36. Märchenstunde meines Lebens

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"Es war einer dieser Tage, an denen du aufwachst und das erste Wort, das dir in den Sinn kommt, Scheiße ist." Ich drehe mich etwas zu Scarlett. "Und ich hätte mir gewünscht, es wäre nur meine Wettervorhersage für jenen bescheuerten 23. Oktober gewesen..." Unauffällig vernehme ein kleines Mundwinkelzucken bei meiner trostspendenden Zuhörerin. „...aber dabei blieb es nicht." Tief schlucke ich den Klos in meinem Hals hinunter.

"Ich war in der Schule, als mich die Nachricht erreichte, dass unser kleines blaues Haus abgebrannt sei. Und damit auch meine Eltern...tot seien." Mein Herz beginnt zu schmerzen und einzelne Tränen kullern meine Wange herunter. Die Mühe, diese aus Scham wegzuwischen, mache ich mir gar nicht erst. Mittlerweile fehlt  mir die Kraft dazu. 

"Ich kann mich noch gut an den Moment erinnern, als ich aus dem Krankenhaus, in dem meine Eltern voller Ruß und Asche bedeckt starben, herausstürmte und mich einfach auf den Straßenrand setzte. Die Autos fuhren mit schneller Geschwindigkeit an mir vorbei, der matschige Boden klebte an meinen Schuhsohlen und ab und zu fiel ein oranges Herbstblatt vom Baum. Ich heulte und heulte, sodass ich irgendwann nicht mehr wusste, ob das noch meine Tränen waren oder ob sich der kalte Regen unter meinen Augen angesammelt hatte. Es war schrecklich. Wohl der schrecklichste Moment in meinen Leben. Ich dachte, dass sich die Hölle genauso anfühlen müsste. Dabei wusste ich nicht, dass ich die richtige Hölle auf Erden erst erleben würde..."

Scarlett schluckt leicht und legt einen Arm um mich. Sie sagt nichts und macht auch nichts. Genauso, dass ich es nicht bereue eine Märchenstunde aus meinem lächerlichen Leben zu machen. "Danach ging alles relativ schnell. Ich zog zu meinem Onkel Jack, da er nur 20 Minuten entfernt wohnte und erhoffte mir einen Neuanfang. Nur, leider war das nicht so einfach."

Augenblicklich beschleunigt sich mein Herzschlag. Graue Augen blitzen auf und ein schadenfrohes Grinsen bildet sich auf den stoppeligen Mundwinkeln. Der Geruch von Zigaretten kommt mir in die Nase, obwohl hier weit und breit keinerlei Anzeichen von Tabak zu sehen sind. Verzweifelt kneife ich meine Augen zu und versuche die Bilder aus meinem Kopf zu löschen.
Sollte ich ihr wirklich von diesem Trauma berichten? Den ganzen Schmerz noch intensiver aufzuwühlen, als er eh schon in jeder Faser meines Körpers steckt, kann ich mir nicht als Befreiung vorstellen. Ganz im Gegenteil. Und würde sie das überhaupt verkraften?

"Ähm..." Nachdenklich schaue ich in ihr Puppengesicht, das mich sanft anlächelt. "D-das w-wird jetzt-t...", meine Stimme zittert nervös und ich weiß nicht, wie ich überhaupt Derartiges anschneiden soll. Noch nie habe ich jemandem so Außenstehenden davon erzählt.  "Eh..." Von Sekunde zu Sekunde werde ich verzweifelter und versuche diese Unsicherheit mit nervösem Gespiele meiner Hände zu unterdrücken.

"Schon gut." Mitfühlend nimmt sie mich unerwartet in den Arm und drückt sich mit aller Kraft an meinen zierlichen Körper. Ihre körperliche und sogar ihre innerliche Wärme stoßen Stromschläge in mir aus, die langsam aber sicher, selbst zu einer angenehmen Wärme verschmelzen. Ganz leise wispert sie etwas in mein Ohr, was die Nervosität langsam verblassen lässt: "Ich bin für dich da. Egal, wie unschön die Geschichte wird. Ich werde auch nicht über dich urteilen oder schlecht von dir denken. Erzähl einfach, was dir auf dem Herzen liegt und wenn du das Bedürfnis hast, meine Meinung zu hören, kann ich auch ganz sachlich sein. Oder auch nicht. So wie du es willst! Du triffst die Entscheidung und ich werde mich anpassen."

Ihre Worte schenken mir Mut, wärmen mich noch mehr auf und lassen mich irgendwann ruhiger werden. Alle Nervosität und Zweifel verschwinden aus meinem Kopf, bis ich ein klares Bild vor mir sehen kann. Ein Bild, das ich so lange und so gut geschützt wegsperrte. Und jetzt, lasse ich dieses Bild, diese Momentaufnahme, auf mich wirken. Ich schließe die Augen, atme die salzige Luft tief ein und warte, bis sich das Bild bewegt und die Worte nur so aus mir heraussprudeln:

Baby don't hurt meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt