Kurzgeschichte: Blendendes Lächeln

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Es war einmal ein Mädchen, eines von vielen, das unter den Menschen lebte. Sie war ein fröhliches kleines Ding, lachte viel, war laut, ausschweifend und raumeinnehmend, hatte eine Präsenz wie sonst keine in ihrem Alter. Sie war ein Wirbelwind, der die Straßen ihrer Stadt unsicher machte, Freund von Bäckersfrauen, Uhrenverkäufern, Juwelierinnen und Baristas, spielte mit den Kindern, den Erwachsenen und den Alten, lauschte Geschichten und erzählte selbst so manches Abenteuer. Der Tag war ihr Element, die Menschen ihr Instrument und sie selbst der Dirigent ihres eigenen Orchesters. 

Die Häuserfassaden waren in ihren Augen bunt und hell, die Bäume intensiv grün und die ölverschmierte Fahrbahn schillerte in allen Regenbogenfarben, ihre Nase roch Asphalt und Kaffee am Morgen, Benzin und Fast Food am Mittag und Parfüm und Eiscreme am Abend, ihre Ohren folgten der Melodie der Stimmen um sie herum, lauschten auf die Vögel und die Autos, auf schlagende Türen und helles Kinderlachen oder krächzendes Keuchen. Ihre Zunge schmeckte Freiheit und ihre Hände fühlten kaltes Metall, warme, ledrige Haut, rauen Putz und weiche Kinderwangen. Während dem Regen lief sie lachend durch die Gassen, ihre Haare nass und lang, ihr Kleidchen eine wirbelnde Wolke aus Tropfen, bei Sonnenschein stieg sie auf die höchsten Dächer und ließ sich die warmen Strahlen auf die Nase brennen. Sie war das kleine, schnell und aufgeregt schlagende Herz der Nachbarschaft, ein Name, der allen mit einem Lächeln auf den Lippen von der Zunge rollte. 

Nur wenn sie von Zuhause erzählen sollte, wurde sie still. Wenn die nette alte Dame aus der Wohnung unter ihr sie nach ihrer Mutter fragte, waren ihre blitzenden Augen kurz matt und dunkel, ihr Lachen blieb ihr in der Kehle stecken und wandelte sich in heiße, salzige Tränen. Der Zauber erlosch und es war alles nur noch grell, laut, ekelerregend und zu viel. Sie schloss sich in ihrem Kopf weg, wendete die Augen ab und weinte für sich selbst, dort, wo niemand sie sehen konnte: Vor aller Augen. Ihr Lachen war strahlend, ihre Präsenz war ungebrochen und irgendwo, hinter ihrer Stirn, weinte sie, weil sie nur ein kleines Mädchen war, weil sie nichts tun konnte, weil niemand etwas bemerken sollte. 

Also bemerkte niemand etwas. 

Darüber wurde das Mädchen bitter. Warum sah denn niemand, wie traurig sie war? Warum lächelten sie so, als ginge es ihnen gut? Warum konnte es ihr nicht genauso gut gehen? Aber sie konnte sich nicht dazu überwinden, jemandem ihre Geschichte zu erzählen. 

Eines Tages hörte sie per Zufall einer alten Frau zu, die hinter einer Glaskugel saß, ihre faltige Haut braungebrannt von der Sonne und in bunte, fransige Tücher gehüllt. Vor ihr saß ein junger Mann, tiefe Falten gruben sich in seine junge Stirn und seine Augen waren des Lebens überdrüssig. 

Er murmelte etwas und die alte Frau lachte nur gackernd ein unangenehmes Lachen. „Seien Sie nicht so hochmütig, junger Mann. Sie sind der Welt egal. Sie tun das, was Sie für richtig empfinden, und die Welt dreht sich trotzdem weiter. Der erste Weltkrieg fand statt, Millionen Menschen starben für nichts, ihre Tode waren umsonst, und die Welt drehte sich trotzdem weiter. Sie können machen, was Sie wollen, es wird niemanden interessieren."

Das fand das Mädchen gemein. Menschenleben waren keine Ressource, die einfach so verbraucht werden konnten. Jeder Mensch war einzigartig und besonders und niemand sollte der Welt egal sein. Sie war der Welt zumindest nicht egal, das wusste sie. Aber gleich darauf kamen ihr Zweifel: Warum sonst fragte sie niemand, warum sie traurig war? So gut konnte sie doch gar nicht schauspielern, dass es nicht auffiel. 

Aber die alte Frau war noch nicht fertig: „Das einzige, was in ihrem Leben wichtig sein sollte, sind Sie selbst und ihre Wünsche. Wenn Sie die nicht verwirklichen, wer wird es dann für Sie tun?"

Das wiederum leuchtete dem Mädchen ein. Es gab sie nur ein einziges Mal auf dieser Welt, in der Vergangenheit gab es sie nicht und nach ihrem Tod würde es sie auch nie mehr geben. Ein zu Anfang trauriger Gedanke, aber Zeit kam und nahm Tod den Schrecken, Leben den Stachel und Angst die Tragweite. Stattdessen gab Zeit Hoffnung mehr Raum, schaffte Platz für Freude im Leben des Mädchens, das zur Frau wurde, gab ihr Selbstvertrauen und Zuversicht. 

Die Worte der alten Wahrsagerin brannten sich in ihre Gehirnwindungen und formten sie zu dem Menschen, der sie war und wurde. Und die Frau hörte auf zu bereuen. 

Stattdessen begann sie zu genießen. 

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