Hätte mir jemand am Anfang des Semesters gesagt, ich würde einmal in dem Schlafzimmer meiner Dozentin stehen, hätte ich vermutlich gelacht. Doch nun war das keine Traumvorstellung mehr, es geschah wirklich. Anne stand gerade vor ihrem Kleiderschrank und suchte mit etwas raus, dass ich zum schlafen anziehen konnte.
„Schau mal, ob das für dich ok ist. Ich verschwinde kurz ins Bad, mach dich schon mal für die ungeschminkte Wahrheit gefasst." Als könnte diese Frau jemals etwas entstellen. Während Anne das Zimmer verließ, schaute ich mich ein wenig um. Ich hatte das Gefühl, dass dieser Raum persönlicher eingerichtet war, als die anderen. Die Wand an ihrem Kopfende war typisch für sie in einem Dunkelblau gestrichen. Überall im Raum waren Bilderrahmen mit Fotos verteilt, die ein klein wenig mehr über Anne verrieten. Ich ging zur Kommode rüber und schaute mir die Fotos genauer an. Eins der Bilder zeigte Anne und Mellie, vermutlich im Urlaub. Beide standen im Bikini auf einem Boot und trugen eine Kapitänsmütze. Der Anblick brachte mich zum Lächeln, auch wenn das Bild schon älter zu sein schien, da beide viel jünger als heute aussahen. Anne wirkte so glücklich und unbeschwert. Ich überlegte, ob ich sie jemals so unbefangen erlebt hatte. Auf einem anderen Foto war Anne in der Mitte von einer blonden Frau und einem jüngeren Mann zu sehen, vermutlich ihre Geschwister. Die drei saßen zusammen auf einer Sitzecke, der Garten hinter ihnen war mit Girlanden und Ballons geschmückt. Auch auf diesem Foto lachte Anne ausgelassen, warf ihren Kopf ein Stück nach hinten, ähnlich wie die anderen beiden. Obwohl man die Gesichter der drei nicht ganz genau sehen konnte, war es offensichtlich, dass sie verwandt sind, denn alle teilten dasselbe lachen. Das dritte Foto ließ mein Lächeln gefrieren, es war ein Hochzeitsfoto von Anne und ihrem Mann. Anne sah als Braut wunderschön aus, ganz natürlich und schlicht. Und auch Daniel, ihr Mann war leider ein echter Hingucker. Soweit ich es auf dem Foto erkennen konnte, war er noch ein Stück größer als Anne, gut gebaut und hatte dunkle Haare, die oben etwas länger waren als an den Seiten. Er hatte seinen Arm und Anne gelegt und strahlte mit ihr um die Wette. Ich musste schlucken, war ich gerade dabei dieses Glück zu zerstören?
In dem Moment kam auch Anne zurück ins Schlafzimmer.
„Ich habe dir im Bad alles rausgelegt, fühl dich wie zu Hause.", sagte sie und setzte sich auf das große Boxspringbett.
Anne schaute mich abwartend an, versuchte die Situation und meine Reaktion auf die Bilder einzuschätzen.„Danke, ich beeil mich.", nuschelte ich und versuchte der Situation zu entkommen. Als ich das Bad betrat, lehnte ich mich zunächst für ein paar Sekunden gegen die Tür. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen und holte tief Luft. Die Tatsache, dass es eine andere Person an Annes Seite gab, war mir nicht neu. Dennoch fühlte es sich plötzlich realer an, jetzt wo ich ein Gesicht zu dem Namen kannte. Hör auf, dich jetzt verrückt zu machen, sagte ich in Gedanken zu mir selbst und spritzte mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht. Es war so kalt, dass es auch das plötzliche Chaos in meinem Kopf allmählich abkühlte. Ich versuchte mich zusammenzureißen und packte die pinke Zahnbürste aus, die Anne mir neben das Waschbecken gelegt hatte. Wie oft hatte ich mir gewünscht, dass Anne etwas für mich empfinden würde? Wie lange hatte ich den Gedanken daran abgestritten?
Und jetzt, wo meine Träume zum Greifen nah schienen, flippte ich wegen einem Foto aus. Vermassle es jetzt nicht, bat ich mich selbst, während ich mich umzog. Sofort umhüllte mich ein Hauch von Annes Duft, blumig und süß. So langsam wusste ich wieder, weshalb ich hier war. Ich war weder hier, um eine Ehe zu zerstören, noch um mich in irgendein mögliches Unglück zu stürzen. Zuvor hatte ich Anne gebeten, auf ihr Herz statt auf ihren Kopf zu hören und selbst machte ich es nicht anders. Ich war hier, um Annes Herz zu gewinnen und ihr endlich meine Liebe zu zeigen, die ich schon seit so langer Zeit für sie in mir trug. Mit diesem neu gefassten Entschluss, beeilte ich mich nun wirklich bei der Suche nach etwas zum abschminken zwischen all den Cremes und anderen Tiegeln. Bevor ich wieder zurück zu Anne ging, warf ich noch einen Blick in den Spiegel und versuchte mit der Hand meine Haare wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Als ich zurück in Annes Schlafzimmer kam, saß diese in ihrem Bett und lehnte sich an das Kopfteil. Zu meiner Verwunderung trug Anne eine schwarze Brille, während sie von ihrem Handy aufschaute.
DU LIEST GERADE
Semesterliebe
RomanceHannah hatte schon immer eine Schwäche für Frauen, die älter als sie sind. Kurz vor dem Ende ihres Studiums wird ihr das jedoch zum Verhängnis, als sie ein Seminar bei Frau Michelsen belegt und dabei nicht nur das Fach lieben lernt. (gxg)