32. Flucht

50 1 0
                                    

Die Tränen fließen und fließen. Sie verschwimmen mir die Sicht, wofür ich gerade sogar ziemlich dankbar bin. Ich will nicht in Logans Augen sehen müssen. Ich will nicht schon wieder zu irgendetwas gezwungen werden...Das Einzige, das ich momentan wirklich will, ist zu verschwinden.

Und da nehme ich alle Kraft, die ich noch in den Stimmbändern finden kann, was letztendlich ein mickriges Ergebnis erzielt: "Ich kann das nicht."
Mehr bringe ich nicht über die zitternden Lippen. Wie lächerlich...

Da entfällt Logans Grinsen. Es passiert plötzlich so schnell. So schnell, dass er sich wieder verwandelt und er wieder er ist. "Was?", keucht er irritiert und scheint erst jetzt meine erbärmlichen Tränen zu erkennen. Seine dichten Augenbrauen verziehen sich verständnislos.

"I-ich kann das nicht", wiederhole ich mühsam und muss die aufkommenden Schluchzer zurückhalten.

"Ab...aber was ist denn los?" Er strahlt Besorgnis aus und dennoch erkenne ich ganz tief in seinen Augen die Enttäuschung. Die Enttäuschung, dass ich ihm nicht das gebe, was er will.

Logan hebt unwissend seine Hand und nähert sich meinem verheulten Gesicht. Er streicht sanft eine kleine Träne von meinem Augenwinkel, doch das ist zu viel für mich. Mit jeder weiteren Berührung verbrennt meine Haut ein Stückchen mehr.

„Hör auf." Reflexartig drehe ich mich weg und vergrabe mein Gesicht in dem fremden Kissen. Scham, Furcht und Erschöpfung überkommen mich.

Ich. Muss. Hier. Weg.

Es vergehen einige Sekunden, in denen er mich einfach in das Kissen heulen lässt. Den glühend heißen Blick, mit dem er mich anstarrt, kann ich förmlich auf meiner toten Haut abprallen spüren. Innerlich wird mir schon ganz schlecht, doch auf einmal berührt mich seine Hand. Sie legt sich unter mein Kinn und will dieses gewaltsam zu sich ziehen. An der Stelle seiner Berührung brennt meine leblose Haut unangenehm. Und dann tue ich das, das ich schon vor vielen Jahren bei Tristan hätte tun sollen: Ich wehre mich! Mein zitternder Körper wird nicht mehr durch Angst durchflutet, sondern durch Zorn, den ich nicht mehr bündeln kann. Und so trifft meine flache Hand hart auf seine Wange und hinterlässt einen ordentlichen Schmerz.

"Ich habe gesagt, hör auf!", keuche ich warnend, während meine Stimme ebenso vor Zorn bebt. Ich sehe ihn an, als würde ich ihn mit meinen Blicken töten können und wische meine letzten kalten Tränen weg. „Fass. Mich. Nie. Wieder. An." Fest entschlossen, als hätte ich nun die nötige Kraft, stehe ich vom Bett auf, während mich Logan entgeistert anstarrt, als könne er seinen Augen nicht trauen.

Den tiefen Kloß in meinem trockenen Hals versuche ich herunterzuschlucken, denn das aufkommende Gefühl, das ich als positiv identifiziere, leitet nun meinen Körper. Ich greife nach meinem T-Shirt, sowie meiner kleinen Tasche. Ein Kraft schöpfendes Einatmen versorgt mich mit frischer kalter Luft, die mich klarer denken lässt. Dann sehe ich Logan das letzte Mal in die Augen. So wie er da auf dem Bett sitzt. So unwissend, so gedemütigt, verwirrt und so erstarrt - genauso hätte ich mir Tristan vor zwei Jahren gewünscht.

Schließlich wende ich mich ab, stapfe hastig zur Tür des Zimmers und ziehe diese mit einem kräftigen Laut hinter mir zu. Ich habe endlich geschafft, was ich mich all die Jahre nicht traute. Und dennoch fühlt es sich irgendwie... falsch an.

Ein Blick auf die Uhr meines schwarzen Smartphones verrät mir, dass es bereits 1.34 Uhr ist. Verzweifelt sehe ich mich um. Ich habe keine Ahnung, wo ich mich befinde und, was genau mein Ziel sein wird, aber meine Füße tragen mich einfach in irgendeine Richtung. Hauptsache weg.

Vermutlich wäre es die klügste Lösung einfach meine Tante anzurufen, aber ich kann nicht. Ich würde es nicht übers Herz bringen, sie aus ihrem Schlaf zu reißen, um sie zu enttäuschen. Dazu schäme ich mich zu sehr. Außerdem lässt mich die Möglichkeit, dass sie während des Anrufes schon einen Herzinfarkt bekommen könnte, zurückschrecken. Das bedeutet also, ich habe mir das eingebrockt und muss das jetzt auch irgendwie wieder ausbaden!

Baby don't hurt meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt