Noch in derselben Nacht sagte ich das geplante Frühstück mit Julia am nächsten Morgen ab. Ich fühlte mich zu gerädert, der Schlafmangel machte sich langsam aber sicher bemerkbar. So sehr ich das Thema Anne auch für ein paar Stunden vergessen wollte, ich konnte es nicht. Sie war gefühlt in jedem meiner Atemzüge, in jedem meiner Gedanken und in all meinen Träumen. Ich spürte, wie mich die Ungewissheit immer mehr belastete und doch fand ich keine Möglichkeit, um ihr zu entkommen.
Am späten Vormittag wälzte ich mich widerwillig aus dem Bett, denn mein Magen knurrte. Obwohl mir der Appetit fehlte, füllte ich eine Schüssel mit meinen Lieblingscornflakes, die ich schon seit meiner Kindheit aß. Lustlos ging ich nach draußen in den Garten und setzte mich auf die kleine Holzbank, um die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings einzufangen. Es war erstaunlich, wie schnell alles auf einmal angefangen hatte zu blühen. Die Bäume in den Nachbargärten waren plötzlich grün und voller Blüten und auch die Sträucher fanden wieder zu ihrer Farbe zurück. Selbst die Vögel waren munterer als ich, flogen von Ast zu Ast und kommunizierten mit unterschiedlichem Zwitschern miteinander. Es war förmlich in der Luft zu spüren, wie der Winter sich zurückzog und Platz für etwas Neues machte. Platz für neues Leben, das Licht und die Wärme. Und auch in mir löste sich der düstere Schatten, als ich die Sonnenstrahlen kitzelnd auf meinem Gesicht spürte. Für einige Momente schloss ich meine Augen und genoss zum ersten Mal seit ein paar Tagen die Ruhe, die mich umgab. Ich war schon als Kind fasziniert von den Jahreszeiten gewesen. Meine Eltern hatten mir jede von ihnen nahegebracht und mir damit die schönsten Erinnerungen meiner Kindheit beschert. Mit jedem neuen Jahr nahm ich bis heute die Veränderungen in der Natur bewusster wahr und versuchte die kleinen Dinge zu genießen.
„Wenn die Sonne scheint, sieht die Welt schon wieder besser aus, oder?", hörte ich meine Mutter auf einmal neben mir sagen. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie nach draußen gekommen war und sie sich zu mir gesetzt hatte. Unsicher rührte ich in meinen Cornflakes rum, die mittlerweile schon ganz aufgeweicht waren – jetzt würde ich sie erst recht nicht mehr essen.
„Soll ich dir neue bringen?", fragte meine Mutter nun nach und schaute mich fragend an. Auch sie sah irgendwie müde und erschöpft aus, ihre blauen Augen, die ich von ihr geerbt hatte, leuchteten nicht so hell wie sonst. Ihre blonden Haare waren bloß locker zusammengebunden, alles in allem wirkte sie besorgt und ausgelaugt. Sofort kam in mir das schlechte Gewissen hoch. Ich war die Tage nur mit mir und meinem Selbstmitleid beschäftigt gewesen, so dass ich mich nun ein wenig egoistisch fühlte und Angst hatte, etwas verpasst zu haben.
„Brauchst du nicht, danke Mama.", antwortete ich ihr und versuchte ein Lächeln über meine Lippen zu bringen. Vorsichtig stellte ich meine Schüssel auf den Boden vor uns ab und beobachtete, wie die Sonnenstrahlen durch die Blätter der Bäume strahlten. Meine Mutter hatte Recht, die Sonne hatte eine besondere Wirkung. Wir schwiegen uns eine Weile an uns ließen unsere Blicke schweifen, bis meine Mutter erneut das Wort ergriff.
„Ganz egal was los ist, du kannst immer mit mir reden, Hannah. Das weißt du, oder?" Meine Versuche, meine Gefühlswelt zu verstecken waren offensichtlich kläglich gescheitert. Komischerweise hatte meine Mutter schon immer ein Gespür dafür gehabt, wenn mir etwas auf dem Herzen lag. Vielleicht war das so ein Mutterding, die Gefühle seiner Kinder zu erkennen. Doch wollte ich wirklich mit meiner Mutter darüber reden? Nach all den Problemen, die wir in meiner Jugend wegen meiner Beziehung mit Clara hatten, war ich selbst jetzt noch immer verunsichert. Ich hatte keine Kraft für eine weitere Auseinandersetzung über meine Sexualität oder meine Partnerwahl. Wie sollte ich ihr nun von Anne und dem ganzen Drama, das sie mit sich brachte erzählen? Anne war eben nicht nur eine Frau, sie war auch 13 Jahre älter als ich, verheiratet und meine Dozentin. Wo hätte ich da nur anfangen sollen?

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Semesterliebe
RomanceHannah hatte schon immer eine Schwäche für Frauen, die älter als sie sind. Kurz vor dem Ende ihres Studiums wird ihr das jedoch zum Verhängnis, als sie ein Seminar bei Frau Michelsen belegt und dabei nicht nur das Fach lieben lernt. (gxg)