33. Die mysteriöse Scarlett

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Erschrocken fahre ich zusammen und weite meine Augen, als ich etwas Warmes an meiner Schulter zu spüren wage. Innerhalb einer Millisekunde beschleunigt sich mein Puls auf ein besorgniserregendes Maß.

"Hey, ich bin's doch nur", lächelt jemand amüsiert und lässt sich neben mich nieder. Der Duft von billigem Aftershave kommt mit in die Nase. Irritiert kneife ich die Augen zusammen. "Eins muss man dir lassen. Du hast einen echt tiefen Schlaf." Mit höchst verwirrter Miene starre ich die fröhlich lachende Person an, ehe sich unweigerlich ein Lächeln auf meine kalten Lippen zaubert.

"Max!", keuche ich erschöpft und ziehe ihn rasch in eine dringend benötigte Umarmung.
"Was machst du hier?", flüstere ich konfus in sein Ohr und drücke mich noch fester an meinen Cousin.

"Ich war mit meinen Jungs feiern. Gerade bin ich auf dem Weg nach Hause, da hab ich dich hier schlafend entdeckt." Vorsichtig löst er sich aus der Umarmung, was ihm nicht so schwer zu fallen scheint, wie mir. "Und was tust du hier mitten in der Nacht? Ich könnte mir auch bessere Schlafplätze, als diese schäbige U-Bahn, vorstellen." Wieder strahlt mir sein Lächeln entgegen, das mich beinahe vor lauter Fröhlichkeit blendet. 

Ich bringe lediglich ein gequältes Mundwinkelzucken zustande. "Ich...eh...eigentlich...", stottere ich hilfesuchend, bis mich die Geschehnisse plötzlich überkommen.

Roadtrip. Spaß. Wein. Noch mehr Spaß. Berührungen. Küsse. Lust. Grinsen. Angst. Und meine Flucht, die ich schon viel früher hätte ergreifen sollen. 

Oh Gott, mir wird schlecht! 

Frustriert fahre ich mir über mein verheultes Gesicht und bemerke, dass dieses seltsam kalt anzufühlen ist. Max sieht eine lange Zeit erwartungsvoll zu mir herunter, bis ich einen Entschluss fasse. Keine Lügen mehr!

"I-ich habe gerade beinahe mit meinem Freund geschlafen." Und das warmherzige Lächeln meines Cousins verschwimmt. Seine Züge werden härter. Der Schock ist Max geradezu anzusehen.

Je länger ich ihm in seine grünen Augen sehe, die mich geweitet anstarren, erkenne ich zunehmend die versteckte Enttäuschung in seiner Körpersprache und seinem Gesicht. Diese Enttäuschung zu sehen ist, wie ein derber Schlag ins Gesicht und eine Herzattacke zugleich. Und das veranlasst meine Tränendrüse heftig zu drücken und somit, den geglaubten Sieg über die Traurigkeit wieder zu verlieren. Kläglich schluchze ich mit gesenktem Blick vor mich hin. Zwar anfangs noch still und heimlich, aber nun erschöpfend ungeniert.

"Shhhhhh." Der Schock Maxs scheint vorerst überwunden, als er mich in eine tröstende Umarmung schleust und ich kurzzeitig wieder Geborgenheit fühle. Sein Aftershave strömt erneut in meine schniefende Nase, doch dieses Mal erfüllt es mich mit Sicherheit. Mit zitternden Fingern kralle ich mich fester an Maxs kalte Lederjacke.

"Du wirst vorerst zu uns kommen."

Mit diesen Worten hilft er mir an der nächsten Haltestelle, wieder auf meine wackligen Beine und führt mich aus der stickigen U-Bahn hinaus. Ich schniefe immer noch vor mich hin und versuche den Kampf gegen die Tränen doch noch zu gewinnen - vergebens. Mein Schmerz hat mich so sehr eingenommen, dass ich mich entscheide, Max einfach blind zu vertrauen.

Ich kann nur ausmachen, dass wir ein kleines Stück zu Fuß gehen. Max gibt sein Bestes, mich fest zu stützen, damit ich keine Bekanntschaft mit dem harten Boden mache. Er hält mich einfach nur fest, streicht ab und an beruhigend über den Rücken und murmelte nette Worte vor sich hin. Ich würde ihm gerne dafür danken, bekomme jedoch kein Wort aus meiner staubtrockenen Kehle. Die ganze Zeit über klammere ich mich also nur stumm an ihn, als wäre ich ganz allein in dem tiefen gefährlichen Meer gefangen und als wäre er mein Rettungsring. Denn das ist er wirklich.

Als wir in ein winziges Haus direkt an der Strandpromenade eintreten und ich eine junge Frau, die mitleidig auf mich zukommt, entdecke, dämmert es mir endlich, wen er mit uns meinte.

Die junge Frau im geschätzten Alter von 22 Jahren hat eine glänzende blonde Mähne, die ihr kleines Puppengesicht, das sich als wunderschön entpuppt, in den Schatten stellt. Ihre himmelblauen Augen funkeln mich hell an. Sie trägt nur ein weites T-Shirt, welches mehr Maxs Kleidungsstil entspricht als einem so zierlichen Mädchen. Bei genauerem Betrachten erkenne ich sogar, dass Max genau dieses T-Shirt schon des Öfteren in meiner Gegenwart trug. Tatsächlich als...Und da fällt es mir wie die Schuppen von den Augen! Das ist das mysteriöse Mädchen, mit dem Max sich am Telefon stritt, während ich die beiden heimlich belauschte. Oh Gott!  Als könnte es im Moment nicht noch schlimmer kommen, überkommt mich schlagartig auch noch eine Welle voller Scham...

Max lässt seine warme Hand, die mir etwas Sicherheit in der dunklen Nacht gab, von mir ab, um sie auf ihre schmale Taille zu legen. Einige Sekunden schauen sie sich tief in die Augen, als beide im selben Moment ein glückliches Lächeln auf ihre Lippen zaubern.
"Ich hätte dir womöglich von ihr erzählen sollen, aber dafür kannst du sie jetzt kennenlernen."

Das Mädchen reicht mir wie aufs Stichwort freundlich die Hand. "Hey. Ich bin Scarlett. Seine Freundin." Sie wartet darauf, dass ich ihre Hand schüttele, doch ich fürchte, dass ich meine Gliedmaßen gar nicht mehr bewegen kann. Und selbst wenn, könnte ich keinerlei Mut aufbringen, mich anzustrengen. Ich möchte mich einfach nur in den Schlaf weinen und irgendwann aufwachen können, ohne jegliche Sorgen mehr. Ich will einfach vergessen.

"Sie ist total aufgelöst. Ich fürchte, ihr müsst euch morgen besser kennenlernen", höre ich Max in ihr Ohr flüstern. Ich erwarte schon, dass sie beleidigt reagiert oder mich als unsympathisch eingestuft, aber das tut Scarlett nicht.

Sie zieht eine verständnisvolle Schnute und erwidert: "Natürlich. Du musst ja so erschöpft sein. Ich habe dir unser Bett schon hergerichtet. Ich schätze, es wäre wirklich besser, wenn du dich etwas ausruhst." Sie lächelt barmherzig und tätschelt mir meine kalte Schulter, sodass diese wenigstens etwas Wärme abbekommt. Und dann umarmt sie mich plötzlich aus heiterem Himmel. Als würden wir uns schon seit Ewigkeiten kennen und als sei sie meine beste Freundin. Ein Hauch von Vanille stößt mir in die Nase und eine kurze Welle der benötigten Fürsorge überkommt mich, bis sie sich löst und wieder alles in mir gefriert.

Scarlett führt mich in das kleine Schlafzimmer und lächelte gastfreundlich.
"Mach es dir einfach bequem und fühle dich wie zu Hause, ja?"

Entmutigt nicke ich, denn mehr bekomme ich in dem miesen Zustand nicht hin. Auch wenn meine Tränendrüse vorübergehend nicht mehr funktionsfähig scheint, brennt mein ganzer Körper noch immer unaufhörlich tödlich.

"Und wenn du etwas brauchst, auch wenn es einfach nur eine Schulter zum Anlehnen ist, kannst du jederzeit zu mir kommen. So von Frau zu Frau..." Sie wackelt lustig mit ihrer Augenbrauen, was mich innerlich etwas zum Lachen bringt.
"Wir schlafen ein Zimmer weiter. Wecke mich einfach auf."

Ich beobachte sie, wie sie mich immer noch freundlich anlächelt und dann geht. Sie macht das Licht aus und will gerade verschwinden, als sie sich bei meinen ersten und einzigen Worten umdreht.

"Danke."

Baby don't hurt meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt