Kurzgeschichte: Samhain

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Mein Beitrag zum FederAward von @-Schreibfeder, Oktober 2019


Von Sevins Körper begann der Tod zu bröckeln. Ihren Gliedmaßen entwich die Härte und beinahe fühlte es sich an, als fließe warmes Blut durch ihre Adern. Doch ihr fehlte das menschliche Herz in der Brust. Auch bei dem Ausblick auf einen in herbstlichen Farben lodernden Wald rührte sich in ihr nichts. Sevin atmete ein, aber nicht, weil sie atmen musste, sondern weil sie sich nicht tot fühlen wollte. Manchmal bildete sie sich ein, sie könnte das Leben riechen, das von der Menschenwelt ausging. Aber meist war es nur eine kurze Sekunde des Selbstbetrugs, bevor sie einsehen musste, dass hier nichts lebendig war. Jedes Mal, kurz bevor der Tod sie wieder mit sich nahm, freute und fürchtete sie sich vor dem Tag, an dem sie erneut für eine Nacht ein Scheindasein führen sollte. Am schwersten fiel ihr jedoch ihre Aufgabe. Sie war eine Wächterin. Ein Helfer des Todes, der die Toten davon abhielt, in die Welt der Menschen einzufallen und die Balance zu zerstören.

Auch in diesem Jahr war es nicht anders.

Als sie sich umdrehte, sah sie sich einer Menschenmasse gegenüber, die gebannt auf das Bild starrte, das über Sevin in der Luft schwebte. Ihre Augen folgten fasziniert dem Wind, der so leicht durch die noch starken Blätter fuhr und dabei die altersschwachen von ihren Ästen riss. Sie beobachteten die Wolken, die über der Szenerie hingen und dem blauen Himmel keine Beachtung schenkten, während sie ihrem Ziel entgegen schwebten. Sie sahen auf die Sonne, die sich müde hinter den Horizont sinken ließ und dem herbstlichen Wald ein wenig Feuer schenkte. In ihren leeren Augen stand eine Geduld, die wohl auch jagenden Raubkatzen in den Augen stand. Es war die Art beharrlicher Geduld, in der sie nur verharrten, weil sie auf fette Beute hofften.

Sevin war das jährliche Schauspiel leid. Sie wollte endlich in den Tod eingehen und ihm nicht mehr dienen müssen. Sie wollte endlich ihren Frieden finden und in der Ewigkeit verweilen. Doch das war nicht ihre Bestimmung und sie wusste es. Also erfüllte sie ihren Auftrag.

Gemeinsam mit den anderen Wächtern stimmte sie einen Gesang an, der so alt war wie der Tod selbst. Es war ein tiefes, eintöniges Brummen, welches das Abbild der Menschenwelt vibrieren und wabern ließ, bis es sich zusammenzog und immer kleiner wurde.

Die Sonne verschwand gerade hinter den Hügeln, nur der in Flammen stehende Himmel zeugte noch von ihrer Anwesenheit, als die Totenmasse sich gegen Sevin warf. Es war, als sei das Untergehen der Sonne, das Einsetzen der Nacht der Startschuss für den Wahnsinn, den Sevin Jahr für Jahr durchleben musste.

Die Toten geiferten, als sie gegen Sevin brandeten. Ihr Hände zu Klauen geformt, ihre Zähne gefletscht waren sie nur ein Schatten ihrer Selbst, die jeden anfielen, sei der nun Freund oder Feind. Ihre Nägel bohrten sich in Sevins kaltes Fleisch, ihre Kiefer schlossen sich um ihre Gliedmaßen und rissen sie von ihrem Rumpf. Trockene, schwarze Staubflocken umkreisten Sevins Körper wie kleine Planeten die Sonne. Im Takt des Gesangs regenerierten sich ihre Extremitäten, ihre Haut heilte die ihr zugefügten Wunden. Das Summen brach durch ihre Schmerzen wie ein Eisbrecher durch arktische Eisplatten, stetig und ohne Erbarmen.

Die Toten um Sevin kreischten. Sie schrien, ihre Stimmen überschlugen sich, vermischten sich, wurden zu einer Kakophonie sondergleichen. Sevin hörte sie nicht. Ihr Körper war erfüllt von Gesang, Schmerz und Eintönigkeit. Jede Faser ihres Körpers vibrierte.

Es mussten Stunden sein, Stunden voll angestauter Furcht, Wut und Hilflosigkeit, bevor Sevin etwas anderes wahrnahm.

In ihr brannte etwas. Es war ein kaltes Feuer, das ihr Innerstes verzehrte, sich über ihre Haut ausbreitete und sie zum Leuchten brachte. Die Toten, die sie berührten, stießen schmerzerfüllte Schreie aus und flüchteten sich in die sichere Distanz. Das Feuer knackte als Sevin spiralförmig nach oben stieg wie ein durch den Wind aufgewirbeltes Blatt.

Als erstes raubte das Feuer ihr den Gesang. Für einen Moment hörte sie die wirkliche Melodie des Todes, ein Zusammenspiel von animalischen Lauten, in Todesqualen ausgestoßenen Schreien und dem allgegenwärtigen Summen, dann nahm das Feuer ihr das Gehör. Der Geruch des Todes lag ihr auf einmal nicht mehr auf der Zunge und steckte nicht mehr in ihrer Nase, denn auch diese Sinne hatte das Feuer ihr genommen. Als sie ebenfalls nichts mehr um sich herum fühlte, war es Zeit ihren Sehsinn aufzugeben. Doch kurz bevor es so weit war, sah sie noch einmal durch das winzige Fenster in die Menschenwelt.

Es war Nacht geworden, die Bäume nicht viel mehr als Schemen vor dem tiefdunklen Himmel. Über allem stand die Milchstraße und funkelte in mehr Farben, als das menschliche Auge je begreifen konnte.

Sevin sah sie alle zum ersten Mal. Jahrtausende lang hatte sie die Menschenwelt vor dem Übergang der Toten beschützt, Jahr für Jahr hatte sie endlose Schmerzen erlitten und war dennoch nicht gestorben und hatte nie gewusst warum sie hatte leiden müssen. Jetzt, endlich, hatte sie den Grund gefunden.

Ein Lächeln legte sich über ihr blindes Gesicht, als das Feuer sie verbrannte und sie in die Ewigkeit einging. 

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