Anderes: Unsere Deutschlehrerin

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Meine Deutschlehrerin begann heute ihren Monolog einmal ein bisschen anders. Heute begann sie mit einem Satz aus einer Abiturarbeit eines Schülers oder einer Schülerin, der oder die Lyrik gewählt hatte, denn bei einer Aufgabe sollten sie sich zu Textinterpretationen äußern. Dieser Schüler oder diese Schülerin hätte in die Aufgabe geschrieben, dass die Interpretation ja eigentlich egal wäre, solange sie mit der der Deutschlehrerin übereinstimme. Das bezeichnete sie als ein primitives Vorurteil, das nur in Umlauf sei, weil niemand gerne hinter die Kulissen schaue. Sie sagte, dass, wenn man an einem solch primitiven Vorurteil festhalte, man Dinge offensichtlich nicht hinterfrage. Und wenn man zweieinhalb Jahre im Deutsch Leistungskurs gesessen hat, und immer noch nicht über dieses primitive Vorurteil hinweg sei, hätte man nicht verstanden, was sie uns in den letzten zweieinhalb Jahren versucht hat zu vermitteln. Das zeuge von geringer oder non-existenter Selbstreflektion. Und wenn man mit einer solchen Einstellung in die Arbeitswelt, nach draußen in die Welt ginge, so blauäugig einfach losliefe, dann würde man es sich schnell einfach machen. Dann würde man die einfachen Lösungen bevorzugen und die schwierigen außer Acht lassen. Dann würde man die AfD wählen. Dann müssten irgendwann die Deutschlehrer weg, die Linken weg, die Konzerne weg, die Politiker weg, die Juden weg. 

"Macht es euch nicht leicht. Es ist immer schwer."

Und dann erklärte sie, wie es dazu käme, dass die Schüler denken könnten, dass die Deutschlehrer eine Musterlösung für Interpretationen haben, da die Deutschlehrer meist mehr wissen und über Hintergrundinfos verfügen. Dann wird aus dem Gedicht 'Frühling' kein Mobbinggedicht, wie der Schüler es gelesen hat, wegen schwarzen und weißen Schafen in einer Zeile, sondern daraus wird ein Widerstandsgedicht, weil der Dichter unter einem zensierenden Regime schrieb und mit verschlüsselter Sprache arbeiten musste, um nicht umgebracht zu werden und veröffentlichen zu dürfen. Dass Frühling dann vielleicht 'Neuanfang, Revolution, Überwurf' bedeuten könnte, bedeuten würde. 

Ich war distanziert, habe innerlich entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen und mich gefragt, wie verletzt sie gewesen sein muss, von einem einfachen Satz in einer Abiturarbeit, dass sie uns einen viertelstündigen Vortrag darüber halten musste, wie aus diesem Satz ein Nazi entstehen wird und wie es zu diesem angesprochenen Vorurteil überhaupt kommt, mit dem sie auch noch den Schüler als nicht-reflektierenden, primitiven Werde-Nazi bezeichnete.

Meine Freundin, die während dem Vortrag neben mir saß, sagte, dass sie unserer Deutschlehrerin zustimme. Ob sie sich auf den ersten oder zweiten Teil bezog, weiß ich nicht. Dass unsere Deutschlehrerin vielleicht den Frust, der sich in den letzten zweieinhalb Jahren im Bezug zu uns angestaut hatte, loswerden musste, jetzt, in den letzten zwei Wochen vor dem endgültigen Ende unserer Schulzeit. 

Meine Mutter war aufgebracht und sprach davon, dass sie wirklich mal bei dieser Frau anrufen müsse. Dass die sich mal professionell verhalten soll. Dass sie selbst ja auch nicht zu sich ins Büro gehen könne, um jeden anzukacken, der ihr auf den Sack ginge. Dass die sich mal zusammen nehmen solle. Dass, wenn sie professionell wäre, sie über eine solche Spitze eines Schülers oder einer Schülerin hinwegsehen solle, weil es das ist, was man in einer solchen Situation eben täte. 

Im Endeffekt hat zwar jeder eine eigene Meinung darüber, was angebracht ist und was nicht, aber wie kann es sein, dass diese Meinungen so grundverschieden sind?

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