Das Geheimnis des Kunstwerkes

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Das Geheimnis des Kunstwerkes

Der nächste Tag war verstrichen und Anisha wartete darauf, dass sie endlich die Gelegenheit bekam sich wieder dem Gemälde zu widmen. Sie hatte ihre Arbeiten erledigt und schloss das Büro ab. Ihre Tasche mit den Hilfsmitteln hatte sie dabei. Sie ging schnurstracks auf das Bild zu und berührte den Baum. Nanu – er fühlte sich heute anders an. Nicht so echt. Es fühlte sich an wie ein normales Bild. Täuschend echt, aber nicht so echt wie am Vortag. Anisha versuchte sich an den Geruch zu erinnern und tastete das Gemälde ab. Nichts. Absolut nichts. Sie wechselte die Position und schaute auf die Lichtung. Auch der Baumstumpf war erkennbar. Dennoch blieb das Kunstwerk für sie unzugänglich. Sie wagte einen Zutrittsversuch auf der anderen Seite des Waldbildes. Nichts. Kein Zutritt. Anisha legte ihre Tasche ab. „Vielleicht kann man nur ohne Zubehör Zutritt erhalten.“ Dennoch blieb der Weg verschlossen. Sie drehte sich herum, um zu schauen, ob jemand sie beobachten würde. Nein – sie war alleine in dieser Halle.

Warum blieb der Wald an diesem Tag verschlossen? Hatte sie am Vortag nur einen besonderen Tag erwischt? War es vielleicht das Datum des Verschwindens von Emma? Nein, das war es nicht. Der Monat passte nicht. Emma wurde seit dem Mai im Vorjahr vermisst, wir hatten jetzt erst Ende März. Dies konnte also nicht der Grund sein. Vielleicht spielte aber auch die Monatszahl oder der Wochentag eine Rolle. Möglicherweise hatte sie die falschen Sachen an, aber das war Blödsinn. Welchen Grund konnte es haben? Anisha versuchte weiterhin das Kunstwerk an jeder kleinsten Stelle abzutasten und hineinzugelangen. Die Zeit verstrich, der Eintritt blieb verwehrt. Dann überlegte Anisha, dass sie am Vortag das Gefühl hatte beobachten zu werden, dies war heute nicht der Fall. Vielleicht war Emma diejenige die sie tatsächlich beobachtet hatte und sie war heute nicht in der Nähe, so dass sie beim Eintritt nicht helfen konnte. Aber auch dies würde eigentlich keinen Sinn machen, da Emma ja auch scheinbar alleine den Weg hinein fand. Andererseits wurde sie bei Selbstgesprächen beobachtet. Möglicherweise brauchte man immer ein Individuum, um mit dessen Hilfe eintreten zu können. Aber wer hatte dann den Anfang gemacht. Hätte man dann nicht viel mehr Infos über verschwundene Kinder oder Menschen erhalten müssen?

„Anisha? Sie sind ja immer noch hier. Manchen Sie jetzt täglich Überstunden? Sie sind doch schon sicher eine Weile mit Ihrer Arbeit fertig. Möchten Sie noch länger bleiben und sich in der Galerie umschauen? Können Sie gerne, wenn Sie das möchten. In ungefähr einer Stunde kommen die Reinigungskräfte. Spätestens dann muss ich Sie rausschicken. Es gibt strenge Regeln.“ „Nein, nein. Ich hatte mich nur noch ein bisschen umgesehen. Ich mache mich jetzt auf den Weg nach Hause. Morgen ist Samstag, da kann ich mir dann die Zeit nehmen, wenn ich möchte. Aber danke Freddy. Noch einen schönen Abend.“

Frustriert verließ Anisha die Galerie. Sie konnte sich das ganze nicht erklären. Das machte sie nur noch viel neugieriger.

Zuhause angekommen versorgte sie ihren Stubentiger Purzel und räumte ein wenig auf. Danach setzte sie sich mit ihrem Laptop in den Fernsehsessel und versuchte über die unmöglichsten Suchfunktionen etwas Neues herauszufinden. Aber auch diesmal war sie nicht erfolgreicher. Jede Suche verlief ins Leere. Keine Neuigkeiten, keine weiteren Angaben, keine neuerlichen Kenntnisse – egal was sie versuchte.

Der nächste Arbeitsmorgen war nur kurz, samstags hatte die Tierarztpraxis nur zwei Stunden geöffnet. In die Galerie musste sie samstags nicht. Die Wochenenddaten wurden immer montags erfasst, daher musste sie montags immer eine Stunde länger für ihre Arbeit einplanen. Sie würde dann nur kurze Zeit bevor die Reinigungskräfte eingelassen wurden mit der Arbeit fertig werden. Sie überlegt, ob sie dennoch als Besucher an diesem Samstag die Galerie aufsuchen sollte. Sie wollte es wagen, denn die Neugier war unendlich groß. Sie wusste, dass die kleine Halle selten besucht wurde, so dass sie die Möglichkeit hätte in das Gemälde zu verschwinden, sollte sie diesmal den Weg hinein finden.

Sie machte sich auf den Weg zur Galerie. Diesmal stand auch nicht Freddy im Eingangsbereich. Der Wachtmeister war ihr nicht bekannt, ein Namensschild hatte er nicht an seiner Kleidung, vermutlich war er neu und hatte noch kein Namensschild.

