Kapitel 19

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Wenige Tage später fing die Uni wieder an. Der Mittwoch rückte näher und ich fühlte mich immer unwohler, sobald ich an das Aufeinandertreffen mit Anne dachte. Ich hatte plötzlich Angst davor, ihrer Gegenwart nicht mehr gewachsen zu sein. So viele Stunden hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen, wie ich sie zur Rede stellen würde, spielte Dialoge in meiner Vorstellung durch, die so vermutlich niemals passieren werden. So gern ich die Sache klären wollte, ich hatte Angst vor ihrer Reaktion, ihrer Ablehnung. Die meisten Nächte schlief ich unruhig, so auch in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Vollkommen gerädert lag ich im Bett und überlegte, ob ich überhaupt zum Seminar gehen sollte. Bisher hatte ich noch nicht gefehlt und eigentlich interessierte sich in der Uni sowieso niemand für die Anwesenheit. Doch ich entschied mich zu gehen, wollte Anne die Genugtuung nicht geben. Ich wollte mich der Sache und einem Gespräch stellen, ganz egal wie müde ich war. Dieses ganze Nachdenken musste ein Ende finden und das ging nur durch ein Gespräch mit ihr. Ich raffte mich auf, sprang unter die Dusche und frühstücke eine Kleinigkeit, mir war viel zu übel für ein ausgiebiges Frühstück.

Die Uni war wie immer kurz nach den Ferien brechend voll. Am Kiosk und Café bildeten sich Schlangen, auf dem Gehweg musste man aufpassen, nicht von Fahrradfahrern oder Skatern angefahren zu werden. Doch all die Hektik und das Getümmel gaben mir hier ein Gefühl von Sicherheit, ich fühlte mich wohl unter all verschiedenen Menschen. Hier konnte man sein, wer man sein wollte. Man konnte noch so verrückt oder sonderbar sein, es gab immer jemanden, der noch verrückter als man selbst war. Als ich am Café vorbei ging, sah ich Caro, die sich in die lange Schlange eingereiht hatte.

"Hey, du bist ja heute so früh. Soll ich dir auch was bestellen?", fragte sie, als ich mich zu ihr gesellte und ich ließ mir einen Cappuccino von ihr mitbringen. Vielleicht konnte der Espresso den verlorenen Schlaf gutmachen. Ich schüttete noch ein Päckchen Zucker dazu und rührte das warme Getränk mit dem kleinen Holzstäbchen um. Gemeinsam gingen Caro und ich zum Raum, ich merkte, wie meine Nervosität Schritt für Schritt zunahm. Caro betrat als erste von uns beiden den Raum und grüßte freundlich, bevor sie zu ihrem Tisch ging. Ich ging direkt hinter ihr, sparte mir eine Begrüßung, als ich sah, dass Anne bereits da war. Sie saß vorne, war mit ihrem Laptop beschäftigt und schaute nur flüchtig auf, als wir den Raum betraten.

"Was ist denn mit der los? Die soll uns nochmal was von Höflichkeit erzählen.", flüsterte Caro mir leise zu und verdrehte die Augen. Ich packte in Ruhe meine Sachen aus und versuchte krampfhaft nicht zu Anne zu schauen. Doch so sehr ich mich auch bemühte, es gelang mir nicht. Mein Blick wanderte ständig zu ihr, wenn auch nur kurz. Egal was ich versuchte, Anne war einfach wie ein Magnet, der mich mit größter Kraft immer wieder anzog. Ich konnte mich nicht dagegen wehren, es war wie eine unsichtbare Kraft, der ich mich nicht entziehen konnte. Plötzlich hob auch Anne ihren Blick und schaute mir direkt in die Augen. Ihr Blick war leer und ihre grünen Augen wirkten kühl. Anders als sonst war in ihnen kein Leuchten zu erkennen, keine Spur von ihrer sonstigen Wärme. Wir beide hielten den Blick für wenige Sekunden stand, es wirkte so, als versuchten wir uns tausend Dinge auf einmal zu sagen, doch gleichzeitig sagten wir uns nichts. Anne löste im nächsten Moment ihren Blick von mir und stand auf, um uns zu begrüßen.

Die heutige Sitzung wurde von ihr gehalten, sie wollte das bisher Gelernte nochmal auf ihre Art und Weise zusammenfassen und mit uns durchgehen. Für mich war es heute dementsprechend unmöglich, mich auf etwas anderes als sie zu konzentrieren. So lauschte ich ihren Erklärungen, während sie am Smartboard hin und her lief, Begriffe aufschrieb und miteinander verknüpfte. Anne trug heute einen engen schwarzen Rock, der bis zu der Mitte ihrer Oberschenkel ging, dazu eine schlichte weiße Bluse mit einer langen goldenen Kette. So sehr mich ihr Anblick heute auch schmerzte, ich konnte kaum glauben, dass diese Frau vor zwei Wochen noch in meiner Wohnung gestanden und mich geküsst hatte. Doch die Realität holte mich schnell wieder ein, denn Anne ignorierte mich vollkommen. Es war beinahe so, als versuchte sie krampfhaft nicht in meine Richtung zu schauen, egal ob jemand aufzeigte, oder nicht.

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