Unbekannte Wege

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Unbekannte Wege

Der Pfad hatte eine Breite von gut drei Metern, der Boden war sandig mit etwas Laub bedeckt. Es zeigten sich zwei Spuren, die mit weniger Laub bedeckt waren. Man könnte meinen, dass hier Autos entlanggefahren wären. Vielleicht war sie auf einer Spur gelandet, die in eine Stadt oder in einen nahegelegen Ort führen würde. Vielleicht würde gleich ein Auto vorbeikommen und könnte sie mitnehmen, so dass sie nicht im Wald übernachten müsste. Andererseits – wollte sie auch nicht unbedingt ein fremdes Fahrzeug anhalten und dort irgendwohin mitgenommen werden. Ihr war das Risiko einfach zu groß in ein weiteres unfreiwilliges und unerfreuliches Abenteuer zu gelangen.

Allerdings war Anisha sich auch nicht sicher, was mit ihrer Oberarmverletzung war. Sie konnte die Stelle nicht richtig einsehen und ihr war klar, dass sie auf jeden Fall in Kürze einen Arzt aufsuchen sollte. Vielleicht sollte sie aber doch in aller Ruhe und mit äußerster Sorgfalt versuchen, den Ast herauszuziehen und die Wunde zu versorgen. Aber wie sollte die die Wunde versorgen, wenn sie weder Desinfektionszeug noch Verbandsmaterial dabei hatte. „Na super, so einen Kram hätten die vielleicht direkt im Grundkurs des Überlebenstraining-Workshops zeigen sollen!“ schimpfte Anisha. Das Thema Verletzungen sollte jetzt in ihrem nächsten anstehenden Workshop behandelt werden. „Ganz toll Mädel, die paar Wochen hättest du deine Neugier vielleicht mal zügeln sollen. Mist verdammter… einfach Mist!“

„Nun gut, was soll’s! C’est la vie! Jetzt hör auf zu jammern, du hast es nicht anders gewollt. Jetzt reiß dich zusammen und schau dass du das Beste draus machst!“ beruhigte sie sich weiter. Sie musste jetzt schauen, dass sie irgendwo einen Unterschlupf fand, um geschützt ein paar Stunden zu ruhen. In Kürze würde die Dunkelheit über sie einkehren und sie wollte dann zumindest einen einigermaßen geschützten Platz haben. Anisha humpelte weiter den Pfad entlang.

Mit einem Mal stockte Anisha. „Oh nee, verdammt nochmal!“ stieß sie hervor. Ihr fiel gerade ein, dass sie nach ihrer unsanften Landung gar keine Markierungen mehr angebracht hatte. Sie drehte sich um und schaute, wie viel Meter sie bereits gehumpelt war. Möglicherweise zweihundert Meter, mehr sollten es nicht gewesen sein. Verärgert und leise schimpfend hinkte sie zurück zu ihrer unsanften Talfahrt-Landung und markierte dort den Baum, der ihr die schmerzhafte Knieprellung verpasst hatte. Sie änderte ihre Markierung, Zahlen hatte sie schon lange nicht mehr zugefügt, das wäre auch viel zu umfangreich geworden. Sie hatte irgendwann die Markierung mit Pfeilrichtungen für den Heimweg versehen. Hier wusste sie aber nicht wo sie war, also konnte sie keine Pfeilrichtungen anbringen. Sie versah den Baum mit einem dicken „AUTSCH“ und einem traurigen Smiley darunter. Sie überlegte, wie sie nun die anderen Bäume markieren sollte. Nach kurzem Überlegen entschied sich Anisha für ein Fragezeichen. Diese versah sie dann zusätzlich wieder mit einer Zahl. Sie hoffte, dass sie irgendwann wieder auf ihren Weg zurückkommen würde und den Heimweg antreten könnte. Ein Kompass wäre jetzt hilfreich. Ein Utensil, was sie sich für ihren nächsten Workshop kaufen wollte. „Dumm gelaufen. Hätte ich das blöde Teil mal schon gekauft. Hach – hätte, wäre, wenn – was nutzt es? Ich hab es nicht hier!“ Wieder schimpfte Anisha vor sich hin.

Sie lief erneut den Pfad entlang und hatte endlich wieder ihren Punkt erreicht, an dem sie vorher umgekehrt war. Sie folgte dem breiten Pfad mit den Fahrspuren weiter, lauschte aber immer wieder, ob sich vielleicht ein Fahrzeug nähern würde. Sie überlegte aber, wie oft wohl ein Fahrzeug durch einen Wald fahren würde. Normalerweise würden vielleicht Förster durch den Wald fahren. Es sei denn, dieser Weg würde tatsächlich eine Abkürzung zu einem nahegelegen Ort sein.

Mit einem Mal beschlich sie ein unwohles Gefühl. Anisha liebte Horrorfilme und erinnerte sich daran, dass oft Autos in dunkle Wälder fuhren und das Unheil nahm seinen Lauf. „Boah Anisha, muss du jetzt an Horrorfilme denken? Reiß dich zusammen, du gehst sonst auch dauernd in Wäldern spazieren oder joggen!“

Ihre Gedanken hatten sie so eingenommen, dass sei beinahe wieder ihre Markierungen vergessen hätte. Erschrocken schaute sie sich um und suchte nach ihrer letzten Marke. Kein Problem, sie war sichtbar. Der nächste Baum erhielt also wieder ein Zeichen. Sie war durch ihr Lahmen so langsam unterwegs, dass es mittlerweile dämmrig geworden war und dabei hatte sie nicht wirklich viel Strecke hinter sich gebracht. „Weniger Schimpfen und mehr Laufen Mädel, sonst wird das nichts!“ Anisha schaute noch einmal auf ihr Knie und drückte ein bisschen unbeholfen darauf herum. Obwohl es sehr schmerzte ging sie davon aus, dass es wirklich nur eine schwere Prellung war. Sie sollte also die Zähne zusammenbeißen und ihren Gang ein wenig beschleunigen.

Langsam wurde die Sicht schlechter. Leichter Nebel schlich über den Boden. Anisha stoppte. Sie schaute auf den Nebelteppich, der sich in geringer Entfernung vor ihr ausbreitete und  langsam und unhaltbar in Schneckentempo auf sie zukroch. Es sah aus, als wollte der Nebel sich an sie heranschleichen, um sie dann einzufangen und einzuhüllen. Sie wagte es noch immer nicht ihren Weg fortzusetzten. Sollte sie umkehren?

Wenn sie zuvor doch nicht an die blöden Horrorfilme gedacht hätte. Jetzt spielten sich sämtliche Filme in ihrem Kopf ab. Nebel war schon immer etwas gruselig, aber mit dem Gedanken an den Film bekamen die Nebelschwaben eine ganz andere Bedeutung. Sie schüttelte ihre Gedanken weg, markierte den nächsten Baum mit einem Fragezeichen, der fortlaufenden Zahl und dem Wort „Fog“. Langsam und sehr zögerlich setzte Anisha ihren Weg fort.

Sie erreichte den Nebelschleier – oder erreichte der Nebel sie? Die erste Berührung war da. Der Nebel umhüllte ihren Fuß und schien langsam an ihrem Körper hochzukriechen. Eine leichte Kälte breitete sich aus.

Wo ist Emma?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt