Kapitel 10

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Nach der Uni rief ich Julia an und erzählte ihr von dem Gespräch mit Frau Michelsen.

„Und Anne hat das einfach so in den Raum geworfen?", fragte Julia und schien zur Ausnahme mal überrascht zu sein.

„Ja, ich glaube die hat es danach selbst sofort bereut und vorher gar nicht darüber nachgedacht.", berichtete ich ihr weiter und spielte die Situation noch einmal in meinem Kopf ab.

„Wer weiß, vielleicht hat sie es ja absichtlich gesagt.", spekulierte sie und holte mich damit aus meinen Gedanken.

„Und warum sollte sie das tun?" Ich konnte mir kaum vorstellen, dass es für sie einen Grund geben sollte, mir sowas so aus dem Nichts zu erzählen.

„Vielleicht wollte Anne, dass du weißt, dass ihre Ehe nur halb so gut läuft wie gedacht. Nach all dem, was du mir heute erzählt hast, scheint sie dich sympathischer zu finden als manch andere Studentin." So sehr ich Julia für all ihre Aufmunterungs- und Motivationsversuche liebte, manchmal schoss sie doch übers Ziel hinaus.

„Genau. Eigentlich hat sie mir das bloß erzählt, weil sie sich insgeheim trennen will und hofft, dass ich sie danach tröste.", sagte ich und rollte mit den Augen, auch wenn Julia das nicht sehen konnte.

„Aber bei dem Zweiten stimmst du mir zu?", hakte sie weiter nach.

„Ich weiß nicht, ich kann diese Frau einfach überhaupt nicht einschätzen. Also ich kann mir nicht vorstellen, dass Anne mir eine bessere Note als zum Beispiel Sarah gegeben hat nur, weil sie mich vielleicht sympathisch findet. Dafür nimmt sie ihren Job zu wichtig und ist zu professionell. Außerdem kennt sie mich ja auch noch aus dem letzten Semester und weiß, dass ich zuverlässig bin. Vielleicht war das mit dem Referat deshalb nicht so schlimm. Und ja, wir haben jetzt zweimal etwas lockerer miteinander gesprochen, aber das macht sie auch mit den Hilfskräften. Das spricht also alles nicht unbedingt dafür, dass Anne mich mehr mag als andere oder mehr in mir sehen könnte als ihre Studentin.", enttäuscht über meine eigenen Erklärungen versuchte ich mich vor aufkommenden Hoffnungen zu schützen. Ich wollte, anders als sonst, nicht zu viel in Blicke oder Worte hineininterpretieren, denn das ging meistens nach hinten los.

„Auch, wenn du jetzt versuchst für alles eine Erklärung zu finden, denke ich dennoch, dass sie sowas nicht zu jedem gesagt hätte. Oder es ihr bloß rausgerutscht ist. Wie du schon sagst,  sie ist eigentlich zu professionell, um sich und ihren Mund nicht unter Kontrolle zu haben. Das passt irgendwie nicht zu Anne.", fuhr Julia fort. Im Analysieren von Kleinigkeiten und zu Tode diskutieren waren Julia und ich nicht zu unterschätzen. Auch wenn wir Frau Michelen, oder Anne nicht wirklich kannten, hatten wir doch ein festes Bild von ihr. Dabei kannte Julia sie noch nicht mal persönlich, sondern hatte bloß Fotos von ihr auf der Homepage der Uni gesehen. Dennoch hatte Julia Recht. Frau Michelsen war immer Herrin der Lage und nur selten aus dem Konzept zu bringen, mal ganz davon abgesehen, dass sie nur sehr selten etwas Privates über sich und ihr Leben erzählte.

Nach unserem Telefonat versuchte ich meine Gedanken wieder auf die wirklich wichtigen Dinge zu richten, nämlich mein Referat. Wir besprachen in dem Seminar größtenteils Bücher, die den Holocaust thematisierten. Mein Referat sollte von dem Buch Der Vorleser handeln und ich versuchte mir eine spannende Frage auszudenken, mit der ich das Buch gezielter analysieren konnte. Um ehrlich zu sein, hatte ich bei der Wahl des Seminars Glück, die meisten der Bücher kannte ich schon. Da mich das Thema, so grausam es auch ist, schon immer besonders interessiert hatte, las ich auch außerhalb der Schule oder mittlerweile Uni Bücher zu dem Thema.

Ich durchforstete das Internet zu dem Buch, bis ich schließlich etwas Interessantes fand. Knapp eine Stunde später hatte ich auch ein wenig Sekundärliteratur zu dem Thema gefunden und gelesen, sodass mein Referat langsam aber sicher Gestalt annahm. Da ich allerdings noch mehr als eine Woche Zeit dafür hatte, entschied ich mich dafür meinen Aufbau, die These und einen Teil meiner Literatur schon an Frau Michelsen zu schicken. Zwar hatte sie meine Schusseligkeit gelassen aufgenommen, dennoch wollte ich mein Glück nicht herausfordern. Zudem hatte meine Recherche den wohl positivsten Effekt, den ich mir hätte vorstellen können: Ich hatte eine Idee für das Thema meiner Bachelorarbeit bekommen. Natürlich musste ich daran noch etwas herumfeilen, aber ich glaubte auf einem guten Weg zu sein.

Erst nachdem ich die Mail an Frau Michelsen mit meiner Idee für das Referat geschickt hatte, bemerkte ich, wie aufgekratzt ich auf einmal war. All die Müdigkeit und meinen Kater von der Nacht zuvor nahm ich kaum noch wahr und an ausruhen war nicht mehr zu denken. Da ich also weder schlafen konnte, noch ständig auf mein Handy schauen wollte, beschloss ich die Wohnung aufzuräumen. Laut dem Putzplan von Katrin und mir war ich diese Woche sowieso mit Staubsaugen und Wischen dran. Ich nutzte meine neugewonnene Energie also sinnvoll und erlaubte mir erst nachdem ich fertig war und unsere Wohnung auf Vordermann gebracht hatte, einen Blick auf mein Display und mein Herz blieb kurz stehen. Frau Michelsen hatte meine Mail schon beantwortet und schrieb, dass sie so mit dem Referat einverstanden sei. Und als wären unsere Gedanken miteinander verbunden, fragte sie nach meiner Bachelorarbeit und meinen bisherigen Überlegungen. Mit der Gefahr sie zu nerven, schrieb ich ihr, dass ich bereits eine Idee hätte, diese jedoch gerne nochmal genauer mit ihr besprechen möchte und fragte sie, ob sie vielleicht nach dem Seminar nächste Woche ein wenig Zeit für mich hätte. Zu meiner Verwunderung hatte ich auch zu dieser Mail kurz darauf eine Antwort in meinem Postfach, in der sie mich erneut zu einer ihrer Sprechstunden einlud. Und es wird wohl niemanden verwundern, dass ich diese voller Vorfreude annahm.

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