Kapitel 23

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Knapp zwei Wochen verkroch ich mich in meinem Zimmer und versuchte den ganzen Stoff nachzuholen. Ich spürte deutlich, wo ich mit meinem Gedanken die letzten Monate war. Es war beinahe unmöglich in der viel zu knappen Zeit alles zusammenzufassen und zu lernen.

Die Klausurphasen sorgten schon seit Beginn meines Studiums für Verzweiflung, doch diesmal auf ganz neuen Ebenen. Es fiel mir schwer, mich auf das Lernen zu konzentrieren. Ich sehnte mich nach Anne, ihrer Gegenwart, ihrer Nähe. Doch ich sah sie bloß zweimal in der Uni und für die restliche Zeit mussten Telefonate oder kurze Nachrichten ausreichen. Doch jetzt stand die vorlesungsfreie Zeit kurz bevor und ich wusste, dass sich bald alles entscheiden würde. Anne war in ein paar Wochen nicht mehr meine Dozentin und ich würde in beiden Fällen kein Seminar mehr bei ihr belegen können, egal für wen sie sich entscheiden wird.

„Falls es dann keine weiteren Fragen ihrerseits mehr gibt, beginnen wir. Sie haben 90 Minuten Zeit die Aufgaben zu bearbeiten. Bitte achten Sie darauf, auf jede Seite ihre Matrikelnummer zu schreiben und keine Aufgabe zu übersehen. Jeder Täuschungsversuch hat wie immer Konsequenzen, aber das ist ja nichts Neues für Sie. Und bevor ich Ihnen noch mehr Zeit stehle, wünsche ich Ihnen jetzt viel Erfolg, Abgabe ist um 11:30." Die Worte meines Geschichtsprofessors rissen mich aus meinen Gedanken. Wenigstens jetzt sollte ich Anne für anderthalb Stunden aus meinem Kopf verdrängen. Erwartungsvoll drehte ich meinen Klausurbogen um und wäre am liebsten rückwärts vom Stuhl gekippt. Das, was ich auf den ersten Blick überfliegen konnte, gefiel mir ganz und gar nicht. Panik machte sich in mir breit und das schon direkt am Beginn der Klausur. Ich sah, dass ich die ersten Fragen nicht beantworten konnte. So einfach sich die Multiple-Choice Klausuren auch immer anhören, ich verfluchte sie. Sie verunsicherten mich mit ihren tausend Antwortmöglichkeiten - nie wusste ich, ob A, B, C oder alles zusammen richtig ist. Das ist deine letzte Klausur, die wirst du jetzt nicht in den Sand setzen, schwor ich mir und sah auf die Uhr. Knappe 10 Minuten hatte ich damit verbracht, mich verrückt zu machen und die Aufgaben zu überfliegen. Ich schaute mich um und beobachtete meine Kommilitonen, die entweder ähnlich verzweifelten wie ich oder aber voll in ihrem Element waren.
Ich entschied mich dafür, die Klausur umzudrehen und von hinten nach vorne zu arbeiten. Auch die restlichen 80 Minuten vergingen wie im Flug. So zäh sich die meisten Vorlesungen während des Semesters zogen, umso schneller raste die Zeit während der Klausur. Zu meiner Enttäuschung war ich mir bei kaum einer Frage wirklich sicher gewesen, seufzend packte ich meine Sachen zusammen. Die Helfer liefen währenddessen schon durch den Hörsaal und sammelten die Bögen ein.

Jetzt wäre der Moment gekommen, in dem du dich endlich frei fühlst, sprach ich erneut zu mir und war ausnahmsweise selbst von meinem Sarkasmus genervt. Ich war wütend auf mich und wusste, dass ich mehr hätte lernen sollen. Doch die späte Erkenntnis brachte mir jetzt auch nichts mehr. Enttäuscht stampfte ich die Treppen des Hörsaals runter, mischte mich zwischen die anderen, die sich gestresst ihren Weg nach draußen bahnten. Ich konnte jetzt nur noch auf ein Wunder hoffen und dass war mir mehr als klar. Auf dem Weg nach draußen suchte ich in meiner Tasche nach meinem Handy, ich hatte das starke Bedürfnis mich jetzt bei jemandem auszuheulen.

„Hannah!", ertönte eine Stimme zwischen all den anderen und ließ mich in meiner Bewegung verharren. Diese Stimme würde ich unter tausenden wiedererkennen, sie gehörte zu Anne. Verwundert sah ich mich um, versuchte sie zwischen den ganzen Studenten ausfindig zu machen. Anne stand ein paar Meter außerhalb der vielen kleinen Gruppe an einer Säule gelehnt. Wie zuvor beschleunigte sich mein Herzschlag, diesmal jedoch aus Freude statt Panik.

„Hey, was machst du denn hier?", fragte ich sie verwundert und widerstand dem Drang in mir, sie zur Begrüßung zu küssen. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass es mir so schwer fallen würde die Distanz zu ihr zu wahren und mir in der Uni nichts anmerken zu lassen.
Am liebsten hätte ich der ganzen Welt gezeigt, wie viel diese Frau mir bedeutete.

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