Was nun?

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Was nun?

Anisha hatte das Gefühl das Plätschern des Wassers zu hören. Sie versuchte sich treiben zu lassen und mit dem Gemälde des Valle Verzasca zu verschmelzen. Sie berührte das Bild und hatte den Eindruck mittendrin im zauberhaften Tal zu sein, dennoch schien die Verschmelzung und damit der Eintritt in das Gemälde nicht zu funktionieren. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie bereits auf das Stillleben gestarrt hatte, aber so sehr sie versuchte sich darauf einzulassen, es klappte einfach nicht.

Was wäre, wenn sie gar nicht mehr aus dieser Gruft herauskam? Vielleicht war sie in dem Raum gefangen und konnte auch nicht wieder in ihr ursprüngliches Gemälde zurück. Anisha überkam eine unglaubliche Angst. Sie drehte sich zu ihrem Ausgangs-Bild und ging darauf zu. Dann schloss sie die Augen und versuchte sich zu entspannen. Bereits nach kurzer Zeit war sie wieder mit dem Bild vereint. "Boah - zum Glück!" seufzte Anisha und trat wieder zurück den Raum zu Lupo.

Wahrscheinlich war nicht jedes Bild in diesem Raum dafür gemacht, die Welten oder Sphären zu wechseln. Anisha betrachtete ihr Ausgangs-Bild und versuchte eine Zeichnung oder eine Signatur zu finden. Sie hatte bei dem Gemälde in der Galerie nie konkret danach gesucht. Offensichtlich war jedenfalls keine Signatur zu sehen und Informationen zum Maler gab es im Computer der Galerie nicht. Vielleicht hatte aber der Maler dennoch versteckte Informationen hinterlassen. Sicherlich wäre die Galerie der geeignetere Ort, um danach zu suchen, da er erheblich besser beleuchtet war, allerdings war sie jetzt nun einmal hier und hier war sie unbeobachtet - zumindest hoffte sie das. Sie schaute sich das Gemälde und insbesondere die Ränder sehr genau an und versuchte irgendwelche Zeichen zu erkennen, die nicht zum Gemälde gehörten.

Tatsächlich konnte Anisha nach umfangreicher und intensiver Sichtung des Gemäldes im Geröll des Weges Zeichen erkennen, die man als Buchstaben deuten könnte. War dies ein Zufall, oder waren dies wahrhaftig Buchstaben, die auf einen Namen und vielleicht sogar auf den Maler hindeuten könnten. Die Buchstaben waren in leicht verschnörkelter Form aneinander gereiht. Wenn sie ihr Blick nicht trüben würde, dann könnte dort "Alo" zu lesen sein. Anisha überlegte, wo sie diesen Namen schon einmal gehört oder gelesen haben könnte, jedenfalls kam es ihr bekannt vor. War es vielleicht nur eine Abkürzung für irgendetwas, oder der Name eines Dorfes? Hatte sie den Namen im Zusammen mit dem Artikel über einen Indianer gelesen, der als spiritueller Führer dem Volk half? Sie konnte sich beim besten Willen nicht konkret erinnern! "Wenn ich zuhause bin, dann suche ich die Bedeutung des Namens nochmal raus. Vielleicht ist es auch alles Humbug, was ich mir da zusammenreime!" sagte Anisha leise vor sich hin.

Anisha ging wieder zum Gemälde des Valle Verzasca und versuchte auch dort eine Signatur zu finden. Sie wusste ja nun, wenn es denn ein Zeichen war, wonach sie suchen musste. Sie schaute intensiv in allen möglichen Unebenheiten, konnte aber in diesem Bild keine Buchstaben finden. Ein bisschen erinnerte Anisha die Suche an eine Fernsehzeitung in der man auf den Bildern der letzten Seite immer eine versteckte Maus suchen konnte. Nach einiger Zeit gab sie auf, da sie dort nichts dergleichen finden konnte. Sie ging zum nächsten abgedeckten Gemälde und hob das Tuch an.

Auf diesem Bild zeigte sich ein Elefant in der Wildnis. Ein sehr schönes Bild, aber sehr schlicht. Viel Sand, blauer Himmel und ein einzelner Elefant. Dieses Bild hatte eher etwas Trauriges an sich, da der Elefant sehr einsam wirkte. Auch dieses Gemälde untersuchte sie nach irgendeiner Signatur, allerdings auch ohne Erfolg. Sie ging zu nahezu jedem Gemälde dieses Raumes, schaute sich die Bilder an, untersuchte sie nach hilfreichen Informationen und suchte nach diversen Zeichen.

Bei dem Gemälde vor der Wand, an der die Truhe stand, offenbarte sich eine Malerei, die einen großen See zeigte. Die Sonne glitzerte auf der Wasseroberfläche. An der rechten Seite des Sees war ein kleines Ruderboot zu sehen.

"Moment mal, das kenne ich doch irgendwo her!" stutzte Anisha und erinnerte sich an ihren ersten umfangreicheren Ausflug in das Waldgemälde. Zumindest hatte dieser See mit dem kleinen Ruderboot unglaubliche Ähnlichkeit. War dies ein Zufall? Anisha suchte auch an diesem Gemälde nach irgendwelchen Zeichen und hoffte, dass sich ihre Vermutung mit den Buchstaben bestätigen würde. "Unfassbar!" jauchzte Anisha. Sie hatte auch auf diesem Gemälde die Zeichen "Alo" entdeckt. Vielleicht könnte sie in dieses Gemälde eintreten, um wieder an den See zu kommen? Dort hatte sie überall Kreidemarkierungen hinterlassen, der Weg nach Hause wäre dann ein Kinderspiel, vorausgesetzt diese unwirkliche Welt hätte nicht wieder ihre Dimensionen verändert.

In diesem Moment fiel Anisha auf, dass sie von dem Raum und den Gemälden so fasziniert gewesen war, dass sie die einfachste Möglichkeit noch nicht einmal in Erwägung gezogen hatte. Dieser Raum hatte eine Türe. Sie stand vor einer halben Ewigkeit vor dieser Türe und hatte nicht einmal getestet, ob diese offen oder verschlossen war. War sie von den Gemälden so in den Bann gezogen, dass sie es schlichtweg vergessen hatte, oder sollte sie vielleicht von irgendetwas Übernatürlichem davon abgehalten werden, diese Türe zu öffnen? Was würde sie hinter dieser Türe erwarten? 

Anisha ging zur Türe und zögerte. Die Türe war aus massiven Holzbalken zusammengesetzt. Die Form der Holzbalken erinnerte an Balken, die unter den Bahnschienen angebracht waren. Die Balken waren mit breiten Metallschienen verbunden und mit dicken Schrauben verankert. Die Türklinke war fast schwarz und hatte die Form einer eingerollten Feder. Spinnweben räkelten sich in jeder Nische der Türe, als sei sie seit Ewigkeiten nicht mehr bewegt worden. "Na toll, die Aussichten sind ja rosig!" brummte Anisha vor sich hin und war beim Anblick der Türe alles andere als motiviert.

Sie legte ihre Hand auf die Klinke und drückte diese vorsichtig runter. Die Klinke ließ sich erstaunlich leicht nach unten drücken, die Türe bewegte sich jedoch keinen Millimeter. Anisha stemmte ihren Körper leicht gegen die Türe und hoffte, dass sich dadurch die Türe bewegen und öffnen ließ. Nach einigen ruckartigen Stößen gegen die Türe sprang diese tatsächlich auf. Einige Putzbrocken fielen beim Öffnen von den Seiten runter auf den Boden und die feinen Partikel schwebten förmlich langsam zu Boden und hinterließen einen Staubnebel. Anisha musste kurz Husten, da sie etwas davon eingeatmet hatte.

Langsam öffnete sie die Türe weiter, um zu sehen, was sich dahinter verbarg. Eine Treppe führte aufwärts. Sie zählte in Gedanken die Stufen "eins, ... sechs, sieben!" Vorsichtig tastete sie sich die Stufen hinauf. Das flackernde Licht aus dem Raum erhellte die Stufen gerade so, dass es ausreichend war. Anisha betrat die letzte Stufe und stand vor einer weiteren Türe. Die Türe zeigte irgendwelche merkwürdigen Zeichen, die sie nicht deuten konnte. Des Weiteren waren drei Worte in die Türe geritzt: "Weg zur Wiedergeburt". Unendlich großes Unbehagen machte sich bei ihr breit. Sollten diese sieben Stufen eine besondere Bedeutung haben? Würde sich hinter der Türe die achte Stufe befinden? Im religiösen Sinne stand die Sieben für den Schöpfungstag und die Acht für das Leben nach dem Tod, die Wiedergeburt oder der Neubeginn. Sollte sie es wagen durch diese Pforte zu gehen? Was würde sie dort erwarten? Was, wenn Emma durch diese Pforte gegangen wäre?

Anisha war absolut unentschlossen und stand wie angewurzelt vor dieser unheimlichen und rätselhaften Türe. Sie schaute sich nach Lupo um und stellte fest, dass dieser ihr nicht die Treppen hinauf gefolgt war. Vielleicht mochte oder kannte er keine Stufen oder er hatte ein Gespür für Übernatürliches. Was sollte sie nun tun? Ihrer Neugier oder ihrer inneren Stimme folgen?

Wo ist Emma?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt