Lebensretter

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Lebensretter

Sie schaute immer wieder zur Seite und behielt das Tier im Auge. Der Wolf hatte sich zwischenzeitlich auch wieder in Bewegung gesetzt, folgte ihr und ließ sie ebenfalls nicht aus den Augen. Allerdings verunsicherte Anisha die Haltung des Tieres. Der Wolf hatte keinen aufrechten Gang, sondern lief leicht geduckt, als sei er auf der Pirsch.

Zwischendurch versah Anisha immer wieder die Bäume mit irgendwelchen Zeichen, damit die wusste, dass sie diesen Weg schon mal gegangen war. Allerdings war ihr klar, dass sie es sich eigentlich sparen konnte, da der Wald sich veränderte. Sie wusste nicht, wo sie auskommen würde und durch ihren Sturz hatte sie so oder so fremde Wege einschlagen müssen.

Der Blick zum Wolf machte sie zunehmend nervöser. Er zog sich immer wieder in geduckter Haltung ins Dickicht zurück. Sie konnte ihn zwar deutlich hören und wusste immer wo er war, da er scheinbar kein Geheimnis draus machte. Es schien, als wolle er, dass sie genau wusste, wohin er abgetaucht war. Anisha fühlte sich als Beute. Sie merkte, wie langsam die Angst in ihr hochkroch und ihr das Atmen schwer machte. Dennoch wollte sie keine Zeit verlieren. Sie wollte weitergehen und versuchen nach Hause zu kommen. Natürlich wollte sie auch Emma finden, aber erst einmal musste sie sehen, dass ihre Wunde am Oberarm versorgt wurde. Eine Übernachtung oder einen Aufenthalt für mehrere Tage hatte sie nun wirklich nicht eingeplant. „Mädel du bist echt dumm! Das war doch klar, dass so etwas passieren konnte!“ Anisha schimpfte wieder vor sich hin. Sie war erschrocken über sich selbst, wie naiv sie an die Situation herangetreten war. Sie wusste, dass Emma verschwunden war und sie wusste, dass der Wald im Gemälde nicht normal war. Außerdem wusste sie, dass der Wald sich veränderte. Wieso also war sie so naiv so tief in den Wald vorzudringen und davon auszugehen, dass sie ohne Probleme wieder nach Hause könnte.

Ein neues Geräusch riss Anisha aus ihren Gedanken. Sie blieb stehen und lauschte. Ihre abrupte Ruhe brachte keine Erkenntnis über die Herkunft des Geräusches, denn auch das Geräusch war weg. Das fremde Geräusch kam nicht vom Wolf, sondern aus einer anderen Richtung. Anisha blickte zum Wolf, der größtenteils im Dickicht abgetaucht war. Sie konnte ihn sehen, wusste wo er lag und sah seinen fixierenden Blick. Er starrte aber nicht zu Anisha, sondern scheinbar in die Richtung in der auch Anisha das unbekannte Geräusch wahrgenommen hatte. Anisha dachte, es sei sicherlich sinnvoller den Wolf und sein Verhalten zu beobachten, als nach dem Geräusch zu suchen. Dennoch rührte sie sich nicht und versuchte jeden noch so leisen Ton in sich aufzunehmen.

Sie hatte das Gefühl es würden unendlich viele Minuten verstreichen, bis sie erneut ein Geräusch vernahm. Anisha sah, wie der Wolf die Ohren aufrichtete und seine Position veränderte. Er richtete sich leicht auf, zum Sprung bereit. Wieder hörte Anisha ein undefinierbares Geräusch. Es hörte sich an wie ein Schnaufen. Was konnte das sein?

Anisha war nicht sicher, ob sie weitergehen oder weiterhin stehenbleiben sollte. Jedenfalls war sie nicht alleine mit dem Wolf. Das Geräusch hörte sich nicht vertrauenswürdig an. Es war nicht von einem Menschen und auch sicher nicht von einem freundlichen Tier.

Sie behielt den Wolf fest im Blick, veränderte aber ein wenig ihre Position indem sie zwei kleine Schritte zurückging. Dabei trat sie versehentlich auf einen Ast, der fürchterlich laut knackte. Über ihr schreckten Vögel auf und flatterten wie wild aufgescheucht von Baum zu Baum. Das schnaufende Geräusch war erneut zu hören gefolgt und einem wilden kreischenden Quieken und lautem Getrampel. Sie konnte das Geräusch zwar orten, wusste aber nicht, wie sie nun reagieren sollte. Wenige Meter vor ihr sah sie plötzlich, wie ein Wildschwein aus dem Dickicht herausschoss und auf sie zuraste. Anisha erstarrte vor Angst. Ihr war klar, dass sie nicht weglaufen konnte. Die Bäume waren zu hoch, sie konnte die unteren Äste nicht erreichen. Während sie wie gelähmt auf dem Weg stand und nicht fähig war zu reagieren, registrierte sie, dass der Wolf aus dem Dickicht schoss und dem Wildschwein in die Seite stieß. Durch die Wucht des seitlichen Angriffs fiel das Wildschwein auf die Seite. Es stand auf, zögerte kurz und verschwand wieder im Gestrüpp.

   Der Wolf hatte ihr das Leben gerettet. Zumindest wäre ein Zusammenstoß mit einem wütenden Wildschwein nicht harmlos verlaufen. Anisha hatte Glück, dass es kein Keiler war, sondern vermutlich lediglich eine besorgte Wildschwein-Mutter, die ihr Kind beschützen wollte. Ihr war klar, dass sie zügig dieses Gebiet verlassen musste, bevor der Keiler auftauchte. Sie schaute sich nach dem Wolf um und sah, dass er sich erschöpft ins Dickicht zurückgezogen hatte. Er lag gerade mal höchstens drei Meter von ihr entfernt und leckte sich die Pfoten. Anisha ging einen kleinen Schritt auf ihn zu, doch dieser verkroch sich sofort ins nächste Buschwerk.

Wo ist Emma?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt