zeit drücken, schieben, pressen, bis mein Nacken kribbelt, als würde mich jemand wiederholt schlagen. Es ist ein schmerzhaftes Kribbeln. Am Horizont sehe ich ein leichtes Leuchten, eine Lichtverschmutzung eines nahen Dorfes in der sonst so vollkommenen Nacht.

Jedenfalls sind Nächte sonst vollkommen. Heute Nacht ist es anders. Heute Nacht bin ich anders, denn ich habe nicht vor zurückzugehen. Und die Nacht - eigentlich eine meiner engsten Freunde - lässt mich heute im Stich, indem sie genau das macht, was sie sonst auch immer tut: Sie gibt mir Raum zu denken. Doch genau das will ich heute nicht. Und doch tut die Nacht nichts, um mich abzulenken, denn sie schläft. Ansonsten würde sie mir ins Gewissen reden wollen, würde mir sagen, wieder zurückzugehen, mich um meine kleine Schwester zu kümmern. Doch heute kann sie mir nicht reinreden, gerade jetzt, in diesem Moment, darf ich egoistisch sein und ich bin es.

Und es tut mir gut. Die Luft schmeckt klarer, die Grautöne der Dunkelheit leuchten und besänftigen mein Auge, das sonst immer versucht klare Formen zu erkennen. Doch wenn selbst die Nacht schläft, dann kann auch das Auge ruhen und die anderen Sinne übernehmen die Verantwortung.

Der sanfte Wind raschelt in den Blättern, eine einsame Nachtigall tiriliert in der Ferne und ein aufgeregt statisches Summen liegt in der Luft – als würde alles versuchen die Nacht aufzuwecken, damit sie sieht, was ich hier tue. Der Wind versucht mich sanft zurückzudrücken, versucht mich zur Vernunft zu bewegen, obwohl er weiß, dass er schon von vornherein versagt hat – mich zur Vernunft bringen, kann nur die Nacht. Und sie schläft gerade.

Als ich den Hügel hinuntersehe, den ich mit beschwingten Schritten hinaufgestiegen bin, blendet mich das schmutzig gelbe Licht der Kleinstadt. Schwarze Schemen schleppen sich unter den Lichtquellen entlang, ihr einsames Brummen vermischt sich bis hier oben mit dem Wind und ich bin mit der schlafenden Nacht alleine. Meine Gedanken und Gefühle sind es müde geworden ungehört zu bleiben und ihr Gewicht drückt meine Augenlider manchmal zu oder mein Kinn auf meine Brust, doch meine Füße sagen mir, dass meine Reise gerade erst anfängt.

Häuser, Straßen und Schilder drehen sich um mich und verschwimmen miteinander, grau verläuft in orange und orange zerläuft in gelb. Motorenlärm baut sich auf und flaut wieder ab, ihre Müdigkeit vibriert bis hoch in meinen Kopf, wo die Gedanken plötzlich wieder munterer werden: Sie wittern meine Schwäche. Mit Mühe und Selbstdisziplin sperre ich sie weg, verliere den Schlüssel und wiege mich in Sicherheit.

Das Gitternetz des Bahnhofsitzes ist kalt und feucht von den niedrigen Temperaturen, meine Hände stecken in meinen Jackentaschen und ich zittere. Ein fernes Geräusch schreckt mich hoch, ich bin eingeschlafen.

Und während ich geschlafen habe, ist die Nacht aufgewacht.

Sie flüstert mir Dinge ein, die ich nicht hören will, sie findet den Schlüsselbund unter dem Ohrensessel in der Ecke und reißt den Staudamm ein. Mein Unterbewusstsein fällt über mich her, schwemmt mich mit, erstickt mich, ich ertrinke, ich atme Gefühle, ich schlucke Gedanke, ich sterbe.

Und dann schlafe ich, mein Körper hört auf zu zittern und die Gedankenflut erstarrt.

Es war so einfach den nächsten Schritt zu machen, als die Nacht noch schlief. Jetzt ist es mein letzter.

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