Kapitel 8

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Den Rest des Tages war ich völlig neben der Spur, ich bekam diese Frau einfach nicht aus meinen Gedanken. In meinen Vorlesungen erwischte ich mich immer wieder dabei, wie ich die Realität verließ und in diverse Tagträume abdriftete. Meine geistige Abwesenheit blieb weder meinen Kommilitonen noch meiner Mitbewohnerin verborgen.

„Sag mal Hannah, ist alles in Ordnung?", fragte Katrin, als wir zusammen in der Küche saßen. Ich rührte gedankenverloren in meinem Kaffee herum und merkte gar nicht, dass ich ihr nicht mehr zugehört hatte. Sie hatte mir irgendwas von einer Wg-Party erzählt, doch dazu hatte ich herzlich wenig Lust und schaltete mein Gehör ab.

„Ja, ich brauche bloß dringend ein Thema für meine Bachelorarbeit und finde nichts. Was war mit der Party?" Die Arbeit war das einzige Thema, das mich momentan beschäftigte. Mir fiel einfach nichts Gutes ein, dabei wollte ich so schnell wie möglich ein gutes Thema finden.

„Schau doch mal im Internet, es gibt doch sicherlich tausende Beispiele dafür. Vielleicht ist was dabei, das dich interessiert. Du musst es ja nicht übernehmen, aber vielleicht findest du ein wenig Inspiration." Ich war überrascht, denn das war ausnahmsweise mal ein Rat von Katrin, mit dem ich etwas anfangen konnte. Na klar, Google und Wikipedia- die besten Freunde eines Studenten, wieso bin ich da selbst nicht darauf gekommen?

„Also kommst du mit?", fragte Katrin und ich musste zugestehen, ihr schon wieder nicht zugehört zu haben. Ich musste dringend den Kopf frei bekommen.

„Ja, ja. Klar.", sagte ich und wusste gar nicht genau, worauf ich mich gerade einließ. Katrin schien sich sichtlich zu freuen und überlegte schon, was sie anziehen könnte. Ich hingegen beschloss, erstmal eine Runde laufen zu gehen, ich wollte endlich wieder Kontrolle über meine Gedanken bekommen. Da war joggen das Einzige, das mir dabei helfen konnte. Nachdem ich mich kurz umgezogen hatte, schloss ich die Tür hinter mir, schaltet die Musik ein und lief los.

Während des Laufens versuchte ich mich auf die Musik  und die Natur, die mich umgab zu konzentrieren. Das Wetter war perfekt zum Laufen, ein sonniger Herbsttag, nicht zu kalt und nicht zu warm um zu sich zu bewegen. Die Blätter wechselten langsam ihre Farben, statt einem satten Grün war immer mehr Gelb, Orange und Rot zu erkennen. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf das Kunstwerk, das die Natur mir bot, betrachtete die Menschen, die mir entgegenkamen und versuchte meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Da ich lange nicht mehr laufen war, geriet ich schnell aus der Puste bei meinem Tempo. Meine Ausdauer ließ deutlich zu wünschen übrig, doch als ich mein Tempo verringerte, gingen meine Seitenstiche auch wieder weg. Nachdem ich mein Tempo gefunden hatte, kamen allerdings auch die Gedanken an Frau Michelsen zurück. Ich musste einfach ununterbrochen an diese Frau denken. Die kleinsten Dinge boten Anlass dazu, dass ich mir wünschte, sie wäre gerade an meiner Seite. Teilweise nervte es mich schon selbst, dass meine Gedanken so oft von ihr dominiert wurden. Doch mein Verlangen nach ihr war einfach zu groß. Es gab nichts auf der Welt, was ich mir mehr wünschte, als die Möglichkeit sie besser kennenzulernen und Zeit mit ihr zu verbringen. In meinen Gedanken malte ich mir die alltäglichsten Situationen aus, die zumindest in meiner Phantasie, um Welten interessanter wurden. Wie gerne würde ich morgens neben ihr aufwachen, mit ihr frühstücken, oder zusammen einkaufen gehen. Ja, selbst das malte ich mir in meinen Tagträumen aus. Ich hätte mein Leben so gerne mit ihr geteilt, obwohl ich kaum etwas über sie wusste.

Beim Laufen wurde mir klar, dass ich gar nichts über sie wusste. Das Einzige, das nicht zu übersehen war, war ihr Ehering. Ich war also verliebt in eine verheiratete Frau, die vermutlich hetero war, kannte nicht einmal ihr Alter, geschweige denn ihren wirklichen Charakter, ihre Geschichte und ihr Leben. Wie schon so oft zuvor, hatte ich mir jemanden ausgesucht, der völlig unerreichbar zu sein schien und sie damit unwillkürlich auf ein Podest gestellt. Dabei wusste ich überhaupt nicht, ob sie meinem Idealbild auch nur im geringsten in der Realität entsprach. Das war genau der Punkt, den ich zu oft aus den Augen verlor. Auch Frau Michelsen war bloß ein einfacher Mensch mit Fehlern, die ich bereitwillig übersah und Eigenschaften, die mir vielleicht nicht zusagen würden. Doch umso mehr ich mir einredete, dass ich niemals eine Chance bei ihr hätte, umso mehr wollte ich sie. Dabei fühlte ich mich bis heute in ihrer Gegenwart meistens viel zu unterlegen, zu jung, zu unerfahren. In ihrer Sprechstunde heute hatte sich das aus Gründen, die mir noch nicht ganz klar waren geändert. Ich fühlte mich wohl in ihrer Nähe, spürte, dass wir auf einer Wellenlänge zu sein schienen und genoss es, sie aus der Reserve zu locken. Doch ich wusste nicht, ob ich bei unserem nächsten Treffen wieder zur Unsicherheit zurückkehren würde. Dafür übernahm mein Körper in ihrer Anwesenheit viel zu sehr die Kontrolle. Trotzdem nahm ich mir vor, für unsere nächste Begegnung nicht in alte Muster zu verfallen, dafür hatte mir unser Gespräch im Nachhinein zu viel Spaß gemacht.

Ich wusste nicht wirklich, was ich über ihre Aussagen denken sollte. Sie war so bedacht darauf, dass ich meine eigene Arbeit anerkenne. Machte sie das bei all ihren Studenten so? Vermutlich ja, denn das hatte alles mehr mit ihrer Liebe zu ihrem Beruf als mit mir zu tun. Doch was war mit meinem Kommentar über ihre Augen? Sie schien damit nicht gerechnet zu haben, wurde rot. Das war das erste Mal, dass ich mitbekam, dass sie die Kontrolle über eine Situation verlor. Und statt sich einfach zu bedanken, ging sie mit einer eigenen Bemerkung darauf ein. War das wirklich Zufall? Ich war mir nicht sicher. Aber warum sollte sie wirklich mit mir flirten, dazu gab es keinen Anlass. Wahrscheinlich interpretierte ich da in meiner Hoffnung auch zu viel rein und für sie war es eine einfache Antwort, auf ein vielleicht nicht ganz so übliches Kompliment. Allein um das herauszufinden, nahm ich mir nochmal Julias Worte zu Herzen. Ich hatte wirklich nicht viel zu verlieren, könnte nächstes Semester Kurse bei anderen Dozenten wählen und auch meine Bachelorarbeit bei wem anders schreiben. Vor allem aber musste ich damit aufhören, schlechter in ihrer Gegenwart über mich zu denken, als ich es sonst tat. Ich würde einiges dafür tun, Frau Michelsen für mich zu gewinnen, aber niemals würde ich mich selbst dabei verlieren wollen.

Durch das Laufen gelang es mir, meine Gedanken wenigstens ein wenig zu ordnen. Erschöpft aber zufrieden kam ich zurück und wurde in der Wohnung direkt von Katrin ins Bad gehetzt. Die Party hatte ich schon wieder vergessen. Ich hatte auch nicht wirklich Lust aufs feiern, sondern hätte mich lieber ins Bett gelegt und eine Serie geschaut. Doch Katrin ließ sich nicht überreden, alleine zu gehen oder wen anders zu fragen, sodass ich kurzerhand unter die Dusche sprang. Das warme Wasser löste meine Angespanntheit weiterhin, ich schloss meine Augen und ließ das Wasser einfach eine Weile laufen. Die Dusche war mein Lieblingsort zum nachdenken. Doch Katrin klopfte an die Tür und hetzte mich erneut. Ich machte mich also schnell fertig, zog mir etwas frisches an und schminkte mich etwas stärker als sonst. Wenigstens kannst du dich umsonst betrinken, dachte ich als ich meine Schuhe anzog und mit Katrin Richtung Ubahn lief.

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