Anisha machte sich direkt auf den Weg in die kleine Halle und stand vor dem Gemälde. In der Halle nebenan waren viele Menschen, allerdings standen nur wenige im Durchgangsbereich zu dieser kleinen Halle. Unter Beobachtung brauchte sie gar nicht erst versuchen einzutreten. Also wartete sie geduldig, bis die Leute aus dem Blickbereich waren.

Schritt für Schritt ging sie auf das Kunstwerk zu und schaute auf die kleine Lichtung. „Mist, ich habe die Tasche mit den Hilfsmitteln vergessen.“ Egal, nun war sie hier und der Forschungsdrang war einfach zu groß. Wieder legte sie ihre Hand auf das Gemälde und versuchte irgendwo den Weg in das Gemälde zu finden. Auch an diesem Tag fühlte es sich nicht so unsagbar echt an wie an dem Tag, als sie dort hineingehen konnte. Wieder tastete sie alles vollständig ab und versuchte irgendwas zu fühlen oder Düfte wahrzunehmen. Nichts. Nach wie vor kein Zutritt. Enttäuscht verließ Anisha die Galerie.

Auch am Sonntag versuchte sie vergeblich ihr Glück. Auch in der neuen Woche bekam sie keine Möglichkeit wieder ein Teil des vermeintlichen Stilllebens zu werden. Sie überlegte, an welchem Tag ihr der Zutritt gewährt wurde – es war ein Donnerstag – vielleicht hatte der Wochentag eben eine besondere Bedeutung.

An diesem Donnerstag war Anisha voller Optimismus und steuerte das Gemälde an. Die Enttäuschung ließ nicht lange auf sich warten. Klar und deutlich – mit dem Wochentag hatte es auch nichts zu tun. Sollte es doch mit dem Monatstag zu tun haben, müsste sie sich also noch knapp drei Wochen gedulden. „Oh nee, bloß nicht! Ich komm ja um vor Neugier.“

Diese Arbeitswoche ging ebenfalls dem Ende zu, ohne dass Anisha herausfinden konnte, wie sie wieder ein Teil des Kunstwerkes sein konnte. Sie machte sich am Sonntag erneut auf den Weg in die Galerie, schaute auf die handgeschriebene Tafel neben dem Gemälde und ließ ihren Blick langsam zum Gemälde schweifen. Dort verharrte ihr Blick. Gedankenversunken fing ihr Sichtbild leicht zu verschwimmen. Sie versuchte wieder ihre Gedanken zu sortieren und wollte nicht nur so vor sich hinträumen. Dennoch ließ sie sich vollkommen auf das Bild ein, versuchte alles aufzunehmen, was sich dort zeigte. Der Baum im Vordergrund mit Moos bedecken Wurzeln, das Efeukleid, das sich leicht über die Baumrinde ausbreitete, rechts daneben die kleine Lichtung mit dem Baumstumpf und dem Hohlraum darunter. Ihr Blick wanderte noch ein Stück weiter und sie entdeckte weit im Hintergrund einen kleinen Pavillon. Zumindest würde dieses Gebilde so benennen wollen. Sie ging langsam näher an das Gemälde heran, um den Pavillon besser erkennen zu können. So sehr sie auch versuchte konkret zu erkennen, was das Holzgebilde sein sollte, es ging nicht. Das Gebilde war einfach zu weit entfernt. Immer näher tastete sie sich heran. Plötzlich verspürte sie wieder diesen gewissen leichten Hauch von Wind, der Duft von Moos stieg ihr in wieder in die Nase. Da war es wieder – dieses Knacken. Sie schaute nach unten und stelle fest, dass sie tatsächlich wieder den Eingang zum Kunstwerk gefunden hatte. Sie ging einige wenige Schritte vorwärts und hielt inne. Sie schaute auf die Uhr. „Hm. Jetzt habe ich endlich wieder den Weg hier hinein gefunden, aber die Galerie schließt gleich. Wenn ich das riskiere, bin ich über Nacht hier eingesperrt. Purzel würde vermutlich wieder alles Pflanzen anfressen, auch die, die er nicht verträgt. Außerdem weiß keiner Bescheid, der sich dann um Purzel kümmern könnte.“ Viele Gedanken der Vernunft. Anisha zögerte noch wollte eigentlich weitergehen, um endlich zu entdecken, ob es eine Hasen- oder Fuchsgrube war und ob das Gebilde dort im Hintergrund tatsächlich ein Pavillon war. Allerdings müsste sie sich dann schon sehr weit in den Wald hineinwagen. Ein weiterer Blick auf die Uhr zeigte die Notwendigkeit der Rückkehr. In fünf Minuten würde die Galerie geschlossen werden. Anisha drehte sich um und ging auf die Galerie zu. Nach wenigen Schritten hatte sie wieder festen Hallenboden unter ihren Füßen. Sie verwischte die paar sandigen Waldbodenkrümel auf dem Galerieboden und verließ die Halle.

Sie hoffte nun verstanden zu haben, wie man dort den Eintritt gewährt bekam und wollte am nächsten Samstag zeitig ins Abenteuer starten. 

Wo ist Emma?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt