Das Geräusch des Weckers verursachte ein schmerzendes Ziehen in meinem Kopf, vielleicht hätte ich mir das ein oder anderen Getränk gestern sparen sollen. Mühsam rollte ich mich aus meinem warmen und gemütlichen Bett, wankte ins Bad, wo ich in ein fahles und müdes Spiegelbild blickte. Ich hatte definitiv schon mal besser ausgesehen. Doch da alles nichts half und ich das Seminar bei Frau Michelsen nicht schwänzen wollte, machte ich mich gegen meinen Willen fertig. Da mir noch leicht übel war, verzichtete ich auf mein Frühstück und holte mir unterwegs bloß einen Kaffee, um wach zu bleiben.
Zu meiner Verwunderung war ich relativ früh dran, weder die Mädels noch Frau Michelsen waren in Raum. Ich kramte mein Handy aus der Tasche und beantwortete die Nachrichten, die ich gestern auf der Party bloß gelesen hatte. Unter anderem war auch eine Nachricht von Julia dabei, die sich darüber aufregte, dass ich ihr noch nicht von der Sprechstunde berichtet hatte. Ich schrieb ihr die wichtigsten Punkte und versprach ihr einen ausführlichen Bericht in meiner Mittagspause. Während ich mit meinem Handy beschäftigt war, füllte sich so langsam der Raum. Im Gegensatz zu mir sahen die meisten fit aus und unterhielten sich angeregt mit ihren Sitznachbarn. Erst als Sarah sich zu mir gesellte, brach auch ich mein Schweigen.
„Du bist ja schon da, ist da etwa jemand motiviert?" Wenn Sarah wüsste, wie sehr sie damit ins Schwarze traf.
„Sehe ich so aus?" Ich zog die Augenbrauen hoch und Sarah erkannte meinen Zustand.
„Wo hast du dich denn die Nacht rumgetrieben? Hattest du ein Date?", fragte sie und ich fragte mich, ob jede Person, die in einer Beziehung steckt denkt, dass Single's ihre Zeit nur mit Daten oder Heulen verbringen.
„Nee. Katrin hat mich zu einer WG-Party geschleppt und wir haben die Zeit vergessen.", versuchte ich zu erklären.
„Also mir war gestern ja nicht mehr zum Feiern zumute. Ich hab die Hausarbeit von der Michelsen aus dem letzten Semester zurückbekommen. Die Frau hat scheinbar kein Leben und zu viel Zeit, um nach Fehlern zu suchen.", beklagte sich Sarah und verdrehte die Augen, als sie den Namen von Frau Michelsen erwähnte. Obwohl es normal war, dass wir sowas über unsere Dozenten sagten, störte es mich, dass Sarah so über Frau Michelsen sprach.
„Wieso? Das Thema war doch ganz ok. Was hat die denn gesagt?", hakte ich nach.
„Ich fand das Thema auch ok, ebenso wie meine Arbeit bis gestern Vormittag. Ich war bei ihr in der Sprechstunde und die Alte hatte an allem was auszusetzen. Entweder habe ich falsch zitiert, habe zu wenig Quellen mit eingebracht oder nicht gut genug beschrieben. Die war kurz davor, mich die Arbeit neu schreiben zu lassen und hat mir jetzt so gerade eine 4,0 gegeben. Wahrscheinlich denkt die noch, ich sollte ihr dankbar dafür sein.", beschwerte sie sich weiter und ich war überrascht.
Ich hatte zwar schon gehört, dass Frau Michelsen streng benotet und hohe Anforderungen hat, allerdings waren meine Sorgen umsonst geblieben. Bisher hielt ich sie immer für fair und motiviert, das Beste aus ihren Studenten rauszuholen.
„Komisch. So hätte ich die gar nicht eingeschätzt, die meisten waren immer ganz zufrieden mit ihren Noten. Aber zählt die Note viel bei dir?", fragte ich Sarah und versuchte sie ein wenig zu beruhigen.
„Nein, Gott sei Dank nicht. Sonst hätte ich der gestern erst mal eine Szene gemacht. Ich frage mich ja so schon, was bei der falsch läuft. Hast du deine schon zurück?", fragte sie und ich erzählte ihr von meinem Termin bei ihr, ließ den größten Teil jedoch aus.
„Wenn ich an das Referat hier denke, habe ich jetzt schon keine Lust.", beklagte Sarah sich weiter und ich suchte in meinem Kalender nach meinem Referatsdatum. Mist, ich hätte ihr diese Woche schon meine Idee und den Aufbau mitteilen müssen, aber hatte es wohl scheinbar im Chaos der Sprechstunde vergessen.
Während des Seminars versuchte ich meine Augen von einer mal wieder umwerfend aussehenden Frau Michelsen zu lösen und mir eine Idee für mein Referat zu überlegen. Ich schaute mir die Quellen im Reader an und war erleichtert, dass ich das Buch, um das es ging schon gelesen hatte. Jetzt musste ich mir nur noch eine Frage dazu ausdenken. Doch so wirklich konnte ich mich nicht darauf konzentrieren, galt meine Aufmerksamkeit doch hauptsächlich ihr. Wie gewöhnlich trug Frau Michelsen ein Kleid, diesmal ein rotes mit einer Knopfleiste am Ausschnitt, die ich zu gerne aufgeknöpft hätte. Zwischen alle meinen Tagträumen und den Überlegungen zum Referat gingen die 90 Minuten viel zu schnell vorbei, so dass mir nichts anderes übrig blieb, als zu ihr zu gehen und zu hoffen, dass sie bisher einen guten Tag hatte.
„Frau Michelsen, kann ich Sie noch kurz sprechen?", fragte ich, während sie die Kabel von ihrem Macbook einpackte.
„Klar, Frau Mai. Haben Sie schon ein Thema gefunden?", fragte sie und lächelte mich neugierig an, was mein Herz schneller zum schlagen brachte.
„Nein, da bin ich noch am überlegen. Allerdings ist mir aufgefallen, dass ich mit Ihnen diese Woche schon mein Referat hätte besprechen sollen. Ehrlich gesagt, habe ich es durch die Hausarbeit und die Gedanken an die Bachelorarbeit total vergessen, dass mein Referat schon in zwei Wochen ist.", versuchte ich mich zu entschuldigen.
„Vielleicht sollten Sie weniger feiern gehen, dann bleibt auch mehr Zeit übrig, um an Referate zu denken.", sagte sie und grinste leicht, als sie ihre Tasche weiter einpackte. Kurz darauf erhob sich ihr Blick von ihrer Tasche und sie schaute mir direkt in die Augen. Überrascht über ihre Worte und der Intensität ihres Blickes brachte ich bloß einen verwirrten Blick zustande.
„Na, Sie sehen so aus, als hätten sie eine harte Nacht gehabt.", sie lachte und fuhr fort: „Und das mitten in der Woche. Manchmal vermisse ich das Studentenleben.", ihr Blick schweifte ab, sie schien an etwas zu denken.
„Sie sind zwar keine Studentin mehr, aber sicherlich noch jung genug, um feiern zu gehen, wann Sie möchten.", antwortete ich und schien sie damit zurück in die Realität zu bringen.
„Das sagt sich so leicht, dafür müssten ja auch die anderen und mein alter Körper mitspielen. Wir gehen vielleicht alle zwei Monate mal weg, meistens sind es doch eher gemütliche Kochabende oder unspannende Geburtstage.", sagte Frau Michelsen und wirkte tatsächlich ein wenig niedergeschlagen.
„Sie haben die Pärchen-Spieleabende vergessen.", sagte ich und wollte die Stimmung damit eigentlich bloß ein wenig auflockern.
„Dafür müsste mein Mann erstmal zu Hause sein.", mit dieser Antwort von ihr hatten wir wohl beide nicht gerechnet und schauten uns kurz an, ohne wirklich zu wissen, was wir darauf sagen sollten.
Doch Frau Michelsen unterbrach die unangenehme Stille und kehrte zum eigentlichen Thema zurück: „Ich weiß ja, dass ich mich auf Sie verlassen kann, Frau Mai. Schicken Sie mir Ihre Überlegungen einfach bis zur nächsten Woche per Mail und wir besprechen das Ganze dann weiter."
„Danke, das ist wirklich nett von Ihnen. Ich schreibe Ihnen so schnell wie möglich.", antwortet ich und versuchte mich der unangenehmen Situation so schnell wie möglich zu entziehen.
Als ich fast schon aus der Tür war, rief Frau Michelsen nochmal nach mir und ich schaute zu ihr.
„Das gerade..."„... bleibt unter uns, keine Sorge.", unterbrach ich sie und schenkte ihr noch ein kurzes Lächeln, bevor ich endgültig aus dem Raum verschwand.

DU LIEST GERADE
Semesterliebe
RomanceHannah hatte schon immer eine Schwäche für Frauen, die älter als sie sind. Kurz vor dem Ende ihres Studiums wird ihr das jedoch zum Verhängnis, als sie ein Seminar bei Frau Michelsen belegt und dabei nicht nur das Fach lieben lernt. (gxg)